Kapitel 5

Es ist, als hätte sich nichts verändert, dachte Jason Borowski und merkte, wie sein anderes Ich, das David Webb genannt wurde, aus ihm entschwand. Das Taxi hatte ihn in das ursprünglich elegante, jetzt aber ziemlich heruntergekommene Viertel im Nordosten Washingtons gefahren, und der Fahrer hatte sich, genau wie vor fünf Jahren, geweigert zu warten. Er lief durch den überwucherten Vorgarten zu dem alten Haus und dachte, genau wie beim erstenmal, daß es zu alt war und zu baufällig und sehr dringend repariert werden mußte. Er klingelte und fragte sich, ob Kaktus überhaupt noch lebte. Er lebte. Der alte, hagere schwarze Mann mit seinem sanften Gesicht und den warmen Augen stand vor ihm im Türrahmen, ganz genauso wie vor fünf Jahren, und blinzelte unter einem grünen Sonnenschutz hervor. Sogar seine ersten Worte waren nur eine geringfügige Variation derjenigen von vor fünf Jahren.

«Hast du Radkappen am Auto, Jason?«

«Kein Auto und kein Taxi, es wollte nicht warten.«

«Muß die merkwürdigen Gerüchte gehört haben, die von der faschistischen Presse verbreitet werden. Ich habe Haubitzen hinter den Fenstern installiert, um die freundlichen Nachbarn von meinen friedlichen Absichten zu überzeugen. Komm rein, hab oft an dich gedacht. Warum hast du Opa nicht mal angerufen?«

«Deine Nummer steht nicht im Telefonbuch, Kaktus.«

«Muß ein Versehen sein.«

Jason Borowski trat in den Vorraum, während Kaktus die Tür verschloß.

«Du hast ein paar graue Haare bekommen, Bruder Hase«, fügte Kaktus hinzu und betrachtete seinen Freund aufmerksam.

«Ansonsten hast du dich nicht sehr verändert. Vielleicht ein oder zwei Falten, aber das zeigt Charakter.«

«Ich habe inzwischen auch eine Frau und zwei Kinder, Onkel Remus. Einen Jungen und ein Mädchen.«

«Ich weiß. Mo Panov hält mich auf dem laufenden, auch wenn er mir nicht sagen kann, wo du bist — was ich auch gar nicht unbedingt wissen will, Jason.«

Borowski blinzelte und schüttelte seinen Kopf.»Ich vergesse immer noch manche Dinge, Kaktus; zum Beispiel, daß du und Mo Freunde seid.«

«Oh, der gute Doktor ruft mich wenigstens einmal im Monat an und sagt: >Kaktus, du Aas, zieh deinen Pierre-Cardin-Anzug und deine Gucci-Schuhe an und laß uns essen gehen.< Und ich sage: >Wo soll ein alter Nigger solche Klamotten herbekommen?<, und er sagt zu mir: >Du hast doch bestimmt einen Supermarkt im besten Viertel der Stadt.< Na, das ist jedenfalls eine Übertreibung, so wahr mir Gott helfe. Ich hab zwar hier und da ein Stückchen weißen Grundbesitz, aber da gehe ich nicht mal in die Nähe.«

Beide Männer lachten, und dann sah Jason in das dunkle Gesicht und die warmen, schwarzen Augen vor ihm.»Was mir gerade einfällt. Vor dreizehn Jahren im Krankenhaus in Virginia… da hast du mich besucht. Außer Maria und den Regierungskötern bist du der einzige gewesen.«

«Panov hatte verstanden, Bruder Hase. Als ich in meiner wenig offiziellen Stellung für dich in Europa arbeitete, sagte ich Morris einmal, daß man nicht das Gesicht eines Mannes unter einer Linse studiert, ohne etwas über ihn zu lernen. Ich wollte mit dir über die Dinge sprechen, die ich unter der Linse vermißt hatte, und Morris hielt es für eine gute Idee… Doch jetzt Schluß mit den Vertraulichkeiten, nur noch soviel, daß es wirklich schön ist, dich zu sehen, Jason. Andererseits, um dir die

Wahrheit zu sagen, bin ich nicht glücklich, dich zu sehen, wenn du verstehst, was ich damit meine.«

«Ich brauche deine Hilfe, Kaktus.«

«Genau das macht mich unglücklich. Du hast schon genug mitgemacht, und du wärst nicht hier, wenn es dich nicht nach mehr gelüstete.«

«Du mußt mir helfen.«

«Dann mußt du einen verdammt guten Grund angeben, der beim Onkel Doktor auch zieht. Ich will nichts mehr anrühren, was dich noch tiefer in den Schlamassel bringt… Ich habe deine nette Frau mit dem dunkelroten Haar ein paarmal im Krankenhaus getroffen — sie ist was Besonderes, Bruder, und deine Kinder müssen es auch sein, du verstehst also, daß ich nicht die geringste Lust habe, etwas zu tun, was ihnen schaden könnte. Verzeih mir, aber ihr alle seid für mich wie liebe Verwandte aus einer Zeit, über die wir nicht sprechen. So sehe ich das.«

