Kapitel 29

Marie beobachtete, wie ihr Mann hin- und herwanderte, die Schritte überlegt, voll Energie. Wütend stampfte er zwischen dem Schreibtisch und den sonnenbeschienenen Vorhängen der beiden Fenster herum, die auf den Rasen vor der Auberge des Artistes in Barbizon hinausgingen. Es war ein Landgasthaus, an das sich Marie erinnern konnte, das aber in David Webbs Erinnerung ganz einfach nicht vorhanden war und als er ihr das sagte, schloß seine Frau für einen Moment lang die Augen und hörte eine andere Stimme, die sich vor Jahren an sie gewandt hatte:

«Vor allem muß er extremen Streß vermeiden, jede Art von Anspannung unter lebensbedrohlichen Umständen. Wenn du siehst, daß er in einen derartigen Geisteszustand gerät — und du wirst es merken, wenn du es siehst —, halt ihn auf. Verführe ihn, schlage ihn, fang an zu weinen, werde wütend… ganz egal, aber laß ihn da nicht reinrutschen. «Morris Panov, guter Freund, Arzt und so hilfreicher Therapeut meines Mannes.

Gleich nachdem sie allein waren, hatte sie versucht, ihn zu verführen. Es war ein Fehler gewesen, sogar etwas absurd, unangenehm für beide. Beide waren nicht auch nur im mindesten erregt gewesen. Dennoch war die Situation nicht wirklich peinlich geworden. Sie hatten auf dem Bett gelegen, sich in den Armen gehalten und verstanden.

«Wir sind echte Sexbolzen, was?«sagte Marie.

«Wir waren schon einmal hier«, erwiderte David Webb sanft,»und ich habe keinen Zweifel daran, daß wir noch ein weiteres Mal herkommen werden. «Dann rollte sich Jason Borowski zur Seite und stand auf.»Ich muß eine Liste machen«, sagte er drängend, als er zu dem malerischen Bauerntisch an der Wand hinüberging, der gleichzeitig als Schreib- und Telefontisch diente.»Wir müssen wissen, wo wir sind und wohin wir fahren.«

«Und ich muß Johnny auf Tranquility anrufen«, fügte Marie hinzu, als sie auf die Füße kam und ihr Kleid glattstrich.»Wenn ich mit ihm gesprochen habe, rede ich mit Jamie. Ich werde ihn beruhigen und ihm sagen, daß wir bald zurück sind. «Auch sie ging zum Tisch hinüber und blieb dann stehen, weil ihr Mann ihr den Weg versperrte — ihr Mann und doch nicht ihr Mann.

«Nein«, sagte Borowski leise und schüttelte den Kopf.

«Das sagst du nicht zu mir«, protestierte die Mutter, und in ihren Augen blitzte Wut auf.»Vor drei Stunden auf der Rue de Rivoli hat sich alles geändert. Nichts ist mehr, wie es vorher war. Verstehst du das nicht?«

«Natürlich, aber ich kann nicht zulassen, daß du jetzt dort anrufst«, antwortete Jason.

«Gehen Sie zum Teufel, Mr. Borowski!«

«Willst du mir nicht wenigstens zuhören. Du wirst mit Johnny und Jamie sprechen, wir werden beide mit ihnen sprechen, aber nicht von hier aus und nicht, solange sie auf der Insel sind.«

«Was…?«

«Ich rufe Alex an und sag ihm, daß er sie allesamt da rausholen soll, inklusive Mrs. Cooper natürlich.«

Marie hatte ihren Mann angestarrt und verstand plötzlich,»oh, mein Gott, Carlos!«

«Ja. Seit heute mittag hat er nur noch einen Ort, auf den er sich einschießen kann: Tranquility. Wenn er es noch nicht weiß, dann wird er es sicher bald erfahren, daß Jamie und Alison bei Johnny sind. Ich vertraue deinem Bruder und seiner persönlichen Schutztruppe, aber ich möchte trotzdem, daß sie bis zum Einbruch der Dunkelheit die Insel verlassen haben. Und ich weiß nicht, ob Carlos die Fernleitungen der Insel angezapft hat und so jeden Anruf zwischen hier und da zurückverfolgen kann, aber ich weiß genau, daß das Telefon von Alex sauber ist. Das ist der Grund, warum du jetzt nicht auf der Insel anrufen kannst.«

«Dann sprich um Himmels willen mit Alex! Worauf, zum Teufel, wartest du?«

«Ich bin nicht sicher. «Einen Moment lang lag ein leerer, panischer Blick in den Augen ihres Mannes, und es waren die Augen von David Webb, nicht die von Jason Borowski.»Ich muß eine Entscheidung treffen. Wohin schicke ich die Kinder?«

«Alex wird es wissen, Jason«, sagte Marie, und ihre Augen hielten seinem Blick stand.»Jetzt.«

«Ja… ja, natürlich. Jetzt. «Der verschleierte, geistesabwesende Blick verschwand, und Borowski griff zum Telefon.

Alexander Conklin war nicht in Vienna. Statt dessen hörte man die monotone Stimme einer Telefonistin, die wie ein Donnerschlag wirkte:»Kein Anschluß unter dieser Nummer.«

Er hatte die Nummer noch zweimal gewählt, im verzweifelten Glauben, daß die französische Telefongesellschaft einen Fehler gemacht hatte. Dann flammten Blitze auf.»Kein Anschluß unter dieser Nummer. «Zum dritten Mal.

Das Umherwandern hatte begonnen, vom Tisch zu den Fenstern und zurück. Wieder und immer wieder, die Vorhänge wurden beiseite gezogen, ängstliche Augen spähten hinaus, Sekunden später brütete er über einer wachsenden Liste von Namen und Orten. Marie schlug vor, etwas zu essen. Er hörte sie nicht, also beobachtete sie ihn schweigend von der anderen Seite des Zimmer aus.

Die schnellen, kraftvollen Bewegungen ihres Mannes waren die einer großen, beunruhigten Katze, weich, fließend, auf der Hut vor dem Unerwarteten, Es waren die Bewegungen Jason Borowskis, von Delta one, nicht die von David Webb. Sie erinnerte sich an die medizinischen Aufzeichnungen, die Mo

Panov zu Beginn von Davids Therapie gesammelt hatte. Viele waren voll wild divergierender Beschreibungen von Leuten, die behaupteten, sie hätten den Mann gesehen, der als das Chamäleon bekannt war, und unter den verläßlichsten von ihnen fand sich der übereinstimmende Hinweis auf die katzenartigen Bewegungen des Killers. Panov hatte damals nach Hinweisen auf Jasons Identität gesucht, denn alles, was sie anfangs hatten, waren ein Vorname und bruchstückhafte Bilder eines qualvollen Todes in Kambodscha. Mo hatte sich oft laut gefragt, ob mehr als pure Sportlichkeit hinter der physischen Gewandtheit seines Patienten stand. Seltsam genug, daß es nicht so war.

