Kapitel 38

Irrsinn! Mit aller Kraft rammte Carlos seine rechte Schulter in den blonden Kellner, stieß den jungen Mann über den Flur und ließ den Serviertisch krachend umkippen. Teller und Speisen spritzten gegen die Wände und den Teppichboden. Der Kellner machte einen Satz nach links, wirbelte in der Luft herum und riß dabei völlig unerwartet eine Waffe aus seinem Gürtel. Und doch, der Schakal ahnte oder sah die Bewegung aus dem Augenwinkel heraus. Er fuhr herum, die automatische Waffe auf Dauerfeuer, und nagelte den blonden Russen brutal an die Wand, Kugeln durchlöcherten Kopf und Torso des Kellners. In diesem entsetzlichen Augenblick verfing sich das vergrößerte Visier auf dem Lauf von Borowskis Graz Burja im Bund seiner Hose. Mit einem Ruck zerriß er den Stoff, als Carlos den Kopf hob und sich ihre Blicke trafen, Zorn und Triumph in den Augen des Attentäters.

Jason riß die Waffe los und schnellte gegen die Wand des kleinen Alkovens, als die Salve des Schakals die grelle Verkleidung des Getränkeautomaten auseinandersprengte und sich in die dicken Plastikschichten bohrte, die an der Vorderseite der defekten Eismaschine angebracht waren. Er hechtete über die offene Fläche, die Graz Burja im Anschlag, und feuerte so schnell, wie er abdrücken konnte. Gleichzeitig hörte man andere Schüsse, nicht die einer Maschinenpistole. Alex feuerte aus dem Inneren der Suite heraus! Sie hatten Carlos im Kreuzfeuer! Es war möglich — das Grauen konnte in einem Hotelflur in Moskau enden! Laß es geschehen, laß es geschehen!

Der Schakal brüllte. Es war das trotzige Kreischen von jemandem, der getroffen war. Borowski hechtete zurück über die offene Fläche, drehte sich wieder zur Wand hin und war für einen Augenblick von den Geräuschen einer plötzlich wieder funktionierenden Eismaschine abgelenkt. Er hockte sich hin, schob sein Gesicht zentimeterweise vor, als der mörderische Wahnsinn auf dem Gang zu einem fieberhaften Nahkampf wurde. Wie ein aufgebrachtes, eingesperrtes Tier drehte sich der verwundete Carlos um sich selbst, und ununterbrochen explodierten Feuerstöße aus seiner Waffe, als wollte er unsichtbare Wände zerschießen, die immer näher auf ihn zukamen. Zwei stechende, hysterische Schreie kamen vom anderen Ende des Ganges, einer weiblich, einer männlich. Ein Pärchen war im panischen Hagel verirrter Kugeln verwundet oder getötet worden.

«Runter!«Conklins Befehl von der anderen Seite des Korridors kam unvermittelt.»Deckung! An die Scheiß-Wand!«Borowski tat, was man ihm befahl, wobei er nur verstand, daß der Befehl bedeutete, er solle sich so klein wie möglich in eine Ecke drücken und seinen Kopf, so gut es ging, schützen. Die Ecke! Er machte einen Satz, als die erste Explosion die Wände erschütterte — irgendwo — und dann eine zweite, diesmal viel näher, weit donnernder, im Korridor selbst. Granaten!

Rauch mischte sich mit herabfallendem Putz und Glasscherben. Schüsse. Neun, einer nach dem anderen — eine Graz Burja… Alex! Jason sprang aus der Ecke der Nische hervor und auf die freie Fläche zu. Conklin stand an der Tür ihrer Suite vor dem umgeworfenen Serviertisch. Er zog sein leeres Magazin heraus und durchsuchte wutentbrannt seine Hosentaschen.»Ich hab keins mehr!«rief er und meinte die Zusatzmagazine, mit denen Krupkin sie versorgt hatte.»Er ist um die Ecke in den anderen Korridor gelaufen, und ich habe keine gottverdammten Patronen mehr!«

«Aber ich«, sagte Jason, nahm sein leeres Magazin heraus und schob ein neues hinein.»Geh wieder rein und ruf in der Halle an. Sag ihnen, sie sollen sie räumen.«