«Aber ihretwegen brauche ich deine Hilfe.«

«Drück dich deutlicher aus.«

«Der Schakal ist mir auf den Fersen. Er hat uns über Hongkong ausfindig gemacht, und er hat mich und meine Familie, meine Frau und die Kinder, gefunden. Bitte, hilf mir.«

Die Augen des alten Mannes weiteten sich.»Weiß das der Doktor?«

«Er ist auch betroffen. Vielleicht billigt er nicht, was ich tue, aber wenn er ehrlich zu sich selbst ist, dann weiß er, daß es im Grunde um den Schakal und mich geht. Hilf mir, Kaktus.«

Der alte Schwarze sah sich seinen Klienten genau an.»Bist du in guter Verfassung, Bruder?«fragte er.»Hast du noch genug Saft in den Knochen?«

«Ich laufe jeden Morgen zehn Kilometer und stemme mindestens einmal in der Woche in der Uni meine Gewichte…«

«Das habe ich nicht gehört. Über Colleges und Universitäten will ich nichts hören.«

«Dann hast du es nicht gehört.«

«Natürlich nicht. Es scheint, du bist in guter Verfassung, würde ich sagen.«

«Es ist gut durchdacht, Kaktus«, sagte Jason ruhig.»Manchmal ist es nur ein Telefon, das plötzlich klingelt, oder Marie, wenn sie zu lange mit den Kindern wegbleibt und ich sie nicht erreichen kann… oder jemand, den ich nicht kenne, hält mich auf der Straße an, um mich nach dem Weg zu fragen. Der Schakal. Solange die Möglichkeit besteht, daß er lebt, muß ich auf ihn gefaßt sein, weil er nicht aufhören wird, nach mir zu suchen. Die Ironie dabei ist, daß seine Jagd womöglich auf einer Annahme beruht, die gar nicht stimmt. Aber das ist noch nicht richtig klar.«

«Hast du daran gedacht, ihn das wissen zu lassen?«

«Soll ich vielleicht eine Anzeige im Wall Street Journal aufgeben? >Lieber alter Kumpel Carlos: Ich muß dir unbedingt was mitteilen.<«

«Mach keine Witze, Jason, es ist nicht unmöglich. Dein Freund Alex könnte einen Weg finden.«

«Wenn es einen gäbe, er hätte ihn bereits ausfindig gemacht.«

«Ich glaube, ich kann da nicht mitreden… Also laß uns an die Arbeit gehen, Bruder Hase. Was hast du dir gedacht?«Kaktus ging voran durch einen geräumigen Kreuzgang zu einer Tür am Ende eines heruntergekommenen Wohnzimmers voller alter Möbel und verblichener Sofaschoner.»Mein Studio ist nicht mehr so elegant, wie es einmal war, wegen all dieses Krempels. Du siehst, daß ich fast schon pensioniert bin. Meine Finanzstrategen haben ein riesiges Pensionierungsprogramm mit großen steuerlichen Erleichterungen ausgearbeitet.«

«Du bist wirklich unglaublich«, sagte Borowski.

«Ich glaube, daß einige Leute das sagen würden, diejenigen, die sich keine Zeit nehmen. Was hast du vor?«

«Eine ganze Menge. Weder Europa noch Hongkong natürlich. Nur einfach Papiere.«

«Das Chamäleon nimmt wieder eine andere Tarnung an.«

Jason hielt inne, als sie an die Tür kamen.»Das war auch etwas, das ich bereits vergessen hatte. So wurde ich immer genannt, oder?«

«Chamäleon? Ja, sicher, und nicht ohne Grund. Sechs Leute hätten von Angesicht zu Angesicht mit unserem jungen Borowski zusammentreffen können, und sechs unterschiedliche Beschreibungen wären dabei rausgekommen. Ohne das geringste Make-up natürlich.«

«Es kommt alles wieder, Kaktus.«

«Ich bete zum Allmächtigen Gott, daß das nicht nötig ist, aber wenn schon, dann sieh zu, daß wirklich alles wiederkommt…«

Drei Stunden und zwanzig Minuten später war es geschafft. David Webb, Professor für Orientalistik und drei Jahre lang Jason Borowski, ein Killer, hatte zwei neue Identitäten.

Da keine Taxis zur Hütte von Kaktus kommen würden, fuhr ein arbeitsloser Nachbar, der mehrere schwere Goldketten um den Hals und die Handgelenke trug, den Klienten von Kaktus in seinem neuen Cadillac zurück ins Zentrum von Washington.

