«Johnny! Johnny! Hör auf!«Die Stimme seiner Schwester dröhnte in seinem Ohr. Mit der einen Hand stützte Marie seinen Kopf, mit der anderen fuhr sie ihm so heftig durchs Haar, daß er fast meinte, sie wolle es ihm ausreißen.
«Kannst du mich hören? Wir sind in Ordnung! Die Kinder sind in einer anderen Villa — uns geht es gut!«
Allmählich erkannte er die Gesichter über sich und um sich herum. Und da waren auch die beiden alten Männer, der eine aus Boston, der andere aus Paris.»Das sind sie!«schrie St. Jacques und richtete sich auf, wurde aber von Marie festgehalten, die sich auf ihn warf.»Ich bring die Bastarde um!«
«Nein!«schrie seine Schwester. Ein Wächter half ihr, seine starken schwarzen Hände packten John an den Schultern.
«Im Moment gehören sie zu den besten Freunden, die wir haben.«
«Du weißt nicht, wer sie sind!«schrie St. Jacques und versuchte, sich zu befreien.
«Doch, wissen wir«, unterbrach ihn Marie in leiserem Ton, mit den Lippen dicht an seinem Ohr.»Wir wissen so viel, daß sie uns zum Schakal führen können…«
«Sie arbeiten für den Schakal!«
«Der eine hat es getan, aber das ist vorbei«, sagte seine Schwester.»Der andere hat nie von Carlos gehört.«
«Du verstehst nicht!«flüsterte St. Jacques.»Sie sind >die alten Männer von Parisc, die Armee des Schakals! Conklin hat mich in Plymouth angerufen, hat es mir erklärt… sie sind Killer!«
«Noch mal, der eine war einer. Aber jetzt nicht mehr. Er wird niemanden mehr töten. Der andere… nun, das ist ein Versehen, ein dummes, verdammtes Versehen, aber das ist alles, Gott sei Dank — und ihm sei Dank, daß er da war!«
«Das ist alles verrückt!«
«Es ist verrückt«, pflichtete ihm Marie bei und nickte dem Wächter zu, damit er ihrem Bruder hoch half.
«Komm schon, Johnny, wir müssen über verschiedene Dinge reden.«
Der Sturm war vorübergegangen wie ein gewalttätiger, unerwünschter Eindringling, der durch die Nacht gejagt und eine Schneise der Verwüstung hinter sich gelassen hatte. Das frühe Morgenlicht kam am östlichen Horizont hoch und enthüllte langsam durch den Nebel das Blaugrün der ein paar Seemeilen entfernten Insel Montserrat. Die ersten Boote tuckerten langsam und schwerfällig zu ihren Fischgründen, um ihren Tagesfang zu machen, der ihnen wieder einen Tag des Überlebens sichern würde. Marie, ihr Bruder und die beiden alten Männer tranken auf dem Balkon einer unbewohnten Villa Kaffee. Fast eine Stunde hatten sie jeden Punkt des schrecklichen Geschehens kühl beredet und die Fakten analysiert.
Dem alten falschen Helden Frankreichs war versichert worden, daß die erforderlichen Maßnahmen für seine Frau getroffen werden würden, sobald die Telefonleitung zur großen Insel wieder funktionierte. Wenn möglich, wollte er sie auf Tranquility begraben lassen. Sie hätte es so gewollt. In Frankreich war ihnen nichts geblieben als die Schande eines billigen Grabes. Wenn es möglich wäre…
«Es ist möglich«, sagte St. Jacques.»Ihretwegen ist meine Schwester noch am Leben.«
«Durch mich, junger Mann, hätte sie sterben können.«
«Hätten Sie mich getötet?«fragte Marie und schaute den alten Franzosen prüfend an.
«Sicherlich nicht, nachdem ich sah, was Carlos mit mir und meiner Frau vorhatte. Er hat den Vertrag gebrochen, nicht ich.«
«Und davor?«
«Wenn ich die Nadeln nicht gesehen hätte, nicht verstanden hätte, was allzu offensichtlich war?«
«Ja.«
«Das ist schwierig zu beantworten. Ein Vertrag ist ein Vertrag. Dennoch, meine Frau war tot, und zum Teil starb sie deshalb, weil sie spürte, daß von mir etwas Furchtbares verlangt worden war. Dieser Forderung nachzukommen, hätte bedeutet, diesen Aspekt ihres Todes nicht anzuerkennen, verstehen Sie? Und dennoch, obwohl sie tot war konnte der Monseigneur nicht völlig übergangen werden — er hat uns Jahre relativen Glücks ermöglicht, die ohne ihn unmöglich gewesen wären… Ich weiß es einfach nicht. Ich hätte vielleicht argumentiert, daß ich ihm Ihr Leben schulde — Ihren Tod, aber gewiß nicht den der Kinder.. und auf keinen Fall den Rest.«
«Den Rest?«fragte St. Jacques.
«Es ist besser, nicht nachzufragen.«
«Ich glaube, Sie hätten mich getötet«, sagte Marie.
«Ich sage Ihnen, ich weiß es einfach nicht. Das war ja nicht persönlich. Sie waren für mich keine Person, Sie waren einfach eine rechnerische Größe, Teil eines Geschäftsabkommens… Dennoch, wie ich sagte, meine Frau war tot, und ich bin ein alter Mann, der nur noch eine begrenzte Zeit vor sich hat. Vielleicht ein Blick in Ihre Augen oder um Ihrer Kinder willen — wer weiß, vielleicht hätte ich die Pistole auf mich gerichtet. Vielleicht auch nicht.«
«Mein Gott, Sie sind ein Killer.«
«Ich bin vieles, Monsieur. Ich verlange keine Vergebung — nicht in dieser Welt; und danach, das ist eine andere Frage. Es gab immer bestimmte Umstände…«
«Französische Logik«, bemerkte Brendan Patrick Pierre Prefontaine, ehemaliger Richter am Obersten Gerichtshof von Boston, und berührte dabei geistesabwesend die aufgescheuerte Haut seines Nackens unter seinem versengten weißen Haar.
