Kapitel 22

Borowski lief beinahe eine Stunde lang durch Paris und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Schließlich stand er an der Seine an der Pont de Solferino, die zum Quai des Tuileries und den Gärten führt. Warum, warum, warum? Was dachte sich Marie nur bei der Sache? Nach Paris zu fliegen! Es war nicht einfach dumm, es war völlig idiotisch — aber seine Frau war weder ein Dummkopf noch ein Idiot. Sie war eine großartige Frau mit einem schnellen, analytischen Verstand. Und gerade deswegen war ihre Entscheidung so unverständlich. Was mochte sie denn glauben, ausrichten zu können? Sie mußte doch wissen, daß er viel sicherer war, wenn er allein arbeitete. Das Risiko würde für sie beide doppelt so groß sein, und das mußte sie doch begreifen. Zahlen und Projektionen waren ihr Beruf. Warum also?

Es gab nur eine denkbare Antwort, und die machte ihn wütend. Sie glaubte, daß er wieder halb durchdrehen könnte wie damals in Hongkong, wo sie allein ihn wieder zu sich gebracht hatte, zurück in die Realität, seine so einmalige Realität aus erschreckenden halben Wahrheiten und nur vereinzelten Erinnerungsstücken, episodischen Augenblicken, mit denen sie jeden Tag ihres gemeinsamen Lebens zurechtkommen mußte. Gott, wie er sie anbetete, wie er sie liebte! Und die Tatsache, daß sie diese dumme, unhaltbare Entscheidung getroffen hatte, machte seine Liebe zu ihr noch stärker, weil sie so aufopfernd, so wahnsinnig selbstlos war. Im Fernen Osten hatte es Momente gegeben, wo er seinen eigenen Tod wünschte, nur um das Schuldgefühl auszulöschen, das er fühlte, weil er sie in so gefährliche — unhaltbare? — Situationen brachte. Diese Schuld bestand immer noch, aber da war mittlerweile weit mehr — die Kinder. Dieses Krebsgeschwür, der Schakal, mußte aus ihrer aller Leben beseitigt werden. Konnte sie das nicht begreifen und

ihn tun lassen, was er tun mußte? Nein. Sie flog nicht nach Paris, um sein Leben zu retten dazu hatte sie zuviel Vertrauen in Jason Borowski. Sie kam, um seinen Geist zu retten. Ich werde damit fertig, Marie. Ich kann es und werde es!

Bernardine. Er könnte es machen. Das Deuxieme könnte sie in Orly oder de Gaulle abfangen. Sie abfangen und unter Bewachung in ein Hotel stecken und behaupten, niemand wisse, wo er sei. Jason lief von der Pont de Solferino zum Quai des Tuileries und zum ersten Telefon, das er finden konnte.

«Können Sie das machen?«fragte Borowski.»Sie hat nur einen gültigen Paß, und der ist amerikanisch, nicht kanadisch.«

«Ich kann es selbst versuchen«, antwortete Bernardine,»aber nicht mit Hilfe vom Deuxieme. Ich weiß nicht, wieviel Alex erzählt hat, aber im Augenblick häng ich ziemlich in der Luft, und ich glaube, daß sie meinen Schreibtisch zum Fenster hinausgeworfen haben.«

«Scheiße!«

«Merde hoch drei, man ami. Der Quai d'Orsay will mir die Unterhosen verbrennen, ohne sie mir auszuziehen, und hätte ich nicht verschiedene Informationen über verschiedene Mitglieder der Nationalversammlung, hätten sie ohne Zweifel schon längst die Guillotine wieder ausgepackt — persönlich für mich.«

«Läßt sich bei den Paßkontrollen nicht etwas Geld verteilen?«

«Es ist besser, wenn ich in meiner früheren offiziellen Eigenschaft auftrete, in der Annahme, daß das Deuxieme nicht so schnell seine Verlegenheit hinausposaunt hat. Wie ist ihr voller Name?«

«Marie Elise St. Jacques-Webb…«

«Ach ja, jetzt erinnere ich mich, zumindest an St. Jacques«, unterbrach Bernardine.»Die berühmte kanadische Betriebswirtin. Die Zeitungen waren voll mit ihren Fotos. La belle mademoiselle.«