Jason fand eine Telefonzelle in einem Kaufhaus und rief Alex in Virginia an. Er gab ihm seine neuen Personalien durch und wählte einen seiner Namen für das Hotel Mayflower. Conklin wollte offiziell über das Management ein Zimmer bestellen, für den Fall, daß alles ausgebucht war. Außerdem würde Langley eine Four-Zero aktivieren und das Äußerste tun, um Borowski alles, was er brauchte, schnellstmöglich auf sein Zimmer zu liefern. Schätzungsweise würde man dafür drei Stunden benötigen, ohne Garantie. Egal, dachte Jason, als Alex sich diese

Information auf einer zweiten Leitung von der CIA bestätigen ließ, er brauchte mindestens zwei dieser drei Stunden, bevor er ins Hotel kommen würde. Er mußte sich eine kleine Garderobe zusammenstellen. Das Chamäleon mußte sich in einen neuen Typ verwandeln.

«Steve DeSole sagt mir, daß er die PCs heißlaufen läßt, um unsere Daten mit denen der Armee und des Marinegeheimdienstes zu vergleichen«, sagte Conklin, als er ans Telefon zurückkam.»Peter Holland macht es möglich. Er ist ein Kumpel vom Präsidenten.«

«Kumpel? Das hört sich aus deinem Mund komisch an. Wie geht es sonst? Fortschritte?«

Conklin machte eine Pause, und als er mit leiser Stimme antwortete, verbarg er seine Befürchtungen.»Sagen wir mal so… Ich bin auf das, was ich erfahren habe, nicht vorbereitet. Ich war zu lange draußen. Ich fürchte, Jason… entschuldige… David.«

«Das erste Mal war's richtig. Habt ihr diskutiert…«

«Keine Namen«, unterbrach der CIA-Agent a. D. entschieden.

«Ich verstehe.«

«Du konntest es nicht«, widersprach Alex.»Ich konnte es nicht. Wir hören voneinander. «Mit diesen rätselhaften Worten legte Conklin abrupt auf.

Langsam tat Borowski dasselbe und runzelte besorgt die Stirn. Das sah Alex überhaupt nicht ähnlich. Kontrolle war sein Motto und Understatement sein Element. Was immer er erfahren hatte, es hatte ihn zutiefst verwirrt… so sehr, daß es Borowski schien, er könnte sein Vertrauen verloren haben, zu allem, was er selbst entworfen hatte, zu den Personen, mit denen er arbeitete. Normalerweise drückte er sich klarer aus, ergiebiger. Statt dessen, aus Gründen, die Jason nicht ahnen konnte, wollte Alexander Conklin nicht über Medusa sprechen oder über das, was er sonst über zwanzig Jahre Betrug und Verrat erfahren hatte…

War das möglich?

Keine Zeit! Es hat keinen Zweck, nicht jetzt, dachte Borowski und schaute sich in dem riesigen Kaufhaus um. Alex war nicht nur genausoviel wert wie sein Wort, er lebte auch entsprechend — solange man nicht sein Feind war. Wehmütig, ein kurzes, kehliges Lachen unterdrückend, erinnerte sich Jason an Paris vor dreizehn Jahren. Diese Seite von Alex kannte er auch. Wären nicht die Grabsteine auf einem Friedhof in Rambouillet, einem Vorort von Paris, gewesen, hätte ihn sein engster Freund getötet. Aber das war lange vorbei. Conklin hatte gesagt, er werde von ihm hören. Und das würde er. Bis dahin mußte sich das Chamäleon mehrere Schutzschichten zulegen, von der Unterhose bis zum Jackett. Völlig neutral, ohne irgendein Abzeichen einer Wäscherei oder Reinigung, ohne den kleinsten Hinweis auf den Träger. Er hatte schon zuviel bezahlt! Wenn er für Davids Familie töten müßte oh, mein Gott! Für meine Familie! — , so weigerte er sich, mit den Konsequenzen eines oder mehrerer Morde zu leben. Wo er sich bewegen würde, gab es keine Regeln. David Webb würde sich dem heftig widersetzen, aber Jason Borowski pfiff darauf. Marie, ich werde ihn stoppen! Ich verspreche dir, ihn aus unserem Leben herauszureißen. Ich werde mir den Schakal vorknöpfen und einen toten Mann zurücklassen. Er wird niemals wieder in der Lage sein, dich anzurühren. Du wirst frei sein.

Oh, Jesus, wer bin ich? Mo, hilf mir! Nein, Mo, lieber nicht! Ich bin, was ich sein muß. Ich bin kalt und werde immer kälter. Bald werde ich Eis sein… klares, durchsichtiges Eis, Eis, so kalt und klar, daß es sich überall bewegen kann, ohne gesehen zu werden. Kannst du nicht verstehen, Mo — und du auch, Marie —, ich muß! David muß abtreten. Ich kann ihn nicht gebrauchen.