«Krupkin hat gesagt…«

«Mir ist vollkommen egal, was er gesagt hat! Sag ihnen, sie sollen die Fahrstühle schließen, alle vorhandenen Treppen verbarrikadieren und, verflucht noch mal, von diesem Stockwerk wegbleiben.«

«Verstehe… «

«Tu es!«Borowski rannte den Korridor hinunter und zuckte zusammen, als er dem Pärchen näherkam, das auf dem Teppich lag. Beide bewegten sich stöhnend. Ihre Kleidung war voller Blut, aber sie bewegten sich! Er drehte sich zu Alex um, der um den Serviertisch herumhinkte.»Hol Hilfe!«befahl er und deutete auf eine Tür am Ende des Ganges.»Sie leben! Nimm den Ausgang dahinten, und nur den!«

Die Jagd begann. Wo war er? Es gab eine weitere Ausgangstür am anderen Ende des langen Korridors, den Jason betreten hatte, und dazu vielleicht fünfzehn bis achtzehn Gästezimmer entlang des Ganges. Carlos war kein Dummkopf, und ein verwundeter Carlos würde sämtliche Taktiken anwenden, die er sich in seinem langen Killerleben angeeignet hatte — bis er den Mord geschafft hatte, den er mehr wollte als sein eigenes Leben… Borowski erkannte plötzlich, wie genau seine Analyse war, denn er beschrieb sich selbst. Was hatte der alte Fontaine auf Tranquility Island in diesem abgelegenen Raum gesagt, von dem aus sie die Prozession der Priester beobachtet hatten, wohl wissend, daß der Schakal einen von ihnen gekauft hatte?» Zwei alternde Löwen jagen einander und kümmern sich nicht darum, wer im Kreuzfeuer getötet wird«-so oder ähnlich waren Fontaines Worte gewesen, ein Mann, der sein Leben für einen anderen geopfert hatte, den er kaum kannte, weil sein eigenes Leben vorbei war, nachdem die Frau, die er liebte, gestorben war. Als Jason langsam und vorsichtig den Flur zur ersten Tür auf der linken Seite hinunterging, fragte er sich, ob er auch so gehandelt hätte. Er wollte unbedingt leben, mit Marie und den Kindern, aber wenn sie tot wäre, wenn sie tot wären… was wäre das Leben dann noch wert?

Keine Zeit für solche Gedanken, David Webb! Ich hab keine Verwendung für dich, du Schwächling! Laß mich in Ruhe! Ich muß einen Raubvogel aufscheuchen, den ich schon seit dreizehn Jahren jage. Seine Klauen sind schar wie Rasierklingen, und er hat schon zu oft getötet, um jetzt will er mich — dich. Laß mich in Ruhe!

Blut. Auf dem düsteren, dunkelbraunen Teppich glänzten im trüben Licht feuchte Tropfen. Borowski hockte sich in und betastete sie. Ohne Unterbrechung führten sie an der ersten Tür vorbei, dann an der zweiten… dann kreuzten sie den Flur, jetzt mit verändertem Muster, nicht mehr gleichmäßig, als wäre die Wunde lokalisiert, die Blutung zum Teil gestillt. Die Spur führte auch an der sechsten Tür auf der rechten Seite vorbei und an der siebten… Dann hörten die schimmernden roten Tropfen plötzlich auf. Nein, nicht ganz. Ein Tröpfeln führte nach links, kaum zu sehen, und wieder quer über den Flur. Da! Ein schwacher roter Fleck direkt über dem Griff an der achten Tür links nicht mehr als sechs Meter vom Treppeneingang des Korridors entfernt. Carlos mußte hinter dieser Tür sein und hielt da drinnen womöglich jemanden als Geisel fest.