«Sie hätte auf diese Reklame verzichten können.«

«Das glaube ich.«

«Hat Alex etwas über Mo Panov gesagt?«

«Den alten Psychiater?«

«Ja.«

«Ich glaube nein.«

«Verdammt!«

«Ich würde vorschlagen, daß Sie jetzt erst mal an sich denken.«

«Ich verstehe.«

«Werden Sie den Wagen abholen?«

«Sollte ich?«

«Offen gesagt, ich würde es nicht tun. Er ist zwar nicht registriert, aber es gibt immer ein Risiko.«

«Das hab ich mir auch gedacht. Wann kann ich Sie anrufen?«

«Ich brauche vier, vielleicht fünf Stunden Zeit, bis ich wieder hier bin. Wie Ihr Heiliger erklärt hat, kann Ihre Frau von verschiedenen Flughäfen aus geflogen sein. All die Passagierlisten zu bekommen, das dauert seine Zeit.«

«Konzentriere Sie sich auf die Flüge, die am frühen Morgen ankommen. Einen Paß kann sie nicht fälschen, sie wüßte nicht, wie man das macht.«

«Alex sagt, man sollte sie nicht unterschätzen. Er sprach sogar französisch und sagte, sie sei formidable.«

«Sie kann einen schwer auf dem falschen Fuß erwischen, das sage ich Ihnen.«

«Qu 'est-ce que cest?«

«Sie ist ein Original, lassen wir's dabei.«

«Und Sie?«

«Ich nehme die Metro. Es wird dunkel. Ich rufe Sie nach Mitternacht wieder an.«

«Bonne chance.«

«Merci.«

Borowski verließ das Telefonhäuschen und wußte genau, was er als nächstes tun wollte, als er zum Quai hinunterhinkte. Die Bandage um sein Knie zwang ihn zu einer Art behindertem Gang. Es gab eine Metrostation bei den Tuilerien, wo er den Zug nach Havre-Caumartin nehmen und dann in den Vorortzug über St.-Denis-Basilique nach Argenteuil umsteigen würde. Argenteuil, eine Stadt aus finsteren Zeiten, von Karl dem Großen gegründet zu Ehren eines Nonnenklosters vor vierzehn Jahrhunderten, war jetzt, fünfzehn Jahrhunderte später, eine Stadt, die das Kommunikationszentrum eines Killers beherbergte, der so brutal war wie irgendein Mann, der wie zu den barbarischen Zeiten Karls des Großen mit einem breiten Schwert über die Schlachtfelder zog, wobei damals wie heute die Brutalität unter dem Deckmantel von Religiosität gefeiert und geheiligt wurde. Das Le Coeur du Soldat lag an keinem Boulevard oder einer bekannten Avenue, sondern in einer Sackgasse gegenüber einer seit langem geschlossenen Fabrik, deren abgeblätterte Schilder auf eine einst blühende Metallschmelze in einem der häßlichsten Stadtteile hinwiesen. Das Le Coeur du Soldat stand in keinem Telefonbuch. Der unschuldig fragende Fremde fand aber schließlich sein Ziel. Je verfallener die Gebäude und je übler die Straßen, um so genauer wurden die Angaben.

Borowski stand in der dunklen, engen Gasse und lehnte sich gegen die alte, rohe Backsteinmauer gegenüber vom Eingang eines Bistros. Über der dicken, massiven Tür befand sich ein Schild mit eckigen Blockbuchstaben, von denen einige fehlten: Le Coeur du Soldat. Wenn von Zeit zu Zeit die Tür aufging, schallte martialische Marschmusik auf die Gasse hinaus. Die Gäste waren keine Kandidaten für die feine Gesellschaft. Meine äußere Erscheinung ist perfekt, dachte Jason, als er ein Streichholz an der Mauer anriß, sich eine dünne schwarze Zigarre anzündete und über die Straße zum Eingang humpelte.

Von der Sprache und der ohrenbetäubenden Musik abgesehen, könnte es sich auch um eine Hafenkneipe in Palermo handeln, dachte Borowski, als er durch das Gewühl ins Innere der Bar vordrang. Seine blinzelnden Augen schweiften umher und versuchten, alles einzufangen, was er sah. Wann war er bloß auf Sizilien, in Palermo gewesen? Ein untersetzter Mann im Hemd eines Panzerfahrers stieg von seinem Hocker, den Jason, ohne zu zögern, einnahm. Eine Eisenfaust packte ihn bei der Schulter. Borowski schlug mit der Rechten aufwärts, packte das Gelenk und drehte es im Uhrzeigersinn, wobei er den Barhocker zur Seite stieß und aufstand.