Vergib mir, Marie, und vergib mir, Doktor, aber ich denke an die Wahrheit. Eine Wahrheit, der ich jetzt ins Angesicht sehen muß. Ich bin kein Idiot, und ich betrüge mich auch nicht selbst. Ihr beide wollt, daß ich Jason Borowski aus meinem Leben vertreibe, ihn für immer ins Jenseits entlasse, aber ich muß jetzt das Gegenteil tun.

Als er seine Einkäufe erledigt und alles bar und bei möglichst verschiedenen Angestellten bezahlt hatte, suchte er sich eine Toilette, in der er sich umziehen konnte. Danach würde er durch die Straßen Washingtons gehen, bis er einen versteckten Kanaldeckel gefunden hatte. Das Chamäleon war wieder da.

Es war 7.35 Uhr am Abend, als Borowski die Rasierklinge hinlegte. Er hatte alle Etiketten von seinen neuen Kleidern entfernt. Er hängte alles in den Schrank außer den Hemden, die er im Bad unter Dampf setzte, um ihnen den nagelneuen Geruch zu nehmen. Er ging zum Tisch, wo der Zimmerservice eine Flasche Whisky, Sodawasser und Eiswürfel hingestellt hatte.

Als er am Telefon vorbeiging, hielt er inne. So gerne hätte er Marie angerufen, wußte aber, daß er es nicht konnte, nicht vom Hotelzimmer. Daß sie und die Kinder sicher angekommen waren, war alles, was zählte; und das waren sie. Er hatte John St. Jacques vom Kaufhaus aus erreicht.

«He, David, sie sind in Sicherheit! Sie mußten beinahe vier Stunden lang über der Insel kreisen, bevor das Wetter aufklarte. Ich wecke Marie, wenn du willst, aber nachdem sie Alison gefüttert hatte, war sie todmüde.«

«Laß mal, ich rufe später an. Sag ihr, daß es mir gutgeht, und sorge für sie, Johnny.«

«Machen wir, Junge. Nun sag mir: Bist du okay?«

«Ich sagte schon, es geht mir gut.«

«Schon, du kannst es sagen, und sie kann es sagen, aber Marie ist nicht nur meine einzige Schwester, sie ist auch meine Lieblingsschwester, und ich weiß, wann sie beunruhigt ist.«

«Deshalb sollst du dich gut um sie kümmern.«

«Ich werde mit ihr sprechen müssen.«

«Behutsam, Johnny.«

Einige Augenblicke lang war er wieder David Webb gewesen, überlegte Jason jetzt, als er sich einen Drink eingoß. Das gefiel ihm nicht. Eine Stunde später jedoch war Jason Borowski wieder da und hatte im Mayflower mit einem Angestellten über seine Reservierung gesprochen, und der Nachtportier wurde geholt.

«Oh, ja, Mr. Simon«, hatte ihn der Mann enthusiastisch begrüßt.»Wir haben mitbekommen, daß Sie hier sind, um gegen diese schrecklichen Steuerrestriktionen bezüglich Geschäftsreisen und Vergnügen zu wettern. Die Politiker werden uns noch allesamt ruinieren! Es gab keine Doppelzimmer mehr, deshalb haben wir uns die Freiheit genommen, Ihnen eine Suite zur Verfügung zu stellen, ohne zusätzliche Kosten natürlich.«

Das war vor über zwei Stunden gewesen, und seitdem hatte er Etiketten entfernt, die Hemden gedämpft und die gummibesohlten Schuhe auf der Fensterbank des Hotels abgerieben. Mit dem Drink in der Hand saß Borowski im Stuhl und stierte gegen die Wand. Es gab nichts zu tun, als zu warten und nachzudenken.

Ein leises Klopfen an der Tür beendete sein Warten. Jason durchquerte schnellen Schrittes den Raum, öffnete die Tür und ließ den Fahrer herein, der ihn am Flughafen abgeholt hatte. Er trug einen Diplomatenkoffer, den er Borowski überreichte.

«Ist alles drin, einschließlich einer Waffe und Munition.«

«Danke.«

«Wollen Sie es überprüfen?«

«Werde ich heute nacht machen.«

«Es ist kurz vor acht«, sagte der Agent.»Ihr Kontrollmann wird gegen elf dasein. Das wird Ihnen Zeit lassen, sich vorzubereiten.«

Der Mann ging, und Borowski trat zum Tisch, auf dem der Aktenkoffer lag. Er öffnete ihn, nahm zuerst die Automatic und die Munitionsschachtel heraus und griff dann nach einigen hundert Computerausdrucken, die in Ordner geheftet waren. Irgendwo auf diesen zahllosen Seiten stand ein Name, der einen Mann oder eine Frau mit Carlos, dem Schakal, in Verbindung brachte. Es waren Informationen über jeden der gegenwärtigen Gäste, einschließlich derjenigen, die das Hotel in den vergangenen vierundzwanzig Stunden verlassen hatten. Die Namen waren durch jedwede Information ergänzt worden, die man in den Datenbänken der CIA, der G-2 der Armee und des Marinegeheimdienstes gefunden hatte. Es konnte zahlreiche Gründe geben, weshalb das alles vollkommen nutzlos war, aber der Anfang war gemacht.