Präzision war jetzt alles, jede Bewegung, jedes Geräusch… Borowski atmete gleichmäßig durch, während er sich dazu zwang, seine verspannte Muskulatur zu lockern. Leise lief er den Gang hinunter. Er kam an eine Stelle, die etwa dreißig Schritte von der achten Tür links entfernt war, und drehte sich um, denn plötzlich nahm er den Chor unterdrückter, gelegentlicher Schluchzer und Schreie wahr, die aus den verschlossenen Eingängen des Hotelkorridors drangen. Befehle waren gegeben worden; in eine Sprache gebettet, die weitab von Krupkins Vorstellungen lag:»Bleiben Sie bitte in Ihren Zimmern. Lassen Sie niemanden herein. Unsere Leute ermitteln. «Es hieß immer» unsere Leute«, niemals» die Polizei«, niemals» die Behörden«. Bei solchen Bezeichnungen kam Panik auf. Und Panik war genau das, was Delta one im Sinn hatte.

Er hob seine Graz Burja, zielte auf einen der verzierten Kronleuchter, feuerte zweimal und schrie gleichzeitig voller Wut, während die ohrenbetäubenden Explosionen das zersprungene Glas begleiteten, das von der Decke rieselte.»Da läuft er! Ein schwarzer Anzug!«Trampelnd und mit lauten, übertriebenen Schritten rannte Borowski den Korridor zur achten Tür auf der Linken hinunter, dann an der Tür vorbei, und noch einmal rief er:»Der Ausgang… der Ausgang!«Abrupt blieb er stehen, feuerte einen weiteren Schuß in einen der Kronleuchter, um so das Fehlen der trampelnden Füße zu überdecken. Dann drehte er sich um, warf seinen Rücken gegen die der achten Tür gegenüberliegende Wand, stieß sich ab und schleuderte seinen Körper mit derartiger Gewalt gegen die Tür, daß sie durchbrach und aus den Angeln krachte. Mit erhobener Waffe ließ er sich auf den Boden fallen, bereit, sofort zu schießen.

Er hatte einen Fehler gemacht. Er wußte es sofort, eine endgültige Falle war in Vorbereitung! Er hörte, wie irgendwo draußen eine andere Tür geöffnet wurde — entweder hörte er es oder wußte es instinktiv! Wütend rollte er zur Seite, wieder und immer wieder, seine Beine krachten in eine Bodenlampe, stießen sie zur Tür, seine panischen, blitzschnellen Augen sahen flüchtig ein älteres Paar, das sich in der gegenüberliegenden Ecke aneinander festhielt.

Die mit einem weißen Talar bekleidete Gestalt platzte ins Zimmer, die Automatic spuckte wahllos, das Stakkato der Schüsse war ohrenbetäubend. Borowski feuerte immer wieder in die weiße Masse hinein, während er an die linke Wand sprang und wußte, daß er — wenn auch nur für den Bruchteil einer Sekunde — rechts im toten Winkel des Killers war. Aber dieser Bruchteil genügte!

Der Schakal war an der Schulter getroffen, seiner rechten Schulter! Die Waffe sprang ihm buchstäblich aus der Hand, als er den Unterarm hochriß, und seine Finger entkrümmten sich mit spastischen Bewegungen unter der Wucht des Einschlags der Graz Burja. Ohne seine Bewegung abzustoppen, schwang der Schakal herum, die blutige weiße Robe öffnete sich, blähte sich wie ein Segel, als er mit der linken Hand nach der tiefen Fleischwunde griff und Jason wütend die Bodenlampe ins Gesicht trat.

Borowski feuerte erneut, halb geblendet vom fliegenden Schirm der schweren Lampe, seine Waffe abgelenkt vom dicken Lampenfuß. Der Schuß spielte verrückt. Jetzt hielt er seine Hand ruhig und drückte noch einmal ab, doch hörte er nur die gräßliche Endgültigkeit eines scharfen, metallischen Klickens — sein Magazin war leer! Er kämpfte sich in die Hocke und hechtete nach der plumpen, häßlichen Automatic, als Carlos in seiner weißen Robe durch den zerschlagenen Türrahmen in den Korridor rannte. Jason wollte aufspringen, aber sein Knie versagte ihm den Dienst. Er brach unter seinem eigenen Gewicht zusammen. Oh, Himmel! Er kroch zum Rand des Bettes und schwang sich über die abgezogenen Laken zum Telefon. Es war kaputt, der Schakal hatte es zerschossen!