Daran dachte Marie, und sie war gleichermaßen fasziniert und abgestoßen von den physischen Unterschieden zwischen den zwei Personen, die ihr Mann war. Beide waren muskulös und anmutig, beide in der Lage, schwierige Aufgaben zu übernehmen, die physische Konzentration und Koordination verlangten, aber während Davids Kraft und Beweglichkeit ihren Ursprung in seinem natürlichen Sinn für Vollendung hatten, waren sie bei Jason angefüllt mit innerer Bosheit, ohne Freude an der Vollendung, nur feindselige Absichten. Als sie Panov darauf hingewiesen hatte, war seine Antwort lakonisch ausgefallen:»David könnte nicht töten. Borowski kann es. Dazu ist er ausgebildet.«

Dennoch war Mo froh gewesen, daß sie den unterschiedlichen» physischen Ausdruck«, wie er ihre Beobachtung nannte, bemerkt hatte.»Das ist ein weiterer Wegweiser für dich. Wenn du Borowski siehst, hol, so schnell du kannst, David wieder zurück. Wenn du es nicht kannst, ruf mich an.«

Sie konnte David jetzt nicht rufen, dachte sie. Um der Kinder, ihrer selbst und Davids willen wagte sie nicht, es zu versuchen.

«Ich geh etwas nach draußen«, verkündete Jason am Fenster.

«Das kannst du nicht!«rief Marie.»Ich bitte dich inständig, laß mich nicht allein.«

Borowski legte die Stirn in Falten, sprach mit leiser Stimme, irgendein unbestimmter Konflikt in seinem Inneren.»Ich fahr nur raus zur Autobahn, um ein Telefon zu suchen, das ist alles.«

«Nimm mich mit. Bitte. Ich kann nicht länger allein bleiben.«

«Also gut… Wir brauchen sowieso einiges. Wir suchen eins von diesen Einkaufszentren und kaufen uns ein paar Sachen zum Anziehen, Zahnbürsten, einen Rasierer… und was uns sonst noch einfällt.«

«Du meinst, wir können nicht nach Paris zurück.«

«Wir können und wir werden wahrscheinlich nach Paris zurückfahren, aber nicht zu unseren Hotels. Hast du deinen Paß?«

«Paß, Geld, Kreditkarten, alles. War alles in meiner Handtasche, von der ich gar nicht wußte, daß ich sie bei mir hatte, bis du sie mir im Wagen gegeben hast.«

«Ich fand, es wäre keine sehr gute Idee gewesen, sie im Meurice zurückzulassen. Komm. Erst ein Telefon.«

«Wen rufst du an?«

«Alex.«

«Das hast du gerade versucht.«

«In seinem Appartement. Er muß aus seinem Sicherheitsbereich in Virginia rausgeflogen sein. Mo Panov erreich ich auf jeden Fall. Gehen wir.«

Sie fuhren wieder nach Süden in die kleine Stadt Corbeil-Essonnes, wo es einige Kilometer westlich von der Autobahn ein großes, neues Einkaufszentrum gab — ein Fluch für die französische Landschaft, aber ein willkommener Anblick für die Flüchtenden. Jason parkte den Wagen, und wie alle Eheleute, die spätnachmittags zum Einkaufen gingen, spazierten sie durch die Haupthalle, wobei sie verzweifelt nach einem öffentlichen Telefon Ausschau hielten.

«Verflucht, an der Autobahn war schon keins!«sagte Borowski durch zusammengebissene Zähne hindurch.»Was meinen die eigentlich, was die Leute tun sollen, wenn sie einen Unfall oder eine Panne haben?«

«Auf die Polizei warten«, antwortete Marie.»Und außerdem gab es ein Telefon, nur war es kaputt. Da, da ist eins.«

Wieder unterwarf sich Jason der ärgerlichen Prozedur mit der Telefonistin, die keine rechte Lust hatte, ihn nach Übersee durchzustellen. Wieder Fehlanzeige, auch unter Alex' alter Privatnummer.

«Hier spricht Alex«, sagte die aufgezeichnete Stimme in der Leitung.»Ich werde eine Weile weg sein und einen Ort aufsuchen, wo in Grabesstille ein schwerer Fehler begangen wurde. Ruf mich in fünf oder sechs Stunden an. Jetzt ist es neun Uhr dreißig morgens, Eastern Standard Time. Out, Juneau.«

Verblüfft, mit rasenden Gedanken im Kopf, legte Borowski den Hörer auf und starrte Marie an.»Irgendwas ist passiert, und ich muß rausfinden, was dahintersteckt. Seine letzten Worte sind: Out, Juneau.«

«Juneau?«Marie blinzelte, ihre Lider sperrten das Licht aus ihrem Kopf aus, dann öffnete sie die Augen und sah ihren Mann an.»Alpha, Bravo, Charlie«, begann sie leise und fügte hinzu:»Alternierende Militäralphabete?«Dann sagte sie eilig:»Foxtrott, Gold… India, Juneau! Juneau steht für J, und J steht für Jason!.. Wie war der Rest?«

«Er ist irgendwohin gefahren…«

«Komm, laß uns gehen«, unterbrach sie ihn, als sie die neugierigen Gesichter zweier Männer bemerkte, die darauf warteten, das Telefon benutzen zu können. Sie packte ihn beim Arm und zog ihn von der Zelle weg.»Nichts Deutlicheres?«fragte sie, als sie sich in den Strom der Menge einfügten.

«Es war eine Aufzeichnung:… wo in Grabesstille ein schwerer Fehler begangen wurde.«

«Was?«

«Er sagte, ich solle in fünf oder sechs Stunden wieder anrufen, er wolle einen Ort besuchen, wo in Grabesstille Gräber? — , mein Gott, es ist Rambouillet!«

«Der Friedhof…?«

«Wo er vor dreizehn Jahren versucht hat, mich umzubringen. Das ist es! Rambouillet!«

«Nicht in fünf oder sechs Stunden«, hielt Marie dagegen.»Egal, wann er die Botschaft hinterlassen hat: Er kann nicht in fünf Stunden nach Paris fliegen und dann nach Rambouillet fahren. Er war in Washington.«

«Natürlich kann er. Das haben wir beide schon gemacht. Von der Andrews Air Force Base aus, unter diplomatischem Schutz. Peter Holland hat ihn rausgeworfen, aber er hat ihm ein Abschiedsgeschenk gemacht. Sofortige Trennung, aber einen Bonus dafür, daß er ihm Medusa gebracht hat. «Plötzlich riß Borowski das Handgelenk hoch und sah auf seine Uhr.»Auf den Inseln ist es gerade erst Mittag. Laß uns ein anderes Telefon suchen.«

«Johnny? Tranquility? Du denkst wirklich…«

«Ich kann nicht aufhören zu denken!«unterbrach Jason sie, hetzte voran und hielt Marie an der Hand, während sie stolpernd mit ihm Schritt hielt.»Eis«, sagte er und warf einen Blick nach rechts.

«Eiskrem?«

«Da drinnen ist ein Telefon, da drüben«, antwortete er, wurde langsamer und näherte sich den riesigen Fenstern einer Patisserie, die eine große Fahne über der Tür hatte, die eine Eistheke mit mehreren Dutzend Geschmacksrichtungen versprach.»Bring mir Vanille mit«, sagte er, als er sie beide in den überfüllten Laden schob.