«Was ist dein Problem?«fragte er ruhig auf französisch und laut genug, um gehört zu werden.»Das ist mein Platz, du Schwein! Ich muß nur pissen!«»Wenn du fertig bist, dann muß ich vielleicht wieder gehen«, sagte Jason, und sein Blick bohrte sich in den Mann, wobei die Stärke seines Griffs unmißverständlich war — noch erhöht durch den Druck des Daumens auf einen Nerv, was nichts mit Stärke zu tun hatte.

«Oh, du bist ein verdammter Krüppel…!«schrie der Mann und versuchte, nicht mit der Wimper zu zucken.»Mit Invaliden leg ich mich nicht an.«

«Ich sage dir was«, sagte Borowski und lockerte seinen Griff.»Wenn du zurückkommst, wechseln wir uns ab, und ich bezahl dir ein Glas, sooft du mich mit meinem blöden Bein sitzen läßt. In Ordnung?«

Der Mann begann zu grinsen.»He, du bist in Ordnung.«

«Ich bin nicht unbedingt in Ordnung, aber ich will bestimmt keinen Krach. Scheiße, du würdest mich in den Boden hämmern.«

Borowski ließ den Arm des muskulösen Mannes los.

«Da bin ich gar nicht so sicher«, sagte der Mann und hielt lachend sein Handgelenk.»Setz dich, setz dich! Ich geh pissen, und dann geb ich erst mal einen aus. Du siehst nicht aus, als hättest du allzu viele Francs in der Tasche.«

«Na ja, wie man sagt, der Schein kann trügen«, antwortete Jason und setzte sich.»Ich habe auch andere, bessere Klamotten. Ein alter Freund wollte sich mit mir hier treffen und meinte, ich sollte was Schlichtes tragen… Hab grade ganz gutes Geld in Afrika gemacht. Du weißt schon, die Wilden drillen…«

Die Zymbeln rasselten in der metallischen, betäubenden Militärmusik, als sich die Augen des Panzerhemdes weiteten.»Afrika? Wußte ich's doch! Der Griff — LPN.«

Die Erinnerungsfetzen des Chamäleons verdichteten sich zu einem Kode: LPN — Legion Patria Nostra. Frankreichs Fremdenlegion, die Söldnertruppen der Welt. Es war nicht gerade das, worauf er trainiert war, aber es würde ausreichen.»Lieber Gott, du auch?«fragte er rauh, aber unschuldig.

«Die Legion ist unser Vaterland!«

«Das ist verrückt!«

«Wir hauen damit nicht groß auf die Pauke. Natürlich nicht. Es gibt viel Eifersucht, natürlich, weil wir die Besten waren und dafür bezahlt wurden, aber dennoch sind das hier unsere Leute. Soldaten!«

«Wann hast du die Legion verlassen?«fragte Borowski Er mußte aufpassen, daß er sich nicht auf Glatteis begab.

«Vor neun Jahren! Haben mich vor der zweiten Verlängerung wegen Übergewicht hinausgeworfen. Sie hatten recht und haben dadurch wahrscheinlich mein Leben gerettet. Ich bin aus Belgien, Corporal.«

«Ich wurde vor einem Monat entlassen, bevor meine erste Zeit herum war. Verwundung in Angola und weil sie meinten, ich sei älter, als es in meinen Papieren steht. Sie bezahlen nicht für längere Heilungsprozesse. «Wie leicht die Worte flössen.

«Angola? Das waren wir? Was hat sich der Quai d'Orsay dabei gedacht?«

«Weiß ich nicht. Ich bin Soldat, ich folge Befehlen und frage nicht nach allem, was ich nicht verstehe.«

«Setz dich! Meine Blase platzt. Ich bin gleich zurück. Hab nie von einer Angola-Operation gehört.«

Jason lehnte sich über die erhöhte Bar und bestellte »une biere«, dankbar, daß der Barmann zu beschäftigt war und die Musik zu laut, als daß er die Unterhaltung mitbekommen hätte. Er war jedoch dem heiligen Alex von Conklin unendlich dankbar, dessen erster Rat an einen Agenten immer war,»bei einem Opfer zuerst einen schlechten Einstieg machen, dann im guten weiter«, eine Theorie, die besagte, daß die Verwandlung von Feindseligkeit in Freundschaft viel besser war als umgekehrt. Borowski trank sein Bier, er war erleichtert. Er hatte einen Freund im Coeur du Soldat gewonnen. Das war ein kleiner Sieg, vielleicht war er aber auch gar nicht so klein.