«Gott sei Dank mußte ich niemals vor ein französisches Gericht. Eine Seite hat auf jeden Fall immer unrecht. «Der entlassene Richter kicherte.»Sie sehen vor sich einen Gauner rechtmäßig angeklagt und rechtmäßig verurteilt. Der einzige entlastende Aspekt meiner Vergehen ist, daß ich erwischt wurde und so viele andere nicht, weder früher noch heute.«
«Vielleicht sind wir sogar verwandt, Monsieur le juge.«
«Im Vergleich mit ihnen ähnelt mein Leben ja eher dem des Thomas von Aquin…«
«Erpressung«, unterbrach Marie.
«Nein, die Anklage lautete auf Annahme von Vergütungen für günstige Urteile, derlei Dinge… Mein Gott, in Boston sind wir so pingelig! In New York ist das gängige Praxis: Übergib das Geld dem Gerichtsdiener, aber genug für jeden.«
«Ich beziehe mich nicht auf Boston, ich spreche darüber, warum Sie hier sind. Das ist Erpressung.«
«Das ist eine übermäßige Vereinfachung, aber im wesentlichen korrekt. Wie ich Ihnen sagte, der Mann, der mich bezahlte, machte eine zusätzliche große Summe locker, damit ich die Information für mich behielt. Unter diesen Umständen und da ich nicht gerade einen vollen Terminkalender habe, hielt ich es für angebracht, meine Nachforschungen weiterzutreiben. Schließlich, wenn das wenige, was ich wußte, so viel einbrachte, wieviel mehr konnte da hereinkommen, wenn ich etwas mehr wußte.«
«Und Sie sprechen von französischer Logik, Monsieur?«warf der Franzose ein.
«Es war einfach eine Art weiterführender Befragung««, antwortete der ehemalige Richter. Er warf kurz einen Blick auf St. Jacques, bevor er sich wieder Marie zuwandte.»Aber, Verehrteste, ich habe da noch etwas ausgelassen, was bei den Verhandlungen mit meinem Klienten außerordentlich hilfreich war. Um es deutlicher zu sagen: Ihre Identität wurde von der Regierung geheimgehalten und geschützt. Das war ein wichtiger Punkt, und er jagte einem sehr mächtigen und einflußreichen Mann Angst ein.«
«Ich möchte seinen Namen«, sagte Marie.
«Dann brauche auch ich Schutz«, meinte Prefontaine.
«Bekommen Sie… «
«Und vielleicht etwas mehr«, fuhr der alte, abgehalfterte Richter fort.»Mein Klient hat keine Ahnung, daß ich hergekommen bin, keine Ahnung von dem, was hier geschehen ist. Das alles könnte seine Großzügigkeit mächtig anfeuern, wenn ich ihm beschriebe, was ich erfahren und beobachtet habe. Er würde vor Angst den Verstand verlieren, in solche Dinge verwickelt zu sein. Denn in Anbetracht der Tatsache, daß ich beinahe von dieser hünenhaften Amazone getötet worden wäre, verdiene ich wirklich etwas mehr.«
«Werde ich dann auch belohnt, weil ich Ihr Leben gerettet habe, Monsieur?«
«Wenn ich irgend etwas von Wert besäße — außer meinen Rechtskenntnissen, die Ihnen zur Verfügung stehen —, würde ich es mit Vergnügen teilen. Das gilt für alles, was ich bekomme.«
«Merdbien, cousin.«
«D'accord, man ami, aber laß das nicht die irischen Nonnen hören.«
«Sie sehen nicht wie ein armer Mann aus, Richter«, sagte St. Jacques.
«Dann täuscht die Erscheinung ebenso wie ein längst vergessener Titel, den Sie so großzügig benutzen… Vielleicht sollte ich hinzufügen, daß ich keine extravaganten Wünsche habe, weil ich allein lebe, und mein Dasein erfordert keinen Luxus.«
«Sie haben also auch Ihre Frau verloren?«
«Zwar geht Sie das eigentlich nichts an, aber meine Frau hat mich vor neunundzwanzig Jahren verlassen, und mein achtunddreißigjähriger Sohn, jetzt ein erfolgreicher Anwalt an der Wall Street, benutzt ihren Namen, und wenn er von neugierigen Leuten gefragt wird, sagt er, daß er mich niemals gekannt hat. Ich habe ihn nicht mehr gesehen, seit er zehn Jahre alt war.«
«Quelle tristesse.«
«Quelle Scheiße, Cousin. Der Bursche hat meinen Verstand geerbt, nicht den der hohlköpfigen Frau, die ihn geboren hat… Wir kommen jedoch vom Thema ab. Mein reinblütiger Franzose hier hat seine Gründe — die offenbar auf Verrat beruhen —, mit Ihnen zusammenzuarbeiten. Ich habe ebenfalls starke Gründe, Ihnen zu helfen, aber ich muß auch an mich denken. Mein alter Freund kann nach Paris zurück und dort sein Leben beenden, während ich nirgends anders hin kann als nach Boston und zurück zu den dürftigen Chancen, die sich mir dort für meinen Lebensunterhalt bieten. Daher müssen meine tieferen Motive, Ihnen zu helfen, leider zurückstehen. Mit dem, was ich jetzt weiß, würde ich keine fünf Minuten in den Straßen von Boston überleben.«
«Der Durchbruch«, sagte John St. Jacques und starrte Prefontaine an.»Tut mir leid, Richter wir brauchen Sie nicht.«
«Was?«Marie beugte sich in ihrem Sitz vor.»Bitte, Bruder, wir brauchen jede Hilfe, die wir bekommen können!«
«Nicht in diesem Fall. Wir wissen, wer ihn angeheuert hat.«