«Vanille womit?«

«Irgendwas.«

«Du wirst nichts hören können…«

«Er wird mich hören können, das ist alles, was zählt. Laß dir Zeit, gib mir Zeit. «Borowski ging zum Telefon hinüber und verstand im gleichen Augenblick, warum es nicht besetzt war. Der Lärm im Laden war fast unerträglich.

«Mademoiselle, s'il vous plit, c'est urgent!« Drei Minuten später, die Handfläche gegen sein linkes Ohr gepreßt, hatte Jason das unerwartete Vergnügen, den lästigsten Angestellten des Tranquility Inn am Apparat zu haben.

«Hier spricht Mr. Pritchard, stellvertretender Manager des Tranquility Inn. Meine Telefonzentrale hat mich darüber in Kenntnis gesetzt, daß Sie einen Notfall haben, Sir. Darf ich mich nach dem Gegenstand Ihres…«

«Sie können den Mund halten!«rief Jason aus dem lärmenden Eiscafe in Corbeil-Essonnes in Frankreich.»Holen Sie John St. Jacques ans Telefon, sofort. Hier ist sein Schwager.«

«Oh, was für eine Freude, von Ihnen zu hören, Sir! Soviel ist passiert, seit Sie uns verlassen haben. Ihre lieben Kinder sind bei uns, und der hübsche Junge spielt am Strand — mit mir, Sir —, und alles ist…«

«Mr. St. Jacques, bitte. Sofort!«

«Natürlich, Sir. Er ist oben…«

«Johnny?«

«David, wo bist du?«

«Das ist jetzt egal. Verschwindet von da, wo ihr seid. Nimm die Kinder und Mrs. Cooper und hau ab!«

«Wir wissen Bescheid, Dave. Alex Conklin hat vor ein paar Stunden angerufen und gesagt, jemand namens Holland würde Kontakt aufnehmen… Ich schätze, er ist der Oberguru von eurem Nachrichtendienst.«

«Das ist er. Hat er?«

«Ja, ungefähr zwanzig Minuten nachdem ich mit Alex gesprochen hatte. Er sagte, wir würden gegen zwei Uhr heute nachmittag mit einem Hubschrauber ausgeflogen. Er braucht die Zeit, um die Fluggenehmigung für eine Militärmaschine zu bekommen. Mrs. Cooper war meine Idee. Dein zurückgebliebener Sohn sagt, er weiß nicht, wie Windeln gewechselt werden, mein Lieber… David, was ist denn bloß los? Wo ist Marie?«

«Es geht ihr gut. Ich werde dir später alles erklären. Tu, was Holland sagt. Hat er gesagt, wohin ihr gebracht werdet?«

«Das wollte er absolut nicht. Aber kein Scheiß-Amerikaner kommandiert mich und deine Kinder rum — die kanadischen Kinder meiner Schwester —, und das hab ich ihm auch gesagt…«

«So ist's recht, Johnny. Freunde dich ruhig mit dem Chef der CIA an.«

«Darauf kann ich scheißen. Bei uns glaubt man, die Abkürzung steht für Chaoten in Aktion. Hab ich ihm auch gesagt!«

«Das wird ja immer besser… Was hat er geantwortet?«

«Er hat gesagt, wir werden in ein sicheres Haus in Virginia gebracht, und ich hab gesagt, meins hier unten ist auch verdammt sicher, und wir haben ein Restaurant und Zimmerservice und einen Strand und zehn Wachen, die ihm auf zweihundert Meter die Eier abschießen können.«

«Du bist äußerst taktvoll. Und dann?«

«Ehrlich gesagt, er hat gelacht. Dann hat er erklärt, daß sein Laden zwanzig Wachen hat, die mir meinen Sack auf vierhundert Meter abschießen können, dazu gibt es eine Küche und sonst noch allerlei Dinge, mit denen ich wahrscheinlich nicht mithalten könne.«

«Das ist ziemlich überzeugend.«

«Und dann ist da etwas, womit ich wirklich nicht mithalten kann. Er hat gesagt, niemand habe Zutritt zu diesem Haus und daß es ein altes Anwesen in Fairfax ist, das ein reicher Botschafter der Regierung überschrieben hat, der mehr Geld besitzt als ganz Ottawa, mit eigener Flugzeuglandebahn und einer Zufahrt, die vier Meilen vom Highway bis zum Haus führt.«

«Ich kenne das Haus«, sagte Borowski.»Der TannenbaumLandsitz. Er hat recht.«

«Ich hab dich eben schon gefragt, wo ist Marie?«

«Sie ist bei mir.«

«Sie hat dich gefunden!«

«Später, Johnny. Ich rufe dich in Fairfax an. «Jason legte auf, als sich seine Frau etwas unbeholfen ihren Weg durch die Menge bahnte und ihm einen rosafarbenen Plastikbecher mit einem blauen Plastiklöffel gab, der in einem dunkelbraunen Klumpen steckte.

«Was ist mit den Kindern?«fragte sie mit erhobener Stimme.

«Alles in Ordnung, besser, als wir es erwarten konnten. Alex ist zum selben Schluß über den Schakal gekommen wie ich. Peter Holland fliegt sie allesamt zu einem sicheren Haus in Virginia, Mrs. Cooper eingeschlossen.«

«Gott sei Dank!«

«Alex sei Dank. «Borowski betrachtete den rosafarbenen Plastikbecher mit dem dünnen, blauen Löffel.»Was ist das denn bloß? Gab's kein Vanille?«

«Das ist ein Eisbecher mit Sirup, der eigentlich für den Mann neben mir gedacht war. Er hat seine Frau aber derart angeschrien, daß ich ihn genommen habe.«

«Ich mag keinen Sirup.«

«Dann schrei deine Frau doch auch an. Komm schon, wir müssen was zum Anziehen kaufen.«

Die frühe, karibische Nachmittagssonne brannte herab auf Tranquility Island, als John St. Jacques die Treppe zur Lobby hinunterging, in der rechten Hand eine Sporttasche. Er nickte Mr. Pritchard zu, mit dem er eben erst telefoniert und ihm erklärt hatte, daß er für einige Tage verreisen und sich wieder bei ihm melden würde, sobald er in Toronto sei. Die letzten verbliebenen Angestellten waren von seiner plötzlichen, äußerst dringenden Abreise unterrichtet worden, und er setzte volles Vertrauen in Mr. Pritchard. Faktisch wurde das Tranquility Inn vorübergehend geschlossen. Allerdings sollte man sich im Falle von Schwierigkeiten mit Sir Henry Sykes auf der großen Insel in Verbindung setzen.

«Es wird nichts geschehen, was meine Sachkenntnis überfordert!«hatte Pritchard erwidert.»Die Reparatur- und Wartungsleute werden während ihrer Abwesenheit genauso hart arbeiten wie sonst.«

St. Jacques ging durch die Glastüren des Rundbaus zur ersten Villa auf der Rechten, die der Steintreppe zum Pier und den beiden Stranden am nächsten gelegen war. Drinnen warteten Mrs. Cooper und die zwei Kinder auf die Ankunft des seetüchtigen Langstreckenhelikopters der United States Navy, der sie nach Puerto Rico bringen sollte, wo sie einen Militärjet zur Andrews Air Force Base außerhalb von Washington besteigen würden.