Das Panzerhemd kam zurück, seinen dicken Arm um die Schultern eines jüngeren Mannes Anfang zwanzig gelegt, der von mittlerer Größe war und vom Bau eines Panzerschranks. Er trug eine amerikanische Armeejacke. Jason wollte sich von seinem Stuhl erheben.

«Sitz! Sitz!«schrie sein neuer Freund und beugte sich vor, damit er den Lärm der Menge und der Musik übertönte.»Ich hab uns eine Jungfrau gebracht.«»Was?«

«Hast du so schnell vergessen? Er ist dabei, ein Rekrut der Legion zu werden.«

«Ach so«, lachte Borowski.»Ich dachte, an einem Ort wie hier…«

«An einem Ort wie hier?«unterbrach ihn das Panzerhemd.»Das mögen sie, wenn's rauh zugeht. Ich dachte, er sollte mal mit dir reden. Er ist Amerikaner, und sein Französisch ist grotesque, aber wenn du langsam sprichst, versteht er es.«

«Brauch ich nicht«, sagte Jason auf englisch mit französischem Akzent.»Ich bin in Neufchätel aufgewachsen und war ein paar Jahre in den Staaten.«

«Schön zu hören. «Die Aussprache des Amerikaners hörte sich nach tiefem Süden an. Sein Lachen war echt, seine Augen aufmerksam, furchtlos.

«Dann laß uns noch mal anfangen«, sagte der Belgier in stark fremdländischem Englisch.»Mein Name ist… Maurice, so gut wie jeder andere. Mein junger Freund hier heißt Ralph, zumindest sagt er das. Und wie heißt du, verwundeter Held?«

«Francois«, antwortete Jason, wobei er kurz an Bernardine dachte, und wie es wohl am Flughafen lief.»Und ein Held bin ich nicht. Die sterben zu schnell… Bestellt was zu trinken, ich bezahle. «Borowski versuchte fieberhaft, das wenige, das er über die Legion wußte, in seinem Hirn zusammenzukratzen.»In neun Jahren hat sich viel verändert, Maurice. «Wie leicht die Worte dahinflössen, dachte das Chamäleon.»Warum hast du dich einschreiben lassen, Ralph?«

«Denke, daß es das Schlaueste war, was ich tun konnte — 'n paar Jahre verschwinden, und soweit ich es blicke, mindestens fünf Jahre.«

«Wenn du das erste überlebst, man ami«, warf der Belgier ein.

«Maurice hat recht. Hör auf ihn. Die Offiziere sind hart…«

«Alles Franzosen!«fügte der Belgier hinzu.»Neunzig Prozent wenigstens. Nur ein Ausländer auf vielleicht dreihundert wird Offizier. Mach dir keine Illusionen.«

«Aber ich bin vom College, bin Ingenieur.«

«Dann wirst du hübsche Latrinen in den Lagern bauen und schöne Scheißlöcher im Feld zeichnen«, lachte Maurice.»Erzähl's ihm, Francois. Erklär ihm, wie die Gebildeten behandelt werden.«

«Sie müssen zuerst lernen zu kämpfen«, sagte Jason und hoffte, daß es stimmte.

«Eine gute Ausbildung ist verdächtig«, rief der Belgier aus.»Haben sie Zweifel? Denken sie daran, wenn sie bezahlt werden, allein den Befehlen zu gehorchen?… Ich würde deine Ausbildung nicht zu sehr raushängen lassen.«

«Laß es sie erst allmählich wissen«, fügte Borowski hinzu.»Wenn Not am Mann ist, wenn du helfen kannst.«

«Bien!« rief Maurice.»Er weiß, wovon er redet. Ein echter legionnaire!«

«Kannst du kämpfen?«fragte Jason.»Könntest du jemanden jagen, um ihn zu töten?«

«Ich hab meine Verlobte umgebracht, und ihre beiden Brüder und einen Cousin, alle mit einem Messer und meinen bloßen Händen. Sie ließ sich von einem Bankier aus Nashville ficken, und sie alle wußten Bescheid — er hat 'ne Menge Kohle springen lassen. Jaa, ich kann töten, Mr. Francois.«

Jagd auf wahnsinnigen Mörder in Nashville.