«Wirklich?«
«Conklin weiß es. Er nannte es den Durchbruch. Er sagte mir, daß der Mann, der dich und die Kinder aufgespürt hat, einen Richter benutzte, um dich zu finden. «Der Bruder nickte dem Bostoner über den Tisch zu.»Ihn. Deswegen habe ich ein Hunderttausend-Dollar-Boot zu Schrott gefahren, um herzukommen. Conklin weiß, wer sein Auftraggeber ist.«
Prefontaine schaute wieder zu dem alten Franzosen.»Jetzt ist die Zeit für quelle tristesse gekommen, alter Held. Mir ist nichts geblieben. Meine Beharrlichkeit hat mir nur einen wunden Nacken und einen versengten Skalp eingebracht.«
«Nicht unbedingt«, unterbrach Marie.»Sie sind Anwalt, also müßte ich es Ihnen nicht erst sagen: Zeuge zu sein ist Kooperation. Wir brauchen Sie vielleicht, um alles, was Sie wissen, bestimmten Leuten in Washington zu erzählen.«
«Eine Zeugenaussage kann nur unter Strafandrohung erzwungen werden, meine Werte. Unter Eid in einem Gerichtssaal, da gebe ich Ihnen sowohl mein persönliches als auch mein professionelles Wort drauf.«
«Wir gehen nicht vor Gericht. Niemals.«
«Oh?… Ich verstehe.«
«Das ginge schwerlich, Richter, nicht zu diesem Zeitpunkt. Wenn Sie jedoch einverstanden sind, uns zu helfen, werden Sie gut bezahlt. Vor einem Augenblick sagten Sie noch, daß es gute Gründe gäbe, uns zu helfen, Gründe, die Ihrem eigenen Wohlergehen zuliebe hintangestellt werden müßten…«
«Sind Sie zufällig Rechtsanwältin, meine Liebe?«
«Nein, Volkswirtin.«
«Jesus Maria, das ist noch schlimmer… Meine Gründe?«
«Betreffen sie Ihren Klienten, den Mann, der Sie angeheuert hat, um uns aufzuspüren?«
«Tun sie. Diese persona augusta — wie in Caesar Augustus — müßte vernichtet werden. Von seiner schleimigen Intellektualität mal ganz abgesehen, ist er eine Hure. Er war einmal jung und vielversprechend, mehr, als ich es ihn jemals wissen ließ, aber aus persönlicher Gier hat er alles zum Teufel gehen lassen.«
«Wovon spricht er eigentlich, Marie?«
«Von einem Mann mit einer Menge Einfluß und Macht. Und keines von beiden sollte er haben. Unser verurteilter Gauner hat die persönliche Moral entdeckt.«
«Spricht so ein Volkswirt?«fragte Prefontaine und berührte wieder tastend seine Wunde.»Ein Ökonom, der über einen etwas danebengegangenen Coup nachdenkt, welcher überstürzte Aufkäufe oder Verkäufe an der Börse verursachte, aus denen wiederum Verluste resultierten, die viele Leute verkraften konnten, aber sehr viel mehr Menschen nicht?«
«Ich war niemals so wichtig, aber ich gebe zu, daß es eine Menge Leute gibt, die nie ein Risiko eingegangen sind, weil sich ihre Coups immer am Schreibtisch abgespielt haben. Das ist eine sichere Position… Ihre nicht, Richter. Sie brauchen vielleicht den Schutz, den wir Ihnen geben können. Was ist Ihre Antwort?«
«Sie sind sehr kalt…«
«Ich muß es sein«, sagte Marie und ließ ihren Blick auf dem Mann aus Boston ruhen.»Ich möchte Sie auf unserer Seite haben, aber bitten tue ich nicht darum. Ich würde Sie einfach ohne etwas laufen lassen, zurück in die Straßen von Boston.«
«Sie sind sicher, daß Sie kein Anwalt sind — oder vielleicht sogar ein Scharfrichter?«
«Wählen Sie. Ich erwarte Ihre Antwort.«
«Wird mir vielleicht mal jemand sagen, was hier, zum Teufel, vor sich geht?«rief John St. Jacques.
«Ihre Schwester«, antwortete Prefontaine mit einem lächelnden Blick zu Marie,»hat einen Rekruten angeheuert. Sie hat deutlich die Optionen herausgearbeitet, was jeder Anwalt
versteht, und die Brillanz ihrer Logik in Verbindung mit ihrem hübschen Gesicht und dem dunkelroten Haar macht meine Antwort unvermeidlich.«
«Was…?«
«Er hat sich für uns entschieden, Johnny.«
«Wozu brauchen wir ihn?«
«Auch ohne Gerichtssaal aus ein Dutzend verschiedenen Gründen, junger Mann«, antwortete der Richter.»In gewissen Situationen ist Freiwilligkeit nicht der beste Weg, es sei denn, man wird auch außerhalb des Gerichtssaals gut geschützt.«
«Stimmt das, Schwester?«
«Es ist nicht falsch, Bruder, aber es liegt an Jason — verdammt, David!«
«Nein, Marie«, sagte John St. Jacques und bohrte seine Augen in die seiner Schwester.»Es liegt an Jason.«
«Sollte ich mir diese Namen merken?«fragte Prefontaine.
«Der Name Jason Borowski< war an die Wand Ihrer Villa gesprüht.«
«Meine Instruktionen, Cousin«, sagte der falsche und doch nicht so falsche Held von Frankreich.»Es war notwendig.«
«Ich verstehe nicht… genausowenig wie ich den anderen Namen verstanden habe, >Schakal< oder >Carlos<, nach dem Sie mich ziemlich brutal ausgefragt haben, als ich noch nicht sicher war, ob ich lebendig oder tot war. Ich dachte, der >Schakal< sei irgendeine Erfindung. «Der alte Richter blickte fragend in die Runde.