Durch die großen Scheiben beobachtete Mr. Pritchard, wie sein Arbeitgeber hinter der Tür von Villa eins verschwand. Im gleichen Moment hörte er das anschwellende Donnern der Rotoren eines großen Hubschraubers. Minuten später würde er über dem Wasser hinter dem Pier kreisen, herunterkommen und auf seine Passagiere warten.

Offensichtlich hatten diese Passagiere gehört, was auch er gehört hatte, dachte Mr. Pritchard, als er sah, wie St. Jacques, der nach der Hand seines jungen Neffen griff, und die unerträglich arrogante Mrs. Cooper, die ein in Decken gewickeltes Kind in ihren Armen hielt, aus dem Haus gelaufen kamen, gefolgt von zwei ihrer bevorzugten Wachen, die das Gepäck trugen. Pritchard langte unter den Tresen nach dem Apparat, mit dem man die Telefonzentrale umgehen konnte. Er wählte.

«Hier ist das Büro des stellvertretenden Direktors der Einwanderungsbehörde, selbst am Apparat.«

«Hochgeschätzter Onkel…«

«Bist du es?«unterbrach der Beamte des Flughafens von Blackburne, um dann mit gedämpfter Stimme zu fragen:»Was hast du herausgefunden?«

«Informationen von unschätzbarem Wert, das versichere ich dir. Ich habe alles mitgehört!«

«Man wird uns beide großzügig entlohnen, das weiß ich von höchster Stelle. Möglicherweise sind es Terroristen, weißt du, und St. Jacques selbst ist ihr Anführer. Könnte sein, daß sie sogar Washington zum Narren halten. Was kann ich melden, vortrefflicher Neffe?«

«Man bringt sie in ein, wie sie sagen, sicheres Haus in Virginia, bekannt als der Tannenbaum-Landsitz. Es hat seinen eigenen Flugplatz, kannst du so was glauben?«

«Ich glaube alles, was mit diesen Leuten zusammenhängt.«

«Denk daran, meinen Namen und meine Stellung zu erwähnen, hochgeschätzter Onkel.«

«Wie könnte ich das vergessen!? Wir werden die Helden von Montserrat sein!.. Aber, mein intelligenter Neffe, alles muß äußerst geheim bleiben. Wir sind zum Schweigen verpflichtet, vergiß das nie. Denk nur! Wir sind erwählt, einer großen, internationalen Organisation zu Diensten zu sein. Auf der ganzen Welt werden große Männer von unserem Beitrag erfahren.«

«Mein Herz platzt vor Stolz… Darf ich fragen, wie diese erhabene Organisation heißt?«

«Ruhig! Sie hat keinen Namen, das ist Teil der Geheimhaltung. Das Geld wurde per Bankcomputer direkt aus der Schweiz überwiesen, das ist der Beweis.«

«Ein heiliges Kartell«, fügte Mr. Pritchard hinzu.

«Das außerdem gut bezahlt, getreuer Neffe, und das ist erst der Anfang. Ich selbst überwache sämtliche Flugzeuge, die hier eintreffen, und schicke die Passagierlisten weiter nach Martinique, an einen berühmten Chirurgen. Im Moment sind allerdings alle Flüge auf Eis gelegt, auf Befehl der Regierung.«

«Der amerikanische Militärhubschrauber?«fragte der eingeschüchterte Pritchard.

«Ruhig! Auch das ist geheim, alles ist geheim.«

«Dann ist es ein ziemlich lautes und offensichtliches Geheimnis, mein hochgeschätzter Onkel. Die Leute stehen gerade am Strand und sehen es sich an.«

«Was?«

«Der Hubschrauber, er ist hier. Mr. St. Jacques und die Kinder steigen gerade ein. Außerdem diese entsetzliche Mrs. Cooper…«

«Ich muß sofort Paris anrufen«, ging der Beamte der Einwanderungsbehörde dazwischen und unterbrach die Leitung.

«Paris?«wiederholte Mr. Pritchard.»Wie anregend! In was für Kreisen wir uns doch bewegen!«

«Ich habe ihm nicht alles erzählt«, sagte Peter Holland leise und schüttelte den Kopf, während er sprach.»Ich wollte es — ich hatte es vor —, aber da war etwas in seinen Augen, sogar in seinen Worten. Er sagte, er würde es uns im nächsten Augenblick versauen, wenn es Borowski und seiner Frau helfen könnte.«

«Das würde er tatsächlich. «Charles Casset nickte. Er saß im Sessel vor dem Direktorenschreibtisch, den Computerausdruck einer längst abgelegten Geheimakte in der Hand.»Wenn Sie das hier lesen, werden Sie es verstehen. Alex hat vor Jahren in Paris tatsächlich versucht, Borowski zu töten, seinen engsten Freund.«

«Conklin ist gerade auf dem Weg nach Paris. Er und Morris Panov.«

«Das geht auf Ihre Kappe, Peter. Ich hätte ihn nicht weggelassen, nicht ohne ihn an der Leine zu haben.«»Ich konnte es ihm nicht abschlagen.«»Natürlich konnten Sie. Sie wollten es nicht.«»Wir sind ihm etwas schuldig. Er hat uns auf die Spur von Medusa gebracht, und von jetzt an, Charlie, ist das alles, was uns interessiert.«

«Ich verstehe, Direktor Holland«, sagte Casset kalt.»Und ich nehme an, daß wir uns aufgrund ausländischer Verwicklungen in die einheimische Verschwörung hineinarbeiten können, für die wir allerdings absolut wasserdichte Beweise in Händen halten sollten, bevor wir die Hüter unserer heimatlichen Harmonie, das Federal Bureau, alarmieren.«

«Drohen Sie mir etwa?«

«Allerdings, Peter. «Casset nahm den eisigen Ausdruck von seinem Gesicht, ersetzte ihn durch ein ruhiges, dünnes Lächeln.»Sie brechen das Gesetz, Herr Direktor…«

«Was wollen Sie von mir?«rief Holland.

«Schützen Sie einen der Ihren, einen der Besten, die wir jemals hatten. Ich möchte das nicht nur, ich bestehe darauf.«

«Wenn Sie glauben, ich würde ihm alles geben, auch den Namen der Anwaltskanzlei an der Wall Street, dann sind Sie vollkommen übergeschnappt. Das ist unser Grundpfeiler!«

«Um Himmels willen, gehen Sie zurück zur Navy, Admiral«, sagte der stellvertretende Direktor, die Stimme ruhig, wieder kalt, ohne besondere Betonung.»Wenn Sie glauben, daß ich

Ihnen das vorschlagen wollte, dann haben Sie in diesem Sessel nicht viel gelernt.«

«He, kommen Sie, Schlaumeier, ich bin immer noch Ihr Vorgesetzter.«

«Schon gut, aber wir sind hier nicht bei der Navy. Sie können mich nicht einfach kielholen lassen oder meine Rumration einbehalten. Sie können mich nur feuern, und wenn Sie das tun, werden sich eine Menge Leute fragen, warum — was unserer Behörde nicht gerade guttun dürfte.«

«Wovon reden Sie, Charlie?«

«Nun, um einen Anfang zu machen: Ich rede nicht von dieser Anwaltskanzlei in New York, denn Sie haben recht, das ist unser Grundpfeiler, und Alex würde mit seiner unendlichen Vorstellungsgabe alles in Gefahr bringen und bis zu dem Punkt untersuchen, wo der Reißwolf einsetzt…«»Ganz meine Meinung…«»Dann haben Sie recht«, unterbrach Casset und nickte.