Sechshundert Kilometer weiter nördlich, in einer anderen Hotelsuite, und zwar im dritten Stock des Ritz-Carlton in Boston, klopfte es ebenfalls leise an einer Tür. Ein außerordentlich großer Mann, dessen gutgeschneiderter, gestreifter Anzug ihn noch größer als die ohnehin knapp zwei Meter erscheinen ließ, kam daraufhin aus dem Schlafzimmer gelaufen. Sein fast kahler Kopf — das wenige Haar war silberfarben und perfekt geschnitten — erinnerte an die gesalbte graue Eminenz eines Königshofes. Sein Adlerblick, die erhabene Prophetenstimme und sein entschiedenes Auftreten unterstützten noch den Eindruck eines mächtigen Mannes. Obwohl seine Hast in diesem Moment eine gewisse Ängstlichkeit und Verwundbarkeit verriet, wurde das Bild seiner Dominanz dadurch nicht gemindert. Er war bedeutend und mächtig, und er wußte es. All das stand im Gegensatz zu dem älteren Mann, den er jetzt ins Zimmer eintreten ließ. Kaum etwas war an diesem kleinen, mageren, ältlichen Besucher hervorstechend — er war das Abbild eines Verlierers.

«Komm rein. Schnell! Hast du die Information?«

«Oh, ja, ja, wirklich«, antwortete der Mann mit dem grauen Gesicht, dessen zerknitterter Anzug und schlecht sitzender Kragen auch schon bessere Tage gesehen hatten.»Du siehst großartig aus, Randolph«, fuhr er mit dünner Stimme fort und schaute sich seinen Gastgeber und die opulente Suite genauer an.»Und wie großartig du hier wohnst!«

«Bitte, was hast du erfahren?«Dr. Randolph Gates von der Harvard-Universität, Experte für Antitrust-Gesetze und hochbezahlter Berater zahlreicher Unternehmen, war ungeduldig.

«Laß mir doch einen Augenblick Zeit, alter Freund. Es ist schon so lange her, daß ich auch nur in der Nähe einer solchen Hotelsuite war, geschweige denn drin… Ach, wie sich die Dinge für uns geändert haben mit den Jahren. Ich habe häufig von dir gelesen oder dich im Fernsehen gesehen. Du bist so gelehrt, Randolph, das ist das Wort, aber es ist nicht ausreichend. Vielmehr, was ich vorher sagte, >großartig<, das bist du, großartig und gelehrt. So elegant und gebieterisch.«

«Du hättest in derselben Position sein können, das weißt du«, unterbrach ihn Gates.»Dummerweise hast du nach Abkürzungen gesucht, wo es keine gab.«»Oh, es gab eine Menge. Leider nur die verkehrten.«»Ich nehme an, daß es dir nicht besonders gutgeht…«»Du nimmst es nicht an, du weißt es, Randy. Sieh mich an, wenn dich deine Spione nicht schon informiert haben.«»Ich habe einfach versucht, dich zu finden.«»Ja, das hast du auch am Telefon gesagt. Und das haben mir verschiedene andere Leute gesagt, Leute, die Dinge gefragt wurden, die nichts mit meinem Wohnort zu tun hatten.«

«Ich mußte wissen, ob du befähigt bist. Das kannst du mir nicht verübeln.«

«Um Himmels willen, nein. Nicht in Anbetracht dessen, was ich tun sollte. Oder besser: was ich dachte, daß ich tun sollte.«

«Nur als ein vertraulicher Bote agieren, das ist alles. Du hast doch gewiß nichts gegen das Geld?«

«Dagegen?«sagte der Besucher mit einem hellen, wohltönenden Lachen.»Ich will dir was sagen, Randy. Du kannst mit dreißig oder fünfunddreißig aus dem Anwaltsstand ausgeschlossen werden und mit einem blauen Auge davonkommen, aber wenn du mit fünfzig ausgeschlossen wirst und dein Prozeß landesweite Publizität bekommt und mit einer Gefängnisstrafe endet, dann würdest du staunen, wie schnell deine Chancen sinken — selbst für einen Gelehrten. Du wirst zu einem Unberührbaren, und ich war niemals besonders gut darin, etwas anderes als meinen Verstand zu verkaufen.«

«Ich habe keine Zeit für Erinnerungen. Die Information bitte.«

«Oh, ja, natürlich… Gut. Zuerst wurde mir das Geld an der Ecke Commonwealth und Dartmouth ausgehändigt, und natürlich habe ich die Namen und besonderen Kennzeichen aufgeschrieben, die du mir telefonisch mitgeteilt hast…«

«Aufgeschrieben?«fragte Gates scharf.