Ein Geräusch! Laut und abrupt. Der Notriegel am Treppeneingang des Korridors war aufgeknallt worden, die schwere Eisentür krachte in die Betonwand des Treppenabsatzes. Der Schakal rannte die Stufen zur Halle hinunter. Falls die Rezeption auf Conklin gehört hatte, saß er damit in der Falle!

Borowski sah das ältere Ehepaar in der Ecke an, betroffen von der Tatsache, daß der alte Mann seine Frau mit seinem eigenen Körper schützte.»Alles in Ordnung«, sagte er und versuchte, sie zu beruhigen, indem er leiser sprach.»Ich weiß, daß Sie mich wahrscheinlich nicht verstehen, ich spreche Ihre Sprache nicht, aber Sie sind jetzt in Sicherheit.«

«Wir sprechen auch kein Russisch«, gab der Mann, ein Engländer, zu und reckte seinen Hals, während Jason aufzustehen versuchte.»Vor dreißig Jahren hätte ich an dieser Tür gestanden! Achte Armee mit Monty, wissen Sie. Einfach grandios in El Alamein. Um es zu umschreiben, man wird eben älter, wie man so sagt.«

«Das möchte ich lieber nicht hören, General…«

«Nein, nein, nur ein Brigadier…«

«Okay!«Borowski kroch über das Bett, testete sein Knie. Was es auch war, es war wieder eingeschnappt.»Ich muß ein Telefon finden!«

«Ehrlich gesagt, was mich am meisten aufgeregt hat, war diese gottverdammte Robe!«fuhr der Veteran von El Alamein fort.»Schändlich, möchte ich sagen.«

«Wovon reden Sie?«

«Die weiße Robe, Freund! Die muß von Binky gewesen sein — das ist das Paar gegenüber, mit dem wir reisen —, er muß sie in diesem wundervollen Beau Rivage in Lausanne geklaut haben. Ist schon schlimm genug, aber sie auch noch diesem Schwein zu geben ist unverzeihlich!«

Sekunden später hatte Jason die Waffe des Schakals gepackt, war in das Zimmer gegenüber gestürmt und wußte sofort, daß»Binky «mehr Bewunderung verdiente, als der Brigadier ihm zollte. Er lag am Boden und blutete aus Stichwunden an Bauch und Hals.

«Ich kann niemanden erreichen!«kreischte die Frau mit dem dünner werdenden Haar. Sie lag auf den Knien über dem Opfer und weinte hysterisch.»Er hat gekämpft wie ein Wahnsinniger, irgendwie wußte er, daß der Priester nicht schießen würde!«

«Drücken Sie die Wunden zusammen, so gut Sie können«, schrie Borowski, als er zum Telefon hinübersah. Es war intakt!

Er lief darauf zu, und anstatt die Rezeption oder die Vermittlung anzurufen, wählte er die Nummer seiner Suite.

«Krupkin?«brüllte Alex.

«Nein, ich! Erstens: Carlos ist im Treppenhaus! Zweitens: Hier wurde ein Mann aufgeschlitzt, gleicher Gang, siebte Tür auf der rechten Seite! Schnell!«

«So schnell ich kann. Ich hab eine freie Leitung zum Büro.«

«Wo, zum Teufel, sind die Leute vom KGB?«

«Gerade angekommen. Krupkin hat erst vor ein paar Sekunden aus der Halle angerufen. Deswegen dachte ich, du wärst…«

«Ich geh zur Treppe!«

«Um Gottes willen, warum?«

«Weil er mir gehört!«Jason rannte zur Tür, die Waffe des Schakals im Anschlag. Er lief die Stufen hinunter und hörte plötzlich das Geräusch seiner eigenen Schuhe. Er blieb auf der siebten Stufe stehen und zog sie aus, dann seine knöchellangen Socken. Die kühle Oberfläche des Marmors erinnerte ihn irgendwie an den Dschungel, die Haut am kühlen, morgendlichen Unterholz — der Dschungel war Delta one immer ein Freund gewesen.