«Also halten wir Alex von unserem Grundpfeiler fern, so weit wie möglich, aber wir geben ihm unser Zeichen. Irgendwas, wo er sich reinhängen kann, dessen Wert er erkennt.«

Schweigen. Dann sprach Holland.»Ich verstehe kein Wort von dem, was Sie sagen.«

«Das täten Sie, wenn Sie Conklin besser kennen würden. Er weiß, daß es eine Verbindung zwischen Medusa und dem Schakal gibt. Wie haben Sie das genannt? Eine Art Selbstläufer?«

«Ich habe gesagt, daß die Strategie so perfekt war, so unumgänglich, daß sie sich verselbständigt hat. DeSole war der Katalysator, der alles vor der Zeit in Bewegung gebracht hat, sich selbst und alles, was da unten in Montserrat passiert sein mag. Was meinen Sie mit dem Zeichen, von dem Sie da reden?«

«Die Leine, Peter. Sie können Alex mit all seinem Wissen ebensowenig wie eine wildgewordene Kanone in Europa rumspringen lassen, wie Sie ihm den Namen des Anwaltsbüros in New York geben können. Wir brauchen einen geheimen Draht zu ihm, damit wir eine Ahnung davon haben, was er vorhat — mehr als eine Ahnung, wenn möglich. Jemanden wie seinen Freund Bernardine, aber jemanden, der auch unser Freund sein kann.«

«Und wo und wie finden wir den?«

«Ich habe da einen Kandidaten… Ich hoffe, hier hört niemand mit?«

«Verlassen Sie sich drauf«, sagte Holland etwas ärgerlich.»Dieses Büro wird jeden Morgen abgesucht. Wer ist der Kandidat?«

«Ein Mann in der sowjetischen Botschaft in Paris«, erwiderte Casset ruhig.»Ich glaube, mit dem können wir arbeiten.«

«Ein Maulwurf?«

«Kein Gedanke. Ein KGB-Offizier, dessen erste Priorität sich niemals ändert. Finde Carlos. Töte Carlos. Schütze Nowgorod.«

«Nowgorod…? Wo der Schakal ursprünglich ausgebildet wurde?«

«Halb ausgebildet und dann geflüchtet, bevor man ihn als Wahnsinnigen erschießen konnte. Aber da ist nicht nur ein amerikanisches Lager — das sollten wir langsam wissen. Da gibt es auch ein britisches und französisches, ein israelisches, deutsches, spanisches und Gott weiß wie viele andere noch. Dutzende von Quadratmeilen, die aus den Wäldern am Wolchow herausgeschlagen worden sind, voller Siedlungen, in denen man schwören könnte, man wäre in einem anderen Teil dieser Welt. Nowgorod ist eines der von Moskau bestgehüteten Geheimnisse. Die suchen den Schakal genauso dringend, wie Jason Borowski es tut.«

«Und Sie glauben, dieser Bursche vom KGB würde mit uns kooperieren und über Conklin informieren, wenn sie Kontakt mit ihm aufnehmen?«

«Ich kann es versuchen. Schließlich haben wir ein gemeinsames Ziel, und ich weiß, daß Alex ihn akzeptieren würde, weil ihm klar ist, wie sehr die Sowjets Carlos auf der Verlustliste fuhren möchten.«

Holland lehnte sich in seinem Sessel vor.»Ich habe Conklin gesagt, ich würde ihm in jeder Hinsicht weiterhelfen, solange unsere Jagd auf Medusa dadurch nicht gefährdet würde… Innerhalb der nächsten Stunde wird er in Paris landen. Soll ich am Diplomatenschalter hinterlegen lassen, daß er sich mit Ihnen in Verbindung setzt?«

«Sagen Sie ihm, er soll Charlie Bravo Plus One anrufen«, sagte Casset im Aufstehen und ließ den Computerausdruck auf den Schreibtisch fallen.»Ich weiß nicht, wieviel ich ihm bereits in einer Stunde sagen kann, aber ich werde mich an die Arbeit machen. Ich habe einen abgesicherten Kanal zu unserem Russen, dank einer unserer außergewöhnlichen >Beraterinnen< in Paris.«

«Geben Sie ihr einen Bonus.«

«Darum hat sie schon gebeten — mich damit belästigt, ist das passendere Wort. Sie betreibt die sauberste und exklusivste Hostessenagentur in der Stadt.«

«Warum engagieren Sie nicht alle?«fragte der Direktor lächelnd.

«Ich glaube, sieben von ihnen stehen schon auf unserer Lohnliste, Sir«, antwortete der stellvertretende Direktor mit ernsthafter Miene, die im Gegensatz zu seinen hochgezogenen Augenbrauen stand.

Dr. Morris Panov war etwas wacklig auf den Beinen, und ein strammer Marinecorporal in gestärkten Sommerkhaki s, der seinen Koffer trug, half ihm die Metallstufen des Diplomatenjets herunter.

«Wie schafft ihr es nur, nach so einem entsetzlichen Flug noch so gepflegt auszusehen?«fragte der Psychiater.

«Nach zwei Stunden Paris sieht keiner von uns mehr so gepflegt aus, Sir.«

«Manche Dinge ändern sich nie, Corporal. Gott sei Dank… Wo ist dieser verkrüppelte Delinquent, der eben noch bei mir war?«

«Er ist unterwegs, um ein Diplograph in Empfang zu nehmen, Sir.«

«Bitte wie? Was ist das nun wieder?«

«So schwierig ist es nicht, Doktor«, lachte der Marinesoldat und führte Panov zu einem motorgetriebenen Karren, komplett mit uniformiertem Fahrer und einer aufgemalten amerikanischen Flagge an der Seite.»Während unseres Landeanflugs hat der Tower dem Piloten über Funk mitgeteilt, daß eine wichtige Nachricht für ihn hinterlegt worden sei.«

«Ich dachte, er müßte mal aus der Hose.«

«Ich glaube, das muß er außerdem, Sir. «Der Corporal legte den Koffer hinten auf einen Gepäckträger und half Mo in den Karren.»Langsam, Doktor, heben Sie Ihr Bein noch ein bißchen an.«

«Das bin nicht ich«, protestierte der Psychiater. »Er ist der Mann ohne Fuß.«

«Man hat uns gesagt, Sie seien krank gewesen, Sir.«

«Nicht an meinen gottverfluchten Beinen… Tut mir leid, nichts für ungut. Ich mag einfach nicht in kleinen Röhren hundertzehn Meilen hoch am Himmel langfliegen. Aus der Tremont Avenue in den Bronx kommen nur sehr wenige Astronauten.«

«He, Sie machen Witze, Doc!«

«Was?«

«Ich bin aus der Garden Street, wissen Sie, gegenüber vom Zoo! Mein Name ist Fleishman, Morris Fleishman. Schön, mal wieder jemanden aus den Bronx zu treffen.«

«Morris?«fragte Panov und gab ihm die Hand.»Morris von den Marines? Ich hätte mit Ihren Eltern ein paar Worte wechseln sollen… Alles Gute für Sie, Mo. Und danke für Ihre Anteilnahme.«

«Kommen Sie wieder richtig auf die Beine, Doc, und wenn Sie die Tremont Avenue wiedersehen, bestellen Sie ihr Grüße von mir, okay?«

«Das tu ich bestimmt, Morris«, erwiderte Morris und hob seine Hand, als der Diplomatenkarren sich in Gang setzte.