«Und verbrannt, sobald ich sie im Kopf hatte — ein paar Sachen habe ich aus meinen Schwierigkeiten gelernt. Ich habe den Ingenieur in der Telefongesellschaft erreicht, der höchst erfreut war über deine Freigebigkeit, entschuldige, meine, und dann brachte ich seine Information zu dem widerstrebenden Privatdetektiv, ein fixer Bursche, wirklich, Randy, und — in Anbetracht seiner Methoden — jemand, der meine Talente sehr gut gebrauchen könnte.«

«Bitte«, unterbrach der bekannte Rechtsprofessor,»die Fakten, nicht deine Einschätzungen.«

«Einschätzungen enthalten oft dazugehörige Fakten, Professor. Das verstehst du doch.«

«Wenn ich einen Prozeß vorbereite, dann frage ich nach Meinungen. Nicht jetzt. Was fand der Mann heraus?«

«Zunächst ist da eine alleinstehende Frau mit Kindern — wie viele, ist nicht sicher. Das zweite ist der Wohnort. Den fand er heraus auf Grund der Daten, die ihm von einem unterbezahlten Mechaniker der Telefongesellschaft geliefert wurden: Die ersten Zahlen der Rufnummer sind ein Kode für das Land und den Ort. Der Bursche machte sich ohne Skrupel und mit unglaublichem Tempo an die Arbeit. Er war wirklich erstaunlich produktiv. Tatsächlich könnten wir, wenn ich es mit dem Rest meines Rechtsverständnisses betrachte, eine stillschweigende Partnerschaft eingehen.«

«Verdammt, was hat er erfahren?«

«Ja, wie ich sage, sein Tempo war so unglaublich, daß ich wirklich der Meinung bin, wir müßten ein bißchen über die Justierung meines wohlverdienten Honorars diskutieren.«

«Für wen, zum Teufel, hältst du dich eigentlich? Ich habe dir dreitausend Dollar geschickt! Fünfhundert für den Telefonmann und fünfzehnhundert für den elenden Schlüssellochgucker, der sich Privatdetektiv nennt…«

«Nur weil er nicht mehr auf der Gehaltsliste der Polizei steht, Randolph. Wie ich ist er in Ungnade gefallen, aber er leistet offenbar sehr gute Arbeit. Sollen wir verhandeln, oder soll ich gehen?«

Wütend starrte der glatzköpfige, gebieterische Rechtsprofessor den graugesichtigen, alten und entehrten Juristen an.»Wie kannst du es wagen?«

«Mein lieber Randy, glaubst du denn wirklich deiner Presse? Nun gut, ich werde dir sagen, warum ich es wage, mein arroganter alter Freund. Ich habe gelesen, habe gesehen, wie du deine esoterischen Interpretationen komplexer Gesetzestexte geäußert hast, wie du gegen jedes vernünftige Gesetz angegangen bist, das die Gerichtshöfe in diesem Land in den vergangenen dreißig Jahren erlassen haben. Dabei hast du nicht die leiseste Idee davon, was es heißt, arm oder hungrig zu sein oder ein Kind im Bauch zu haben, das man weder gewünscht hat, noch jemals versorgen kann. Du bist der Darling der Royalisten, mein nicht sehr tiefschürfender Freund, und du zwingst die Normalbürger, in einem Land zu leben, in dem wirkliche Individualität unerwünscht ist, in dem freies Denken durch Zensur eingeschränkt wird, in dem die Reichen immer reicher werden und in dem die Ärmsten unter uns sich von einem anständigen Leben von vornherein verabschieden können, sofern sie überleben wollen. Und du entwickelst diese wenig originellen, mittelalterlichen Konzepte nur, um dich selbst als brillanter Außenseiter der Katastrophe darzustellen. Willst du, daß ich fortfahre, Doktor Gates? Ich glaube wirklich, du hast dir den falschen Verlierer für deine dreckigen Geschäfte ausgesucht.«

«Wie kannst du es wagen?«wiederholte der Professor perplex und undeutlich. Er trat ans Fenster.»Das muß ich mir nicht anhören!«

«Nein, gewiß nicht, Randy. Aber als ich noch der juristischen Fakultät angehörte und du mein Schüler warst einer der besten, aber nicht der glänzendste —, mußtest du verdammt noch mal auch schon zuhören!«

«Also was?«schrie Gates und wandte sich vom Fenster ab.