Der Mann, der sich Jean Pierre Fontaine nannte, schaute Marie an. Sie nickte, worauf er erklärte:»Carlos, der Schakal, ist eine Legende, aber er ist keine Fiktion. Er ist ein professioneller Killer, jetzt etwa sechzig Jahre alt, von dem das Gerücht sagt, er sei krank, der aber immer noch von furchtbarem Haß besessen ist. Er ist ein Mann mit vielen Gesichtern, vielen
Seiten, geliebt von denen, die Gründe haben, ihn zu lieben, verabscheut von anderen, die ihn als den Inbegriff des Bösen ansehen — je nach Gesichtspunkt. Alle haben ihre Gründe, und beide Seiten existieren. Ich zum Beispiel bin einer, der beides erfahren hat, aber deshalb, weil meine Welt nicht die Ihre ist, wie Sie richtig bemerkt haben, heiliger Thomas von Aquin.«
«Merd bien.«
«Der Haß, von dem Carlos besessen ist, wächst in seinem alternden Hirn wie ein Krebsgeschwür. Ein Mann zerrte ihn hervor, ein Mann trickste ihn aus, usurpierte seine Fähigkeiten, riß die Arbeit des Schakals an sich, einen Mord nach dem anderen. Und trieb Carlos in den Wahnsinn, als er versuchte, das Bild zu korrigieren und seine Oberhoheit als bester Mörder zu behalten. Eben jener Mann war auch verantwortlich für den Tod seiner Geliebten. Sie war mehr als eine Geliebte, sie war sein Ruhepunkt, sein ein und alles seit der Kindheit in Venezuela, seine Vertraute in allem. Dieser eine Mann — einer von Hunderten, vielleicht Tausenden, die von allen möglichen Regierungen ausgesandt wurden — war der einzige Mensch, der je sein Gesicht sah, sein Gesicht als Schakal. Der Mann, der all das leistete, war ein Produkt des amerikanischen Geheimdienstes, ein seltsamer Mann, der tagtäglich eine tödliche Lüge lebte, jahrelang. Und Carlos wird nicht eher ruhen, bevor dieser Mann nicht gestraft ist… und getötet. Dieser Mann ist Jason Borowski.«
Prefontaine, erschüttert von der Geschichte des Franzosen, beugte sich über den Tisch.»Wer ist Jason Borowski?«fragte er.
«Mein Mann, David Webb«, antwortete Marie.
«Oh, mein Gott«, flüsterte der Richter.»Kann ich einen Drink haben, bitte?«
John St. Jacques rief:»Ronald!«
«Ja, Boß!«schrie einer von den Wachen.
«Bring uns bitte Whisky und Brandy. Es müßte noch was in der Bar sein.«
«Ich komme, Sir.«
Die orangefarbene Sonne im Osten erglühte plötzlich und durchdrang die restlichen Morgennebel über dem Meer. Das Schweigen am Tisch wurde von den weichen, deutlich betonten Worten des alten Franzosen gebrochen.»Ich bin an solchen Service nicht gewöhnt«, sagte er und schaute ziellos über das Balkongitter auf das immer heller erstrahlende Meer.»Wenn etwas verlangt wird, denke ich immer, ich müßte es erledigen.«
«Nicht mehr«, sagte Marie ruhig und fügte nach einem Moment hinzu:»Jean Pierre…?«
«Ich denke, man könnte mit dem Namen leben.«
«Warum nicht hier?«
«Was sagen Sie, Madame?«
«Denken Sie darüber nach. Paris ist für Sie vielleicht nicht weniger gefährlich als die Straßen von Boston für unseren Richter.«
Der Richter hing seinen eigenen Träumen nach, als verschiedene Flaschen, Gläser und ein Behälter mit Eiswürfeln auf den Tisch gestellt wurden. Ohne Zögern griff Prefontaine nach der nächsten Flasche und schenkte sich einen kräftigen Drink ein.»Ich muß ein oder zwei Fragen stellen«, sagte er.»Darf ich?«
«Nur zu«, antwortete Marie.»Ich bin nicht sicher, ob ich sie beantworten kann oder will, aber versuchen Sie es.«
«Die Schüsse, die Worte an der Wand — mein Cousin hier sagt, daß die rote Schrift und die Worte auf seine Anweisung hin…«
«Waren sie, man ami. Das Abfeuern der Schüsse ebenfalls.«
«Warum?«»Alles muß so sein, wie man es erwartet. Die Schüsse waren ein zusätzliches Element, um die Aufmerksamkeit auf das Ereignis zu lenken, das stattfinden sollte.«
«Warum?«
«Eine Lektion, die wir in der Resistance gelernt haben nicht, daß ich je ein Jean Pierre Fontaine gewesen wäre, aber ich habe mein Teil dazu beigetragen. Man nannte es accentuation, ein positives Statement, das deutlich machen sollte, daß der Untergrund für die Aktion verantwortlich war. Alle in der Nachbarschaft wußten es.«
«Und warum hier?«
«Die Krankenschwester des Schakals ist tot. Es gibt niemanden, der ihm sagen könnte, daß seine Instruktionen durchgeführt wurden.«
«Französische Logik. Unverständlich.«
«Französischer gesunder Menschenverstand. Unbestreitbar.«
«Warum?«
«Carlos wird morgen mittag hiersein.«
«Herr im Himmel!«
Drinnen in der Villa klingelte das Telefon. John St. Jacques sprang aus seinem Stuhl hoch, wurde aber von seiner Schwester zurückgehalten. Sie lief durch die Tür ins Wohnzimmer und griff zum Hörer.