Vier Minuten später betrat Panov, eskortiert von seinem Fahrer, einen langen, grauen Korridor, den von Formalitäten befreiten Zugang nach Frankreich für Regierungsfunktionäre aus Staaten, die beim Quai d'Orsay akkreditiert waren. Sie kamen in eine große Wartehalle, in der Männer und Frauen in kleinen Gruppen zusammenstanden und sich leise unterhielten. Klänge verschiedener Sprachen erfüllten den Raum. Beunruhigt registrierte Mo, daß Conklin nirgends zu sehen war. Er wollte sich gerade seinen! Fahrer zuwenden, als sich ihm eine junge Frau in neutraler Uniform näherte.

«Docteur?« fragte sie mit Blick auf Panov.

«Ja«, erwiderte Mo überrascht.»Aber ich fürchte, mein Französisch ist, sofern überhaupt vorhanden, ziemlich schrecklich.«

«Das ist unerheblich, Sir. Ihr Begleiter läßt ausrichten, Sie möchten hier warten, bis er zurückkommt. Es wird nicht länger als ein paar Minuten dauern, dessen war er ziemlich sicher… Setzen Sie sich doch. Darf ich Ihnen einen Drink bringen?«

«Bourbon auf Eis, wenn Sie so nett wären«, antwortete Panov und ließ sich in einen Lehnsessel sinken.

«Natürlich, Sir. «Die Frau entfernte sich, als der Fahrer Mos Koffer neben ihm abstellte.»Ich muß zurück zu meinem Fahrzeug«, sagte er.»Ich denke, hier sind Sie versorgt.«

«Ich frage mich, wohin mein Freund gegangen ist«, sagte Panov mit einem nachdenklichen Blick auf seine Uhr.

«Wahrscheinlich zu einem Telefon, Doktor. Fast alle, die hier landen, bekommen irgendeine Nachricht an irgendeinem Schalter, und dann rennen sie wie verrückt, um ein öffentliches Telefon zu finden. Die Russen sind die schnellsten, die Araber die langsamsten.«

«Muß wohl am Klima liegen«, bemerkte der Psychiater lächelnd.»Verwetten Sie nicht Ihr Stethoskop darauf. «Der Fahrer lachte und hob seine Hand zu einem formlosen Gruß.»Passen Sie auf sich auf, Sir, und gönnen Sie sich ein bißchen Ruhe. Sie sehen müde aus.«

«Danke, junger Mann. Auf Wiedersehen. «Ich bin müde, dachte Panov, als der Begleitschutz im grauen Korridor verschwand. So müde, aber Alex hatte recht. Wenn er allein hergeflogen wäre, hätte ich es ihm niemals verziehen… David! Wir müssen ihn finden! Der Schaden, der ihm zugefügt wurde, kann ungeahnte Folgen haben — das kann keiner verstehen. Durch eine einzige Tat könnte sich sein empfindlicher, angeschlagener Gemütszustand um Jahre zurückentwickeln — dreizehn Jahre —, zurück in Zeiten, in denen er ein funktionstüchtiger Killer war und nichts anderes!.. Eine Stimme. Die Gestalt über ihm sprach ihn an.

«Es tut mir leid, vergeben Sie mir… Ihr Drink, Doktor«, sagte die Frau freundlich.»Ich habe gezögert, Sie zu wecken, aber dann haben Sie sich bewegt, und es hörte sich an, als hätten Sie Schmerzen…?«

«Nein, ganz und gar nicht, meine Liebe. Ich bin nur müde.«

«Ich verstehe, Sir. Überstürzte Flüge können ermüdend sein, und um so mehr, wenn sie lang und unbequem sind.«

«Sie haben in allen drei Punkten ins Schwarze getroffen«, stimmte Panov zu und nahm seinen Drink.»Danke.«

«Sie sind Amerikaner?«

«Woher wissen Sie das? Ich trage weder Cowboystiefel noch ein Hawaiihemd.«

Die Frau lachte charmant.»Ich kenne den Fahrer, der Sie hergebracht hat. Er ist vom amerikanischen Sicherheitsdienst, sehr nett und sehr attraktiv. Oh, da kommt Ihre Begleitung. Darf ich schnell eine Frage stellen, Doktor? Benötigt er einen Rollstuhl?«

«Gütiger Himmel, nein. Er geht schon seit Jahren so.«

«Gut. Haben Sie einen angenehmen Aufenthalt in Paris, Sir. «Die Frau entfernte sich, als Alex sich hinkend um mehrere Gruppen von schwatzenden Europäern herum zum Sessel neben Panov schlängelte. Er nahm Platz und beugte sich im weichen Leder unbeholfen nach vorn. Er war offensichtlich beunruhigt.

«Was ist los?«fragte Mo.

«Ich habe gerade mit Charlie Casset in Washington gesprochen.«

«Du magst ihn, du vertraust ihm, nicht?«

«Er ist der Beste, den es gibt, wenn er persönlichen Kontakt zu den Dingen oder Leuten aufnehmen kann wenn er sehen und hören und etwas selbst in Augenschein nehmen kann und nicht einfach nur Worte auf Papier oder gar einem Computerbildschirm lesen muß.«

«Kommst du da eventuell wieder auf mein Territorium, Doktor Conklin?«

«Genau das habe ich David in der letzten Woche vorgeworfen, und ich werde dir erzählen, was er mir gesagt hat.

Dies ist ein freies Land und ungeachtet deiner Ausbildung, hast du den gesunden Menschenverstand nicht für dich gepachtet.«

«Ich nehme an«, erwiderte Panov,»Casset hat etwas getan, was du nicht gutheißen kannst.«

«Er hat etwas getan, das er nicht gutheißen würde, wenn er mehr Informationen über denjenigen hätte, mit dem er es getan hat.«

«Das klingt absolut freudianisch.«

«Er hat einen verdeckten, inoffiziellen Außendeal mit einem Mann namens Dimitrij Krupkin von der russischen Botschaft hier in Paris gemacht. Wir werden mit dem örtlichen KGB zusammenarbeiten — du, ich, Borowski und Marie —, falls wir sie finden. Hoffentlich in etwa einer Stunde in Rambouillet.«

«Was sagst du da?«fragte Mo erstaunt und kaum hörbar.»Lange Geschichte, wenig Zeit. Moskau will den Kopf des Schakals. Washington kann uns weder unterstützen noch schützen, also werden die Sowjets für einige Zeit als unser Paterfamilias fungieren, falls wir irgendwie in der Klemme sitzen.«

Panov runzelte die Stirn, dann schüttelte er den Kopf, als höre er eine äußerst seltsame Information.