Junger Ingenieur mit vielversprechender Zukunft dem Netz entgangen.

Borowski erinnerte sich an die Überschriften in den Zeitungen vor ein paar Wochen, als er in das Gesicht des jungen Amerikaners starrte.»Geh zur Legion«, sagte er.

«Wenn's drauf ankommt, Mr. Francois, kann ich mich auf Sie berufen?«

«Das würde dir nicht helfen, ganz im Gegenteil. Wenn du unter Druck stehst, sag einfach die Wahrheit. Das ist das beste.«

«Aussi bien! Er kennt die Legion. Sie nehmen keine Verrückten, wenn es irgend geht, aber sie — wie sagt man, Francois?«

«Sehen nicht immer so genau hin, denke ich.«

«Oui. Vor allem, wenn es… Francois?«

«… wenn es mildernde Umstände gibt.«

«Siehst du? Mein Freund Francois hat auch Verstand. Ich frage mich, wie er überlebt hat.«

«Indem ich es nicht gezeigt habe, Maurice.«

Ein Kellner mit der dreckigsten Schürze, die Jason je gesehen hatte, klopfte dem Belgier auf die Schulter. »Votre table, Rene.«

«So?«Panzerhemd zuckte mit den Schultern.»Noch ein Name. Was macht das schon? Wir essen jetzt was, und wenn wir Glück haben, werden wir nicht vergiftet.«

Zwei Stunden später, nach vier Flaschen herbem Wein, die Maurice und Ralph zu ihrem äußerst verdächtigen Fisch getrunken hatten, bereitete sich das Le Coeur du Soldat auf das allnächtliche Durchhalteritual vor: Keilereien, die immer wieder ausbrachen, wurden von muskulösen Kellnern beendet. Die lärmende Musik lieferte Erinnerungen an gewonnene und verlorene Schlachten, die Diskussionen auslösten, besonders unter denen, die immer nur zum Kanonenfutter gehört hatten. Es war das kollektive Gebrüll des unterprivilegierten Fußvolks, das es schon zu Zeiten der Pharaonen gegeben hatte, das man von Korea- und Vietnam Veteranen hören konnte. Die sauber gekleideten Offiziere gaben ihre Befehle weit hinter den Linien, und das Fußvolk starb, um die Weisheit seiner Vorgesetzten zu bewahrheiten. Borowski dachte an Saigon und machte der Existenz des Coeur du Soldat keinen Vorwurf.

Der Chefbarkeeper, ein massiger, kahlköpfiger Mann mit Stahlrandbrille, griff nach dem Telefon, das am anderen Ende unter der Theke verborgen war, und hob den Hörer an sein Ohr.

Jason beobachtete ihn zwischen den hin- und herwogenden Gestalten. Die Augen des Mannes sahen sich im Raum um — was er hörte, schien wichtig zu sein, nicht, was er sah. Er sprach kurz, langte mit der Hand unter die Theke und behielt sie dort für einige Augenblicke. Er hatte eine neue Nummer gewählt. Wieder sprach er schnell und stellte dann ruhig das Telefon außer Sichtweite. Es war genau, wie es ihm der alte Fontaine auf Tranquility Island beschrieben hatte: Botschaft erhalten, Botschaft weitergegeben. Und am Ende der Empfängerleitung saß der Schakal.

Das war alles, was er an diesem Abend sehen wollte. Er mußte verschiedenes erwägen, vielleicht Leute anmieten, wie er es schon in der Vergangenheit getan hatte. Entbehrliche Leute, die ihm nichts bedeuteten, Leute, die man bezahlte oder bestach, erpreßte oder zwang, das zu tun, was man von ihnen wollte, ohne jede Erklärung.»Ich habe gerade den Typ gesehen, den ich hier treffen wollte«, sagte er zu den fast abwesenden Maurice und Ralph.»Er will, daß ich rauskomme.«

«Du verläßt uns?«jaulte der Belgier.

«He, Mann, das solltest du nicht«, fügte der junge Amerikaner aus dem Süden hinzu.

«Nur für heute nacht. «Borowski lehnte sich über den Tisch.»Ich arbeite mit einem anderen legionnaire, jemandem, der an was dreht, wo 'ne Menge Kohle auf dem Spiel steht. Ich kenne euch nicht, aber ihr scheint mir anständige Kerle zu sein. «Borowski zog eine Rolle Geldscheine raus und nahm tausend Francs, fünfhundert für jeden der beiden.