«David?«
«Hier Alex«, sagte die atemlose Stimme in der Leitung.»Mein Gott, drei Stunden lang hab ich es immer wieder probiert, zu euch durchzukommen. Geht es euch gut?«
«Wir leben, auch wenn wir es eigentlich nicht mehr dürften.«
«Die alten Männer! Die alten Männer von Paris! Ist Johnny… «
«Johnny ist da, aber sie sind auf unserer Seite!«»Wer?«
«Die alten Männer.«
«Verdammt, das ist dummes Zeug!«
«Nein! Wir haben alles unter Kontrolle. Was ist mit David?«
«Weiß ich nicht! Die Telefonleitungen waren unterbrochen. Alles ist durcheinander! Ich hab die Polizei geschickt…«
«Scheiß auf die Polizei, Alex!«schrie Marie.»Hol die Armee, die Marine, die lausige CIA! Wir sind dazu verpflichtet!«
«Das würde Jason nicht erlauben. Ich kann mich jetzt nicht an ihn wenden.«
«Dann denk über folgendes nach: Morgen wird der Schakal hiersein!«
«Großer Gott! Ich muß David irgendwie einen Jet besorgen.«
«Du mußt etwas tun!«
«Du verstehst nicht, Marie. Die alte Medusa ist aufgetaucht.«
«Sage meinem Mann, daß Medusa der Geschichte angehört! Der Schakal nicht, er wird morgen mit dem Flugzeug hier eintreffen!«
«David wird dort sein, das weißt du.«
«Ja, weiß ich… weil er Borowski ist.«
«Bruder Rabbit, es ist nicht mehr wie vor dreizehn Jahren. Du bist nun einmal dreizehn Jahre älter. Du wirst nicht nur nutzlos sein, sondern sogar ein Risikofaktor, wenn du nicht etwas Ruhe bekommst, am besten Schlaf. Mach das Licht aus und schlaf dich auf dem großen Sofa drinnen im Wohnzimmer erst einmal aus. Ich bleibe am Telefon, was sowieso nicht kungeln wird, weil hier niemand um vier Uhr früh anruft.«
Nach diesen Worten von Kaktus ging Jason mit schweren Beinen und bleiernen Lidern in das dunkle Wohnzimmer. Er sank auf das Sofa und hob seine Beine, eins nach dem anderen, auf die Kissen. Er starrte an die Decke. Ruhe ist eine Waffe.
Schlachten, gewonnen und verloren… Philippe D'Anjou. Medusa. Sein innerer Bildschirm erlosch, und Schlaf übermannte ihn.
Eine gellende Sirene heulte auf, ohrenbetäubend, unaufhörlich, und hallte durch das höhlenartige Haus wie ein Lärmtornado. Borowski schnellte herum und sprang vom Sofa auf, ohne Orientierung zuerst, unsicher, wo er war und — einen furchtbaren Augenblick lang — wer er war.
«Kaktus!«brüllte er und rannte aus dem Wohnzimmer in die Diele.»Kaktus!«schrie er wieder und merkte, wie seine Stimme in dem wahnsinnigen, rhythmischen Crescendo der Alarmsirene unterging.»Wo bist du?«
Nichts. Er rannte zur Tür des Arbeitszimmers und packte die Klinke. Verschlossen! Er tat einen Schritt zurück und warf sich gegen das Holz, einmal, zweimal, ein drittes Mal mit all der Kraft, die er aufbringen konnte. Die Tür splitterte, gab nach, und Jason trat mit den Füßen dagegen, bis sie aufsprang. Er ging hinein, und was er fand, das ließ die Tötungsmaschine, das Produkt von Medusa, in eiskalter Wut erstarren. Kaktus war auf den Tisch gesunken, unter dem Licht der einzigen Lampe, in demselben Stuhl, in dem auch der General ermordet worden war, und sein Blut bildete eine rote Pfütze auf der Löschunterlage — eine Leiche, nein, keine Leiche! Die rechte Hand bewegte sich, Kaktus lebte!
Borowski rannte zum Schreibtisch und hob vorsichtig den Kopf des alten Mannes an. Die schrille, betäubende, alles durchdringende Alarmmaschine machte jede Kommunikation unmöglich. Kaktus öffnete seine dunklen Augen, und seine zitternde Rechte bewegte sich über die Löschunterlage, wobei sein gekrümmter Zeigefinger auf den Tisch klopfte.
«Was ist es?«schrie Jason. Die Hand glitt zur Kante der Unterlage und klopfte schneller.»Darunter? Unten?«Mit einer kaum wahrnehmbaren Bewegung seines Kopfes nickte Kaktus bestätigend.»Unter dem Tisch!«schrie Borowski und verstand. Er kniete rechts von Kaktus nieder und tastete unter der schmalen Schublade, dann an der Seite. Ein Knopf. Er schob den Stuhl vorsichtig beiseite und sah sich den Knopf an. Darunter, in weißen Buchstaben auf einem schwarzen Plastikstreifen, stand die Antwort:»Alarm.«
Jason drückte den Knopf. Sofort hörte der brüllende Höllenlärm auf. Die folgende Stille war ebenso betäubend, die Gewöhnung daran ebenso erschreckend.
«Wie wurdest du getroffen?«fragte Borowski.»Wie lange ist es her?… Wenn du nicht reden kannst, flüstere, keinen Energieaufwand, verstehst du?«
«Oh, Bruder, du bist unmöglich«, flüsterte Kaktus.»Ich war ein schwarzer Taxifahrer in Washington, Mann. Hab ich schon mal erlebt. Nicht gefährlich, Junge, nur ein Schuß in die Brust.«
«Ich hole sofort einen Doktor, unseren Freund Ivan, aber wenn du kannst, sage mir, was geschehen ist, während ich dich auf den Boden lege und mir die Wunde anschaue.«
Jason hob langsam und vorsichtig den alten Mann vom Stuhl auf den kleinen Teppich. Er riß das Hemd auf. Die Kugel war durch das Fleisch der linken Schulter gegangen. Mit kurzen, schnellen Bewegungen riß er das Hemd in Streifen und legte einen strammen, primitiven Verband um die Brust seines Freundes.