«Ich nehme an, das ist nicht der übliche Lauf der Dinge, aber dennoch liegt eine gewisse Logik, sogar ein Trost darin.«

«Auf dem Papier, Mo«, sagte Conklin.»Nicht bei Dimitrij Krupkin. Ich kenne ihn, Charlie nicht.«

«Oh? Er ist ein übler Charakter?«

«Kruppie übel? Nein, eigentlich nicht…«

«Kruppie?«

«Wir kennen uns schon seit den späten Sechzigern, aus Istanbul und Athen, später dann Amsterdam… Krupkin ist nicht böswillig, und er arbeitet mit einem verdammt guten mittelmäßigen Verstand wie ein Berserker, er ist sicher besser als achtzig Prozent der Clowns in unserem Geschäft, aber er hat ein großes Problem: Er steht auf der falschen Seite. Seine Eltern hätten damals mit meinen rüberkommen sollen, als die Bolschewiken den Thron bestiegen haben.«

«Das habe ich vergessen. Du bist ein Russe.«

«Die Sprache zu sprechen hilft einem bei einem wie Kruppie. Ich kann seine Zwischentöne raushören. Er ist der Kapitalist in Reinkultur. Genau wie die Wirtschaftspopen in Peking ist er nicht nur ein Freund des Geldes, er ist besessen davon — und von allem, was dazugehört. Wenn man ihn nicht im Auge behält und wahnsinnig unter Druck setzt, ist er käuflich.«

«Du meinst vom Schakal?«

«Ich habe gesehen, wie er in Athen von griechischen Planern gekauft wurde, die Washington noch Gelände für zusätzliche Landebahnen verkaufen wollten, als sie schon wußten, daß die Kommunisten uns rauswerfen würden. Sie haben ihn bezahlt, damit er den Mund hält. Dann habe ich zugesehen, wie er in Amsterdam Diamantengeschäfte zwischen den Kaufleuten auf dem Nieuwmarkt und der Datscha-Elite in Moskau vermittelte. Eines Abends haben wir zusammen in der Kattengat einen getrunken, und ich hab ihn gefragt: >Kruppie, was, zum Teufel, machst du eigentlich?< Weißt du, was er gesagt hat? In Kleidern, die ich mir niemals hätte leisten können, saß er da und sagte: >Aleksej, ich werde alles tun, um der überragenden Sowjetunion zu helfen, die Weltherrschaft zu erlangen, aber wenn du in der Zwischenzeit Lust auf einen kleinen Urlaub hast: Ich habe da ein wunderschönes Haus am Genfer See.< Das hat er gesagt, Mo.«

«Das ist bemerkenswert. Natürlich hast du deinem Freund Casset das alles erzählt…«

«Natürlich habe ich das nicht getan«, ging Conklin dazwischen.»Und warum nicht?«

«Weil Krupkin Charlie offensichtlich nie erzählt hat, daß er mich kennt. Casset hat den Handel zwar beschlossen, aber ich bin es, der ihn ausführt.«

«Womit? Wie?«

«David — Jason — hat über fünf Millionen auf den Cayman-Inseln. Mit nur einem Bruchteil davon werde ich Kruppie so umdrehen, daß er nur noch für uns arbeitet, falls wir ihn brauchen.«

«Was soviel bedeutet wie: Du traust Casset nicht.«

«Das nicht«, sagte Alex.»Ich würde mein Leben für ihn verpfänden. Ich bin mir nur einfach nicht sicher, ob ich es in seine Hand geben möchte. Er und Peter Holland haben ihre Prioritäten, und wir haben unsere. Ihre ist Medusa, unsere sind David und Marie.«

«Messieurs?«Die Frau war zurückgekehrt und sprach Conklin an.»Ihr Wagen ist eingetroffen, Sir. Er steht am südlichen Ausgang.«

«Sind Sie sicher, daß der für mich ist?«fragte Alex.

«Ich bitte um Verzeihung, Monsieur, aber der Bote sagte, er sei für einen Mr. Smith mit einem problematischen Bein.«

«Damit hat er sicherlich recht.«

«Ich habe einen Träger für Ihr Gepäck gerufen, Messieurs. Es ist ziemlich weit zu gehen. Er wird Sie am Ausgang treffen.«

«Vielen Dank. «Conklin erhob sich, griff in seine Tasche und zog Geld heraus.»Pardon, Monsieur«, unterbrach ihn die Frau.»Es ist uns nicht gestattet, Gratifikationen entgegenzunehmen.«

«Entschuldigen Sie, ich dachte… Mein Koffer steht hinter Ihrem Schalter, ist das richtig?«

«Da, wo Ihr Begleiter ihn abgestellt hat, Sir. Er wird mit dem Koffer des Doktors in wenigen Minuten am Ausgang sein.«

«Nochmals vielen Dank«, sagte Alex.»Tut mir leid.«

«Wir werden sehr gut bezahlt, Sir, aber vielen Dank, daß Sie daran gedacht haben. «Als sie zur Tür gingen, die in den Hauptterminal des Flughafens führte, wandte sich Conklin Panov zu.»Woher wußte sie, daß du Arzt bist?«fragte er.»Hast du neue Kundschaft für deine Couch gesucht?«

«Wohl kaum. Die Pendelei zwischen zu Hause und hier könnte ein bißchen anstrengend werden.«

«Wie dann? Ich habe kein Wort davon gesagt, daß du Arzt bist.«

«Sie kennt den Sicherheitsmann, der mich in die Lounge gebracht hat. Um ehrlich zu sein, scheint sie ihn ziemlich gut zu kennen. In ihrem köstlichen französischen Akzent sagte sie, er sei sühn attraktiff.«

Keiner von beiden bemerkte den vornehm wirkenden Mann mit der olivfarbenen Haut, dem gewellten, schwarzen Haar und den großen, schwarzen Augen, der eilig die Lounge verließ, den ruhigen Blick auf die beiden Amerikaner gerichtet. Er ging zur Wand hinüber, hastete an den Menschentrauben vorbei, um vor Conklin und Panov in der Nähe des Taxistands zu sein. Dann blinzelte er, als wäre er sich nicht sicher, nahm ein kleines Foto aus seiner Tasche und sah es immer wieder an, während sich sein Blick hob und er die abfahrenden Passagiere aus den Vereinigten Staaten studierte. Das Foto zeigte Dr. Morris Panov in einem weißen Krankenhauskittel, einen glasigen, unheimlichen Ausdruck auf seinem Gesicht.

Die Amerikaner gingen auf die Plattform hinaus. Der dunkelhaarige Mann tat das gleiche. Die Amerikaner sahen sich nach einem Taxi um. Der dunkelhaarige Mann gab einem Privatwagen ein Zeichen. Ein Fahrer ging leise sprechend auf Conklin und Panov zu, als ein Träger mit ihrem Gepäck kam. Die beiden Amerikaner stiegen in das Taxi. Der Fremde ließ sich in das Privatauto gleiten, das zwei Wagen hinter ihnen parkte.