«Nehmt, beide, steckt es in die Taschen, schnell.«

«Heilige Scheiße!«

«Merde!«

«Das ist keine Garantie, aber vielleicht können wir euch brauchen. Haltet euren Mund und geht zehn oder fünfzehn

Minuten nach mir raus. Also, keinen Wein mehr. Ich will euch morgen nüchtern… Wann macht dieser Laden auf, Maurice?«

«Ich bin nicht sicher, ob er überhaupt zumacht. Ich bin hier schon um acht Uhr früh gewesen. Dann ist er natürlich nicht so voll…«

«Seid gegen Mittag hier. Aber mit klaren Köpfen, in Ordnung?«

«Soll ich meine Uniform anziehen?«

«Zum Teufel, nein.«

«Ich ziehe Anzug und Krawatte an. Ich habe einen Anzug und eine Krawatte, ehrlich!«Der Amerikaner hatte einen Schluckauf.

«Nein. Ihr beide kommt so, wie ihr jetzt seid, aber mit klarem Kopf. Versteht ihr mich?«

«Du klingst tres americain, man ami.«

«Das ist wahr.«

«Bin ich nicht, außerdem kommt es hier auf Wahrheit nicht an, oder?«

«Ich weiß schon, was er meint. Das habe ich schon gelernt. Mit einer Krawatte sieht man wie ein Witz aus.«

«Keine Krawatte, Ralph. Bis morgen. «Borowski schlängelte sich aus der Sitzecke und hatte plötzlich eine Idee. Statt zum Ausgang zu gehen, drängte er sich vorsichtig zum Ende der Bar und dem riesigen kahlen Barkeeper durch. Es war kein Platz frei, weshalb er sich vorsichtig, höflich an zwei Kunden vorbeidrängte und einen Pernod bestellte. Er bat um eine Serviette, auf die er eine Botschaft schreiben könne, persönlich, die niemand im Laden etwas angehe. Auf die Rückseite der Serviette, auf der ein grobes Wappen prangte, schrieb er mit dem Kugelschreiber auf französisch:

«Das Nest der Amsel ist eine Million Francs wert. Objekt: vertraulicher geschäftlicher Rat. Wenn interessiert, dann an der

Ecke der alten Fabrik in dreißig Minuten. Was kann es schaden? Zusätzliche fünftausend Francs, wenn alleine.«

Borowski wickelte die Serviette mit einem Hundert-FrancsSchein zusammen und machte dem Barkeeper ein Zeichen, der sich seine Stahlbrille zurechtrückte. Langsam setzte er seinen massigen Körper in Bewegung und stützte seine dicken tätowierten Arme auf den Tresen.

«Was ist?«fragte er grob.

«Ich habe eine Botschaft für Sie«, antwortete das Chamäleon und sah mit festem Blick auf die Brille des Barkeepers.»Ich bin allein und hoffe, Sie werden meine Bitte in Erwägung ziehen. Ich bin ein Mann, der verwundet ist, aber ich bin kein armer Mann.«

Borowski ergriff schnell, aber höflich — sehr höflich — die Hand des Barkeepers und drückte die Serviette mit dem Schein hinein. Mit einem bittenden Blick auf den verblüfften Mann drehte sich Jason um und ging zur Tür, wobei er sein Hinken noch betonte.

Draußen eilte er über das brüchige Pflaster zum Eingang der Gasse. Er schätzte, daß sein Zwischenspiel an der Bar acht bis zwölf Minuten gedauert hatte. Da er wußte, daß ihn der Barkeeper beobachtete, hatte er beim Rausgehen absichtlich nicht zum Tisch seiner zwei neuen Bekannten geblickt, nahm aber an, daß sie noch dort waren. Panzerhemd und Armeejacke hatten nicht mehr den richtigen Durchblick, und in ihrer Verfassung zählten Minuten nicht. Er konnte nur hoffen, daß die fünfhundert Francs für jeden ein bestimmtes Maß an Verantwortung erzeugen würden und daß sie bald gingen, wie er es ihnen gesagt hatte. Komischerweise hatte er mehr Vertrauen in Maurice-Rene als in den jungen Amerikaner, der sich Ralph nannte. Ein ehemaliger Corporal der Fremdenlegion besaß einen automatischen Reflex, was Befehle anging. Er befolgte sie blind, ob betrunken oder nüchtern. Jason hoffte es. Es war nicht unbedingt notwendig, aber er konnte ihre Hilfe brauchen, wenn — wenn der Barkeeper vom Le Coeur du Soldat von der Summe gereizt würde — und von der vertraulichen Konversation mit einem Krüppel, den er offensichtlich mit einem seiner tätowierten Arme erledigen konnte.