«Nicht besonders gut«, sagte Jason,»aber es wird eine Weile halten. Nun sag schon.«
«Er ist dort draußen, Bruder!«Kaktus hustete leicht und legte sich zurecht.»Er hatte eine 357er Magnum mit einem Schalldämpfer. Er hat mich durch das Fenster erwischt. Dann zerschlug er es und kletterte herein… Er, er…«
«Ruhig! Sprich nicht, egal…«
«Ich muß. Die Brüder draußen, sie wissen nichts. Er wird sie umlegen!.. Ich spielte den Toten, und er hatte es eilig, und wie! Schau, dort drüben!«Jason blickte in die Richtung, in die Kaktus zeigte. Etwa ein Dutzend Bücher war aus dem Wandregal herausgerissen und über den Boden verstreut worden. Der alte Mann fuhr mit schwächerer Stimme fort:»Er rannte panisch zu dem Bücherregal, bis er fand, was er suchte… dann zur Tür, die 357er schußbereit, wenn du verstehst… Ich dachte mir, daß er hinter dir her ist, daß er dich durch das Fenster in das andere Zimmer hatte gehen sehen, und ich sage dir, ich suchte mit meinem Knie wie verrückt, denn ich hatte den Alarmknopf vor einer Stunde gefunden, und wußte, daß ich ihn stoppen mußte.«
«Langsam!«
«Ich muß es dir sagen… Ich konnte meine Hände nicht rühren, sonst hätte er es gesehen, aber mein Knie fand den Knopf, und die Sirene hat mich beinahe aus dem Stuhl gehauen… Der verdammte Bastard kippte fast um. Er knallte die Tür zu, schloß sie ab und zog sich durch das Fenster wieder zurück. «Kaktus' Kopf sank nach hinten. Der Schmerz und die Erschöpfung übermannten ihn.
«Das reicht!«befahl Borowski. Er langte vorsichtig nach oben und schaltete die Lampe aus. Als einzige Lichtquelle blieb ein schwacher Schein von der Diele her.»Ich rufe Alex an. Er soll den Doktor schicken…«
Plötzlich war von draußen ein sehr hoher Schrei zu hören, ein schreckliches Angstbrüllen, das Jason nur zu gut kannte. Kaktus auch, der mit geschlossenen Augen flüsterte:»Er hat einen erwischt. Dieser Hund hat einen Bruder erwischt!«
«Ich rufe Conklin an«, sagte Jason und zog das Telefon vom Tisch.»Dann geh ich raus und hol ihn mir… Oh, Gott, die Leitung ist tot — durchschnitten!«
«Dieser Hundesohn kennt sich hier aus!«
«Ich auch. Bleib so ruhig, wie du kannst. Ich bin gleich wieder da. «Es gab wieder einen Schrei, nicht so laut, abrupt, eher ein Luftausstoßen als ein Schrei.
«Möge Gott mir verzeihen«, murmelte der alte Mann unter Schmerzen.»Es ist nur noch ein Bruder übrig.«
«Wenn jemand um Verzeihung bitten müßte, dann ich«, rief Borowski mit halb erstickter Stimme.»Verdammt noch mal! Ich schwöre dir, Kaktus, ich dachte niemals, nicht einmal im Traum daran, daß so etwas passieren könnte.«
«Natürlich nicht. Ich kenne dich seit langem, Bruder, und ich habe niemals gehört, daß jemand für dich ein Risiko eingehen sollte… Es ist immer andersherum gewesen.«
«Ich ziehe dich dort hinüber«, unterbrach Jason. Er zog den Teppich rechts neben den Tisch, damit Kaktus mit der linken Hand den Alarmknopf erreichen konnte.»Wenn du etwas hörst oder siehst oder fühlst, drück drauf.«
«Wo gehst du hin? Ich meine, wie…?
Borowski kroch über den Boden zu der zerschmetterten Tür, hechtete hindurch und rannte ins Wohnzimmer. Am Ende war eine Glastür, die in einen Patio führte. Er erinnerte sich, weiße, schmiedeeiserne Gartenstühle am Südende des Hauses gesehen zu haben, als er bei den Wächtern war. Er drückte den Türgriff und schlüpfte hinaus. Er schloß die Tür wieder und griff nach seiner Automatic. Am Rande des Rasens kroch er durchs Gebüsch. Er mußte sich beeilen. Nicht nur war ein drittes Leben in Gefahr, ein Mensch, der nichts mit dem allem zu tun hatte, sondern da war auch ein Killer, ein direkter Draht zu den Verbrechern der neuen Medusa, und diese Verbrecher waren ein Köder für den Schakal! Er brauchte eine Ablenkung, einen Magneten, eine Falle… die Leuchtkugeln, Teil der Ausrüstung, die er in Manassas eingekauft hatte. Die beiden» NothilfeKerzen «steckten in seiner linken Gesäßtasche, jede zwanzig Zentimeter lang und hell genug, um kilometerweit gesehen zu werden. Gleichzeitig angezündet, aber getrennt geworfen, würden sie den ganzen Landsitz von Swayne in Flutlicht tauchen. Eine auf die südliche Ausfahrt, die andere in den Zwinger, wodurch die betäubten Hunde wahrscheinlich aufwachen und in Rage versetzt werden würden. Los! Beeil dich!
Jason kroch über den Rasen, wobei seine Augen überall hinschossen. Er fragte sich, wo der herumschleichende Killer sein könnte und wie der unschuldige Kerl, den Kaktus angeheuert hatte, ihm entkommen wollte. Der eine war erfahren, der andere nicht, und Borowski konnte nicht zulassen, daß sein Leben auch noch draufging.