«Pazzo!« sagte der dunkelhaarige Mann auf italienisch zu der modisch gekleideten Frau, die hinter dem Lenkrad saß.»Ich sage dir, es ist verrückt! Seit drei Tagen warten wir, haben alle amerikanischen Flugzeuge im Blick, und gerade wollen wir aufgeben, da stellt sich raus, daß dieser Idiot in New York recht hat. Sie sind es!.. Komm, laß mich fahren. Du steigst aus und versuchst, unsere Leute drüben zu erreichen. Sag ihnen, sie sollen DeFazio anrufen und ihn anweisen, in sein Lieblingsrestaurant zu gehen und dort auf meinen Anruf zu warten. Er soll den Laden auf keinen Fall verlassen, bevor wir geredet haben.«

«Sind Sie es, alter Mann?«fragte die Frau in der Diplomatenlounge und sprach leise ins Telefon auf ihrem Schalter.

«Ich bin es«, erwiderte die zitternde Stimme am anderen Ende der Leitung.»Und der Angelus klingt bis in alle Ewigkeiten in meinen Ohren.«

«Okay.«

«Also machen Sie schon.«

«Auf der Liste, die wir in der letzten Woche bekommen haben, stand ein schlanker Amerikaner mittleren Alters mit einem steifen Bein, möglicherweise in Begleitung eines Arztes. Ist das richtig?«

«Ja. Und?«

«Sie sind durchgekommen. Ich habe den Begleiter des verkrüppelten Mannes mit Doktor angesprochen, und er hat darauf reagiert.«

«Wohin sind sie gefahren? Es ist von entscheidender Bedeutung für mich!«

«Das weiß ich noch nicht, aber der Träger, der ihr Gepäck zum Südausgang gebracht hat, wird mir die Beschreibung und das Kennzeichen des Wagens bringen, der sie abgeholt hat.«

«In Gottes Namen, rufen Sie mich zurück, wenn Sie die Information haben!«

Dreitausend Meilen von Paris entfernt saß Louis DeFazio allein an einem der hinteren Tische im Trafficante's Clam House an der Prospect Avenue in Brooklyn. Er beendete sein spätnachmittägliches Essen, nahm einen letzten Bissen von seinem vitello tonnato, betupfte seine Lippen mit der hellroten Serviette und bemühte sich, wie üblich jovial, wenn nicht sogar gönnerhaft zu wirken. Maledetto! Er saß schon seit zwei Stunden hier, zwei Stunden! Und er hatte nach dem Anruf eine Dreiviertelstunde gebraucht, überhaupt erst hinzukommen, so daß es eigentlich über zwei Stunden waren, fast drei, seitdem der Eierkopf in Paris zwei der Zielobjekte entdeckt hatte. Wie lange konnte es dauern, bis die beiden vom Flughafen zu ihrem Hotel in der Innenstadt gefahren waren? Drei Stunden?

Egal, er hatte recht gehabt! So, wie der alte Nervenklempner unter dem Einfluß der Nadel geredet hatte, gab es keine andere Reiseroute, die er und der Ex-Spion hätten nehmen können, als über Paris und ihren alten Kumpel, den falschen Killer… Nicolo und der Psychiater waren verschwunden, scheißegal, oder? Nicky würde seine Zeit absitzen, aber er würde nicht reden. Er wußte, daß große Schwierigkeiten — zum Beispiel ein schönes scharfes Messer in seinen feisten Bauch — auf ihn warteten, wenn er es tat. Abgesehen davon, wußte Nicky auch nichts, was wesentlich genug wäre, daß es die Anwälte nicht als Pferdescheiße aus zweiter Hand von einem fünftklassigen Pferdearsch abtun würden. Und der Psychiater wußte nur, daß er auf irgendeiner Farm gewesen war, falls er sich überhaupt daran erinnern konnte. Er hatte nie jemand anderen als Nicolo gesehen.

Louis DeFazio wußte, daß er recht hatte. Und weil er recht hatte, warteten in Paris mehr als sieben Millionen Scheine auf ihn. Sieben Millionen! Großer Gott! Er konnte den Eierköpfen aus Palermo mehr geben, als sie jemals erwartet hatten, und immer noch mit einem ganzen Bündel davonkommen.

Ein alter Kellner aus der alten Heimat näherte sich dem Tisch, und Louis hielt den Atem an.»Da ist ein Anruf für Sie, Signor DeFazio. «Wie üblich ging der Capo zu einem öffentlichen Fernsprecher am Ende eines schmalen, dunklen Korridors vor der Herrentoilette.»Hier ist New York«, sagte DeFazio.

«Hier ist Paris, Signor New York. Außerdem ist hier alles pazo.«

«Wo bist du gewesen? Ich warte schon seit drei Stunden!«

«Ich war auf einer ganzen Reihe von unbeleuchteten Landstraßen. Und wo ich jetzt bin, das ist verrückt, völlig pazzo!«

«Und wo?«

«Ich rufe von einem Pförtnertelefon aus an, wofür ich ungefähr hundert Dollar hinblättern mußte, und der französische buffone starrt die ganze Zeit durchs Fenster, um zu sehen, ob ich auch nichts mitgehen lasse — vielleicht sein Pausenbrot, wer weiß?«

«Was für ein Pförtner? Wo? Wovon redest du?«

«Ich bin auf einem Friedhof ungefähr fünfundzwanzig Meilen von Paris. Ich sage dir…«

«Ein cimitero?« unterbrach Louis.»Wozu, zum Teufel?«

«Weil deine beiden Bekannten vom Flughafen hierhergefahren sind, du ignorante. Im Moment läuft hier gerade eine Beerdigung — eine Nachtbestattung mit Kerzenprozession, die der Regen aber bald löschen wird —, und wenn deine beiden Bekannten hergeflogen sind, um an dieser völlig durchgebrannten Zeremonie teilzunehmen, dann muß die Luft bei euch drüben voller hirnschädigender Schadstoffe sein! Mit diesen sciocchezze hatte unser Handel nichts zu hm, New York: Wir haben genug Arbeit.«

«Sie sind rüber, um den großen Ballermann zu treffen«, sagte DeFazio leise wie zu sich selbst.»Was die Arbeit betrifft, Eierkopf: Wenn du jemals wieder mit uns oder Philadelphia oder Chicago oder Los Angeles Geschäfte machen willst, dann tust du, was ich dir sage. Dafür wirst du auch phantastisch bezahlt, capisci?«

«Das macht endlich Sinn.«

«Paß auf, daß sie dich nicht sehen, aber bleib bei ihnen. Finde raus, wohin sie gehen und wen sie treffen. Ich komme so schnell wie möglich rüber, aber ich muß über Kanada oder Mexiko fliegen, um sicherzugehen, daß mich niemand beobachtet. Ich werde morgen abend spät oder am nächsten Morgen dasein.«

«Ciao«, sagte Paris.

«Omertä«, sagte Louis DeFazio.

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