Stockwerk für Stockwerk stieg er nach unten, folgte den unübersehbaren Rinnsalen von Blut, die jetzt größer waren, nicht länger gestillt werden konnten, da die letzte Wunde zu schlimm war, um sie durch bloßen Druck zu schließen. Zweimal hatte der Schakal das Treppenhaus wieder verlassen wollen, im fünften Stock und dann wieder durch die Türen zum Korridor des dritten Stocks, nur um dunkelrote Schlieren zu hinterlassen, als er die Außenschlösser nicht ohne Sicherheitsschlüssel betätigen konnte.

Der zweite Stock, dann der erste, das war's! Carlos saß in der Falle! Irgendwo in den Schatten unter ihm wartete der Tod des

Killers, der David für immer befreien würde! Leise holte Borowski ein Heftchen Streichhölzer aus seiner Tasche. Er kauerte an der Betonwand, riß ein einzelnes Streichholz heraus, legte schützend seine Hände darum und zündete das Heftchen an. Dann warf er es über das Geländer, die Waffe bereit, mit anhaltendem Kugelhagel gegen alles zu explodieren, was sich da unten bewegen würde.

Doch da war nichts — absolut nichts! Der Zementboden war leer, da war niemand! Unmöglich! Jason rannte die letzten Stufen hinunter und schlug an die Tür zur Halle.

«Tschto…?« rief ein Russe von der anderen Seite. »Kto tam?«

«Ich bin Amerikaner! Ich arbeite mit dem KGB zusammen! Lassen Sie mich rein!«

«Tschto…?«

«Ich verstehe«, rief eine andere Stimme.»Und bitte, Sie verstehen, daß viele Waffen auf Sie gerichtet sind, wenn ich die Tür öffne. Haben verstanden?«

«Verstanden!«rief Borowski und dachte in letzter Sekunde daran, seine Waffe auf den Boden fallen zu lassen. Die Tür öffnete sich.

«Da!«sagte der sowjetische Polizeioffizier und korrigierte sich gleich wieder, als er die Maschinenpistole zu Jasons Füßen sah. »Njet!« schrie er.

«Ne sa tschto?« sagte ein atemloser Krupkin und schob seinen stämmigen Körper nach vorn.

«Potschemu?«

«Komitet!«

«Prekrasno.« Der Polizist nickte unterwürfig, blieb aber stehen.

«Was machen Sie da?«wollte Krupkin wissen.»Die Halle ist geräumt, und unser Überfallkommando ist in Stellung!«

«Er war hier!«flüsterte Borowski, als sollte seine angespannte, leise Stimme seine undeutlichen Worte noch unverständlicher machen.

«Der Schakal?«fragte Krupkin erstaunt.

«Er ist die Treppe runtergelaufen! Er konnte in keinem anderen Stockwerk raus. Alle Türen sind von innen verriegelt, sie lassen sich nur mit den Notriegeln öffnen.«

«Skaschi«, sagte der KGB-Beamte auf Russisch zur Hotelwache.»Ist in den letzten zehn Minuten jemand durch diese Tür gekommen, nachdem der Befehl ausgegeben wurde, sie zu versiegeln?«

«Nein!«entgegnete die Wache.»Nur eine hysterische Frau in einem fleckigen Bademantel. Sie war in ihrer Panik im Badezimmer hingefallen und hatte sich geschnitten. Wir dachten, sie würde einen Herzanfall bekommen, so hat sie geschrien. Wir haben sie sofort in die Krankenstation gebracht.«

Krupkin wandte sich Jason zu und wechselte wieder ins Englische.»Nur eine Frau, die sich verletzt hat, ist hier durchgekommen, völlig panisch.«

«Eine Frau? Ist er sicher? Welche Farbe hatte ihr Haar?«

Dimitrij fragte die Wache. Mit der Antwort des Mannes sah er Borowski wieder an.»Er sagt, es war rötlich und ziemlich gelockt.«

«Rötlich?«Vor Jasons Augen entstand ein Bild, ein sehr unangenehmes.»Ein Haustelefon — nein, die Rezeption! Kommen Sie, ich brauche Ihre Hilfe. «Mit Krupkin im Schlepp lief der barfüßige Borowski durch die Halle zu einem Angestellten hinter der Rezeption.»Sprechen Sie englisch?«