Da passierte es! Er war entdeckt worden! Zwei Einschläge auf beiden Seiten, Kugeln aus einer gedämpften Pistole, die durch die Luft zischten. Er erreichte den südlichen Arm der asphaltierten Straße, raste hinüber und hechtete ins Gebüsch. Er riß eine Rakete aus seiner Tasche legte die Waffe hin, entzündete sein Feuerzeug und hielt es an die Zündschnur. Er warf die zischende Rakete nach rechts. Sie landete auf der Straße. In wenigen Sekunden würde sie ein blendendes Licht ausspucken. Er rannte im Schutz der Pinien nach links hinter das Haus, das Feuerzeug und die Leuchtrakete in der einen, die Automatic in der anderen Hand. Er war neben dem Zwinger, als die erste Rakete mit bläulichweißem Licht explodierte. Er entzündete die zweite und warf sie fünfzehn Meter weit vor die Zwinger. Und wartete. Die Rakete explodierte, und zwei Bälle blendenden Lichts erhellten das Haus und das Gelände an der Südseite. Drei der Hunde begannen zu winseln, machten dann schwache Versuche zu bellen, bald würde man ihre Wut nicht mehr überhören können. Ein Schatten! An der Westwand des weißen Hauses — die Figur sauste schutzsuchend ins Gebüsch, kroch hinein und war dann ein unbeweglicher, aber leicht sich abhebender Teil des Blätter-Schattens. War es der Killer oder das Ziel des Killers, der letzte von Kaktus rekrutierten Brüdern?
Es gab eine Möglichkeit, das herauszufinden, und wenn es ersterer war und ein guter Schütze, dann war es nicht die beste Taktik, aber die schnellste.
Borowski sprang mit einem Schrei aus dem Unterholz hoch, voll ins Licht, und warf sich gleichzeitig nach rechts, berührte eine Sekunde mit seinem Fuß den weichen Boden, machte eine Drehung und tauchte nach links weg.»Renn zur Hütte!«schrie er. Doch er bekam eine Antwort. Zwei weitere Schüsse, zweimal ein Zischen in der Luft, und die Kugeln gruben sich in die Erde zu seiner Rechten. Der Killer war gut, vielleicht kein Experte, aber gut. Eine 357er hatte sechs Schuß; fünf hatte er abgefeuert, aber er hatte genügend Zeit gehabt, das Magazin nachzuladen. Eine andere Strategie — schnell!
Plötzlich tauchte eine andere Figur auf, ein Mann, der die Straße entlang zur Rückseite von Flannagans Hütte rannte. Er war völlig ungeschützt!
«Hier, du Bastard«, schrie Jason, sprang hoch und feuerte seine Automatic blind in das Gebüsch neben dem Haus. Und dann bekam er eine zweite Antwort, eine willkommene. Ein einziger Schuß, ein Zischen in der Luft und dann nichts mehr. Der Killer hatte nicht nachgeladen! Vielleicht besaß er keine Kugeln mehr — was auch immer, jetzt hatte er ihn.
Borowski stürmte im Licht der Leuchtrakete über den Rasen; die Hunde waren jetzt wach, ihr Bellen und Kampfgeheul wurden immer lauter. Der Killer floh aus dem Gebüsch auf die Straße, rannte im Schatten der Bäume zu den Eingangstoren. Jason hatte den Bastard, er wußte es. Die Tore waren geschlossen, der Medusa-Mann war in der Falle. Borowski schrie:»Es gibt keinen Ausweg, Schlangenlady! Gib auf!«
Ein Schuß, ein Zischen. Der Mann hatte beim Rennen erneut geladen! Jason feuerte, der Mann fiel auf die Straße. Die einsetzende Stille der Nacht wurde fast gleichzeitig wieder durch den Lärm eines starken Automotors unterbrochen. Das
Fahrzeug raste draußen auf der Straße entlang, und seine aufblitzenden roten und blauen Lichter bedeuteten Polizei. Die Polizei! Die Alarmanlage mußte direkt mit dem Hauptquartier der Polizei in Manassas verbunden gewesen sein.
Er hatte angenommen, daß solch eine Maßnahme unmöglich sei, wo Medusa im Spiel war. Es war nicht logisch, die Sicherheit war eine interne Angelegenheit, für die Schlangenlady durfte es keine äußeren Faktoren geben. Da stand zuviel auf dem Spiel, zuviel, das geheimgehalten werden mußte- ein Friedhof!
Der Killer krümmte sich auf der Straße und rollte sich zu den Pinien am Straßenrand. Seine Hand hielt krampfhaft etwas fest. Jason näherte sich ihm, als zwei Polizeioffiziere vor dem Tor aus dem Polizeiwagen stiegen. Er schnellte mit dem Fuß vor und traf den Körper des Mannes. Der ließ den Gegenstand los, und Jason hob ihn auf. Es war ein ledergebundenes Buch, wie ein Band von Dickens oder Thackeray, mit bossierten Goldbuchstaben. Verrückt! Dann schlug er eine Seite auf und verstand, daß es gar nicht verrückt war. Innen waren keine bedruckten Seiten, nur das Gekritzel handgeschriebener Notizen. Es war ein Tagebuch, ein Hauptbuch!
Es durfte keine Polizei geben! Besonders jetzt nicht. Er durfte ihnen nicht erlauben, von seinem und Conklins Eindringen in Medusa zu erfahren. Das ledergebundene Buch in seiner Hand durfte nicht das Licht des Tages erblicken! Der Schakal war alles. Er mußte sie loswerden!