Borowski wartete. Der Schein der Laternen in der Gasse war sehr schwach. Immer weniger Leute gingen ins Le Coeur hinein oder kamen heraus, alle gingen ohne einen Blick auf Jason vorbei, der an die verfallene Ziegelmauer gelehnt dastand.

Sein Instinkt wurde wach. Panzerhemd zog die viel jüngere Armeejacke auf die Straße, und als die Tür hinter ihnen zugefallen war, schlug er dem Amerikaner quer über das Gesicht und erklärte ihm mit undeutlichen Worten, daß sie reich seien und noch reicher werden könnten.

«Das ist besser, als in Angola erschossen zu werden!«schrie er, laut genug, daß Borowski es hören konnte.»Warum sind sie da bloß hin?«Jason stoppte sie am Eingang zur Gasse und zog die beiden Männer um die Ecke des Ziegelgebäudes.

«Ich bin es«, sagte er mit befehlender Stimme.

«Sacrebleu…!«

«Was, zum Teufel…!«

«Seid leise! Ihr könnt heute nacht noch fünfhundert machen, wenn ihr wollt. Wenn nicht, gibt es zwanzig andere, die wollen.«

«Wir sind Kameraden!«protestierte Maurice-Rene.

«Ich könnte dir in den Arsch treten, wie du uns erschreckt hast… Aber mein Kumpel hat recht, wir sind Kameraden — keine Kommunisten, nicht, Maurice?«

«Ta gueule.«

«Das heißt, halt's Maul«, erklärte Borowski.

«Das hör ich oft…«»Hört zu. In den nächsten Minuten kommt möglicherweise der Barkeeper da raus, um nach mir zu sehen. Vielleicht auch nicht, ich weiß es nicht. Der große, glatzköpfige Kerl mit der Brille. Kennt ihn einer von euch?«

Der Amerikaner zuckte die Schultern, aber der Belgier nickte mit seinem beduselten Kopf und sagte:»Sein Name ist Santos. Er ist Spanier.«

«Spanier?«

«Oder Lateinamerikaner. Niemand weiß es.«

Ilich Ramirez Sanchez, dachte Jason. Carlos, der Schakal, Venezulaner von Geburt, Terrorist, mit dem die Sowjets nicht fertig wurden. Natürlich würde er sich an seine Leute halten.

«Wie gut kennst du ihn?«

Jetzt zuckte der Belgier mit den Schultern.»Er hat im Le Coeur die absolute Autorität. Er hat Leuten schon den Schädel zertrümmert, wenn sie sich zu schlecht benommen haben. Er nimmt erst immer seine Brille ab, das ist das erste Anzeichen dafür, daß was passieren wird, was selbst erfahrene Soldaten nicht gerne mit ansehen… Wenn er rauskommt, dann würde ich dir raten zu verschwinden.«

«Er kommt vielleicht, weil er mit mir reden will, nicht, um mir ans Leder zu gehen.«

«Das wäre nicht Santos…«

«Die Einzelheiten braucht ihr nicht zu kennen, die gehen euch nichts an. Aber wenn er aus der Tür kommt, möchte ich, daß ihr ihn in eine Unterhaltung verwickelt, könnt ihr das machen?«

«Aber sicher. Hab schon oft auf seiner Couch oben gepennt. Hat mich persönlich nach oben getragen.«

«Oben?«

«Er wohnt im ersten Stock über der Kneipe. Man sagt, daß er nie rausgeht, nie auf die Straße raus, nicht mal zum Markt. Er schickt andere, oder die Sachen werden geliefert.«

«Verstehe. «Jason zog sein Geld aus der Tasche und gab jedem noch mal fünfhundert Francs.»Geht in die Gasse zurück, und wenn Santos rauskommt, haltet ihn an und benehmt euch, als hättet ihr zuviel getrunken. Bittet ihn um Geld, um eine Flasche, was auch immer.«

Wie Kinder griffen Maurice-Rene und Ralph nach den Geldscheinen und sahen einander wie siegreiche Verschwörer an. Francois, der verrückte legionnaire, schmiß mit dem Geld um sich, als würde er es selber drucken! Ihr Enthusiasmus nahm zu.