«Es betrifft das, was du willst. Die Information, für die du mich unterbezahlt hast. Sie ist doch sehr wichtig für dich, nicht?«

«Ich muß sie haben. Ich habe bezahlt! Ich verlange…«

«Dann muß ich mehr Geld verlangen. Wer immer dich bezahlt, kann das verkraften.«

«Nicht einen Dollar!«

«Dann gehe ich.«

«Halt!.. Fünfhundert mehr, und dabei bleibt's.«

«Fünftausend. Oder ich gehe.«

«Lächerlich!«

«Dann sehen wir uns in zwanzig Jahren wieder.«

«Gut… gut, fünftausend.«

«Oh, Randy, du bist so durchsichtig. Deshalb bist du auch nicht wirklich glänzend, sondern nur einer, der sich in ein glänzendes Licht zu rücken versteht… Zehntausend, Dr. Gates, oder ich gehe in meine verräucherte Lieblingsbar.«

«Das kannst du nicht tun.«

«Natürlich kann ich. Ich bin jetzt ein vertraulicher Rechtsbeistand. Zehntausend Dollar. Wie möchtest du es bezahlen? Ich kann mir nicht vorstellen, daß du es bei dir hast…«

«Mein Ehrenwort…«

«Vergiß es, Randy.«

«Also gut. Ich werde es morgen früh zur Boston Five schicken. Auf deinen Namen. Einen Bankscheck.«

«Das ist sehr liebenswürdig von dir. Aber für den Fall, daß deine Vorgesetzten verhindern möchten, daß ich es abhole, sag ihnen doch bitte, daß eine unbekannte Person, ein alter Freund von mir, einen Brief bei sich hat, in dem jedes Detail dessen steht, was zwischen uns vor sich gegangen ist. Und der Brief ist an den Generalstaatsanwalt von Massachusetts gerichtet, als Einschreiben, nur für den Fall, daß ich einen Unfall habe.«

«Das ist absurd. Die Information bitte.«

«Na gut. Du wirst ja wohl wissen, daß du dich auf etwas eingelassen hast, was eine sehr empfindliche Regierungsangelegenheit zu sein scheint. Das ist der Ausgangspunkt… In der Annahme, daß jemand in einem dringenden Fall von einem Platz zum anderen das schnellste Transportmittel benutzt, fuhr unser gewiefter Detektiv zum

Flughafen Logan. In welcher Verkleidung, weiß ich nicht. Nichtsdestoweniger hat er die Unterlagen über jedes von Boston abgeflogene Flugzeug von gestern früh um 6.30 Uhr bis 22.00 Uhr abends erhalten. Wie du dich erinnerst, entspricht das deinen Angaben an mich — >Abfahrt mit der ersten Kiste am Morgenc.«»Und?«

«Geduld, Randolph. Du hast gesagt, ich solle nichts aufschreiben, also muß ich Schritt für Schritt vorgehen. Wo war ich stehengeblieben?«»Die Unterlagen.«

«Ach ja. Also, laut Detektiv Sleaze gab es elf unbegleitete Kinder, die für verschiedene Flüge gebucht waren, und acht Frauen, zwei von ihnen Nonnen, die Reservierungen mit Minderjährigen hatten. Von diesen acht, einschließlich der beiden Nonnen, die Waisenkinder nach Kalifornien brachten, wurden die restlichen sechs wie folgt identifiziert. «Der alte Mann griff in seine Tasche und zog ein maschinenbeschriebenes Stück Papier hervor.»Klar, daß ich das nicht geschrieben habe. Ich habe keine Schreibmaschine, weil ich nicht tippen kann. Es kommt von Sleaze.«

«Gib es mir!«befahl Gates und stürzte mit ausgestreckter Hand auf ihn zu.

«Gewiß«, sagte der Siebzigjährige und reichte das Papier seinem ehemaligen Schüler.»Es wird dir jedoch nichts nützen«, fügte er hinzu.»Unser Sleaze hat sie überprüft, mehr, um Stunden zu schinden, als für sonst etwas. Nicht nur sind sie vollständig sauber, sondern er hat diesen überflüssigen Service auch noch geleistet, als er die eigentliche Information schon herausgefunden hatte.«

«Was?«fragte Gates, wobei er vom Papier aufschaute.»Welche Information?«

«Die Information, die weder Sleaze noch ich irgendwo niederschreiben würden. Der erste Hinweis kam am frühen Morgen vom Setup-Beamten bei den Pan American Airlines. Er erwähnte unserem Detektiv gegenüber, daß er am Tag zuvor das Problem gehabt hätte, einem hochrangigen Politiker, oder so jemandem in der Preislage, Windeln zu besorgen, und das, als er um 5.45 Uhr gerade seinen Dienst begonnen hatte. Wußtest du, daß da Windeln in verschiedenen Größen vorhanden sind und in einem speziellen Flugbedarfsladen verkauft werden?«