«Wir bekamen einen Anruf, Mister«, begann ein Polizist mittleren Alters und kam auf das Torgitter zu, und der jüngere Kollege gesellte sich zu ihm.»Das Hauptquartier sagte, der Anrufer war furchtbar aufgeregt. Aber ich habe ihm gesagt, daß es hier in letzter Zeit einige ziemlich wilde Parties gegeben hat, was keine Kritik bedeuten soll, Sir. Wir alle möchten's manchmal lustig haben, nicht wahr?«
«Ganz richtig, Officer«, antwortete Jason und versuchte angestrengt, das schmerzhafte Stechen in der Brust zu unterdrücken. Er warf einen Blick auf den verwundeten Killer — er war verschwunden!» Es gab eine kurze StromUnterbrechung, die irgendwie die Leitungen durcheinandergebracht hat.«
«Das passiert oft«, bestätigte der jüngere Beamte.»Plötzliche Regengüsse und sommerliche Hitzegewitter. Eines Tages werden alle Kabel unter die Erde gelegt. Meine Leute haben ein Haus…«
«Alles ist wieder normal«, unterbrach ihn Borowski.»Wie Sie sehen, sind im Haus einige Lichter schon wieder an.«
«Ich kann nichts sehen wegen der Leuchtraketen«, sagte der jüngere Polizist.
«Der General trifft immer alle Vorsichtsmaßnahmen«, erklärte Jason.»Er meint wohl, daß er das tun muß«, fügte er etwas lahm hinzu.»Egal, alles ist, wie ich schon sagte, wieder normal. Okay?«
«Für mich schon«, antwortete der Ältere,»aber ich habe eine Botschaft für jemanden mit Namen Webb. Ist er drinnen?«
«Ich bin Webb«, sagte Borowski alarmiert.
«Das macht es leichter. Sie sollen sofort einen Mr. Conk anrufen. Es ist dringend.«
«Dringend?«
«Ein Notfall, wurde uns gesagt. Es kam über Funk.«
Jason hörte ein Rasseln am Zaun. Der Killer war am Entkommen!» Gut, Officer, die Telefone gehen noch nicht… Haben Sie eins im Wagen?«
«Nicht für den persönlichen Bedarf, Sir. Tut mir leid.«
«Aber Sie sagten doch gerade, es sei ein Notfall.«»Gut, ich denke, da Sie ein Gast des Generals sind, kann ich es erlauben. Wenn es ein Ferngespräch ist, wäre es gut, wenn Sie eine Kreditkarte hätten.«
«Oh, mein Gott. «Borowski schloß das Tor auf und rannte zum Polizeiwagen, als die Alarmsirene im Haus aktiviert wurde aktiviert und sofort wieder abgestellt. Der überlebende Bruder hatte offenbar Kaktus gefunden.
«Was war das?«bellte der jüngere Polizist.
«Vergessen Sie's!«schrie Jason, sprang in den Wagen und riß das ihm allzu vertraute Polizeitelefon von der Gabel. Er gab die Nummer von Alex in Virginia ein und wiederholte ständig den Satz:»Es ist ein Notfall, es ist ein Notfall!«
«Ja?«antwortete Conklin.
«Ich bin's.«
«Was ist passiert?«
«Zu verwickelt, um es zu erklären. Was ist mit dem Notfall?«
«Ich habe für dich einen Privatjet ab Flughafen Reston.«
«Reston? Das liegt nördlich von hier…«
«Der Flughafen von Manassas hat nicht die Ausrüstung. Ich schicke dir einen Wagen.«
«Warum?«
«Tranquility. Marie und die Kinder sind okay. Sie sind okay. Sie hat das Kommando.«
«Was bedeutet das, verflucht?«
«Komm zum Flughafen Reston, und ich erzähle es dir.«
«Ich will mehr wissen!«
«Der Schakal kommt heute mit dem Flugzeug.«
«Jesus Maria!«
«Wickle dort alles ab und warte auf den Wagen.«
«Ich nehme diesen hier!«»Nein! Nicht, wenn du nicht alles auffliegen lassen willst. Wir haben Zeit. Bring dort erst alles in Ordnung.«
«Kaktus — er ist verletzt, angeschossen.«
«Ich rufe Ivan an. Er wird sofort kommen.«
«Da ist nur noch ein Bruder übrig — nur einer, Alex. Ich habe die beiden anderen getötet — ich war verantwortlich.«
«Laß das. Hör auf. Tu, was du tun mußt.«
«Verflucht, das kann ich nicht. Irgend jemand muß hierbleiben, und ich kann es nicht!«
«Du hast recht. Da gibt es zu viel, was unter dem Teppich bleiben muß, und du mußt nach Montserrat. Ich fahre den Wagen raus und nehme deinen Platz ein.«
«Alex, sag mir, was auf Tranquility passiert ist!«
«Die alten Männer… deine alten Männer von Paris, das ist passiert.«
«Sie sind tot«, sagte Borowski ruhig und schlicht.
«Nein, sie wurden umgedreht — zumindest nach dem, was ich mitbekommen habe. Sie sind jetzt auf unserer Seite.«
«Sie sind niemals auf Seiten von irgend jemandem außer der des Schakals. Du kennst sie nicht.«
«Du auch nicht. Höre auf deine Frau. Aber geh jetzt ins Haus zurück und schreibe alles auf, was ich wissen muß… Und Jason, ich muß dir etwas sagen: Ich bete zu Gott, daß du deine Lösung unsere Lösung — auf Tranquility findest. Denn alles in allem kann ich diese Medusa-Sache nicht viel länger in unserer Hand behalten. Ich denke, daß du das weißt.«
«Du hast versprochen…!«
«Sechsunddreißig Stunden, Delta.«
Im Wald hinter dem Zaun kroch ein verwundeter Mann und drückte sein angstvolles Gesicht an den Maschendraht. Im hellen Licht der Scheinwerfer sah er den großen Mann, der in den Polizeiwagen gestiegen war und jetzt wieder ausstieg und den Polizisten dankte. Webb. Der Killer hatte den Namen» Webb «gehört.
Das ist alles, was sie wissen müssen. Alles, was die Schlangenlady wissen mußte.