«Wie lange sollen wir diesen Truthahn beschäftigen?«fragte der Amerikaner.

«Ich werde ihm die Ohren von seinem kahlen Schädel reißen!«

«Nein, nur lange genug, damit ich sehen kann, ob er allein ist«, sagte Borowski,»daß niemand bei ihm ist oder ihm folgt.«

«Kein Problem, Mann.«

«Wir werden nicht nur unser Geld verdienen, sondern deinen Respekt. Du hast das Wort eines Corporals der Legion.«

«Ich bin gerührt. Geht jetzt. «Die beiden betrunkenen Männer schlurften die Gasse hinunter, wobei die Armeejacke dem Panzerhemd triumphierend auf die Schulter klopfte. Jason drückte sich mit dem Rücken gegen die Ziegelsteinmauer, nur wenige Zentimeter von der Straßenecke entfernt, und wartete. Sechs Minuten vergingen, und dann hörte er die Worte, auf die er so gewartet hatte.

«Santos! Mein großer, guter Freund Santos!«

«Was machst du denn hier, Rene?«

«Mein junger amerikanischer Freund hat sich nicht gut gefühlt, aber es ist vorbei — er hat gekotzt.«

«Amerikaner?«»Laß mich ihn dir vorstellen, Santos. Er wird ein großer Krieger werden.«

«Gibt es irgendwo einen Kinderkreuzzug?«

Borowski schielte um die Ecke, als der Barkeeper Ralph ansah.

«Viel Glück, Babygesicht. Such dir einen Krieg auf einem Spielplatz.«

«Sie sprechen so schnell französisch, Mister, aber ein bißchen was hab ich verstanden. Sie sind eine gute Mutter, aber ich kann ein gemeiner Hurensohn sein!«

Der Barkeeper lachte und sprach jetzt mühelos englisch:»Such dir dafür aber 'ne andere Bar, Babygesicht. Wir lassen ins Le Coeur nur friedliche Leute rein… Ich muß jetzt gehen.«

«Santos!«schrie Maurice-Rene.»Leih mir zehn Francs. Ich habe mein Portemonnaie zu Hause vergessen.«

«Wenn du je ein Portemonnaie gehabt hast, dann hast du es in Nordafrika vergessen. Du kennst meine Politik, keinen Sou für einen von euch.«

«Das Geld, das ich hatte, hab ich für deinen lausigen Fisch ausgegeben! Davon mußte mein Freund kotzen!«

«Zum nächsten Essen fahrt ihr nach Paris und geht ins Ritz… Richtig. Ihr habt gegessen! Aber ihr habt noch nicht dafür bezahlt.«

Jason zog schnell seinen Kopf zurück, als der Barkeeper sich umdrehte und die Gasse hochsah.

«Gute Nacht, Rene. Und du auch, Babykrieger. Ich habe zu tun.«

Borowski rannte über das Pflaster hinunter zum Tor der alten Fabrik. Santos kam, um ihn zu treffen. Allein. Er überquerte die Straße, lief in den Schatten des geschlossenen alten Stahlwerks und verhielt sich ruhig. Er fühlte nur mit der Hand nach dem harten Stahl und der Sicherheit seiner Automatic. Mit jedem

Schritt, den Santos machte, kam der Schakal näher! Augenblicke später tauchte die riesige Figur aus der Gasse auf, überquerte die schwach erleuchtete Straße und näherte sich dem verrosteten Tor.

«Ich bin hier, Monsieur«, sagte Santos.

«Ich danke Ihnen.«

«Mir wäre lieber, Sie würden zuerst Ihr Wort halten. Ich glaube, Sie erwähnten fünftausend Francs auf Ihrem Zettel.«

«Hier sind sie. «Jason langte in seine Tasche, holte das Geld heraus und hielt es ihm hin.

«Danke«, sagte Santos, kam näher und nahm die Scheine in Empfang.»Greift ihn!«fügte er hinzu.

Plötzlich wurde hinter Borowski das alte Tor aufgerissen. Zwei Männer stürzten heraus, und bevor Jason zur Waffe greifen konnte, krachte ein schweres, dumpfes Instrument auf seinen Schädel.

Загрузка...