«Was willst du mir eigentlich sagen?«

«Alle Läden am Flughafen waren geschlossen. Sie öffnen erst um sieben Uhr.«

«So?«

«Also hat irgend jemand in der Eile etwas vergessen. Eine Frau mit einem fünfjährigen Kind und einem Baby verließen Boston in einem Privatjet, der auf der Runway für den Pan-Am-Pendelverkehr abhob. Der Beamte besorgte die Windeln, und die Mutter bedankte sich persönlich. Verstehst du, es war ein junger Vater, er verstand etwas von Windelgrößen. Er brachte drei verschiedene Größen… «

«In Gottes Namen, wirst du endlich zum Punkt kommen, Richter?«

«Richter?«Die Augen des Mannes mit dem grauen Gesicht weiteten sich.»Dank dir, Randy. Außer von meinen Freunden in verschiedenen Gin-Mühlen bin ich seit Jahren nicht mehr so genannt worden. Es muß meine Aura sein.«

«Es war eine Erinnerung an die langweiligen Ausführungen, die du sowohl im Gerichtssaal als auch an der Uni machtest!«

«Ungeduld war immer deine schwache Seite. Ich schrieb es deinem Gelangweiltsein zu, dich mit Gesichtspunkten anderer Leute auseinanderzusetzen, die mit deinen Schlußfolgerungen nicht übereinstimmten… Egal, unser Sleaze hat dem Hasen sofort Salz auf den Schwanz gestreut und eilte zum Kontrolltower, wo er einen bestechlichen Fluglotsen fand, der gerade seinen Dienst beendete und der die Flüge am Tag zuvor gecheckt hatte. Der in Frage kommende Jet hatte einen

Computerausdruck mit Vier-Null, was, wie unser Kapitän Sleaze zu seinem Erstaunen erfuhr, höchste Geheimhaltungsstufe und Regierungssache bedeutet. Kein Schriftstück, kein Name von irgend jemandem an Bord, nur eine Routenangabe, um kommerziellen Flugzeugen auszuweichen, und ein Zielflughafen.«»Welcher hieß?«»Blackburne, Montserrat.«»Was, zum Teufel, ist das?«

«Der Flughafen von Blackburne auf der karibischen Insel Montserrat.«»Dahin flogen sie? Ist es das?«

«Nicht unbedingt. Wie Feldwebel Sleaze sagt, der, wie ich sagen muß, sich wirklich kundig gemacht hat, gibt es von dort Flugverbindungen zu einem Dutzend kleinerer Inseln.«»Das war's?«

«Das war's, Professor. Und in Anbetracht der Tatsache, daß das fragliche Flugzeug eine Vier-Null-Regierungsklassifizierung hatte, was ich nebenbei in meinem Brief an den General staatsanwalt vermerkt habe, denke ich, daß ich meine zehntausend Dollar wohl verdient habe.«»Du betrunkener Abschaum.«

«Wieder liegst du falsch, Randy«, unterbrach der Richter.»Alkoholiker, gewiß, aber kaum jemals betrunken. Ich bleibe immer am Rand zur Nüchternheit. Ist einer der Gründe für mein Überleben. Und es ist auch ein Grund, daß ich mich immer amüsiere — über Männer wie dich zum Beispiel.«

«Mach, daß du rauskommst«, sagte der Professor drohend.

«Du bietest mir nicht einmal einen Drink an, um meine schlechte Angewohnheit zu unterstützen? Lieber Himmel, da drüben muß es mindestes ein halbes Dutzend ungeöffneter Flaschen geben.«»Nimm dir eine und verschwinde.«»Danke, ich glaube, das tu ich. «Der alte Richter ging zu dem Kirschholztisch an der Wand, wo auf zwei Tabletts verschiedene Whisky- und eine Brandyflasche standen.»Mal sehen«, fuhr er fort, nahm ein paar Leinenservietten und wickelte sie um zwei

Flaschen und um eine dritte.»Wenn ich die unter den Arm klemme, sieht das wie ein Wäschebündel für den Schnelldienst aus.«

«Nun hau endlich ab!«

«Machst du mir bitte die Tür auf? Ich würde es verdammt bereuen, wenn ich eine fallen ließe.«

«Raus jetzt«, wiederholte Gates und öffnete dem Alten die Tür.

«Dank dir, Randy«, sagte der Richter, als er auf den Flur trat.»Und vergiß nicht den Bankscheck an die Boston Five morgen früh. Fünfzehntausend.«

«Fünfzehn…?«

«Ehrenwort, kannst du dir vorstellen, was der Generalstaatsanwalt sagen würde, wüßte er, daß du mich überhaupt empfangen hast? Wiedersehen, Herr Rechtsberater.«

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