«Sicherlich meist gut, sogar viele Dialekte, Mister Sir.«

«Einen Zimmerplan für den zehnten Stock. Schnell.«

«Mister Sir?«

Krupkin übersetzte. Ein großes Notizbuch mit losen Blättern wurde auf den Tresen gelegt, die in Plastik gehüllten Seiten durchgeblättert, bis…

«Dieses Zimmer!«sagte Jason, deutete auf ein Quadrat und bemühte sich, den ängstlichen Angestellten nicht zu beunruhigen.»Holen Sie es ans Telefon! Wenn die Leitung besetzt ist, werfen Sie sie raus.«

Wieder übersetzte Krupkin, und vor Borowski wurde ein Telefon gestellt. Er nahm den Hörer ab und sprach:»Hier ist der Mann, der vor ein paar Minuten in Ihrem Zimmer war…«

«Oh, ja, natürlich, guter Mann. Vielen herzlichen Dank! Der Doktor ist hier, und Binky ist…«

«Ich muß etwas wissen, und ich muß es sofort wissen: Haben Sie Haarteile bei sich, oder Perücken?«

«Ich würde sagen, das ist ziemlich unverschämt…«

«Lady, ich habe keine Zeit für Freundlichkeiten, ich muß es wissen! Haben Sie?«

«Nun, ja, das habe ich. Es ist eigentlich kein Geheimnis, alle meine Freunde wissen es, und sie verzeihen mir den Kunstgriff. Sehen Sie, ich habe Diabetes… mein graues Haar ist schrecklich dünn.«

«Ist eine dieser Perücken rot?«

«Um die Wahrheit zu sagen, ja. Ich…«

Borowski knallte den Hörer auf die Gabel.»Es war Carlos!«

«Kommen Sie mit mir!«sagte Krupkin und lief durch die leere Halle zum Zimmerkomplex im hinteren Teil des Metropol. Sie erreichten die Tür zum Krankenzimmer und stürmten hinein.

Überall auf dem Untersuchungstisch und dem Boden verstreut lagen Rollen von zerrissenen, abgewickelten Mullbinden und Spulen mit Klebeband in verschiedenen Breiten, zerbrochene Spritzen und Antibiotika. Das alles nahmen die beiden Männer allerdings kaum wahr, denn ihre Blicke waren auf die Frau gerichtet, die ihren wahnsinnigen Patienten versorgt hatte. Die Krankenschwester des Metropol lag rückwärts über ihren Stuhl gekrümmt, die Kehle sauber durchschnitten, und über ihre makellose, weiße Uniform lief ein dünner Strom von Blut. Irrsinn!

Dimitrij Krupkin stand neben dem Wohnzimmertisch, während Alex Conklin auf der brokatgeschmückten Couch saß und sein fußloses Bein massierte. Borowski starrte auf den Marx Prospekt hinaus. Alex sah zu dem KGB-Offizier hinüber, ein dünnes Lächeln auf seinem ausgezehrten Gesicht, als auch Krupkin lächelte, den Blick auf Conklin gerichtet. Die beiden tauschten ein wortloses Eingeständnis aus: Sie waren würdige Gegner in einem endlosen, grundlegend nutzlosen Krieg, in dem nur Schlachten gewonnen, die wahren Konflikte aber niemals gelöst werden konnten.

«Dann habe ich also Ihr Versprechen, Genosse«, sagte Krupkin auf russisch,»und offen gesagt, ich werde Sie daran erinnern… Natürlich zeichne ich dieses Gespräch auf! Würden Sie es anders machen?… Gut! Wir verstehen… Ebensogut, wie wir unsere gegenseitigen Verantwortlichkeiten anerkennen, also lassen Sie mich kurz rekapitulieren: Der Mann ist schwer verwundet, daher sind der städtische Taxibetrieb wie auch sämtliche Ärzte und alle Krankenhäuser im Moskauer Bezirk alarmiert. Die Beschreibung des gestohlenen Autos ist ausgegeben worden, und jedes Auftauchen von Mann oder Fahrzeug ist ausschließlich Ihnen zu melden. Die Strafe für das Nichtbeachten dieser Anweisung heißt Lubjanka, das muß klar sein… Gut! Wir haben ein gemeinsames Einverständnis, und ich erwarte, von Ihnen zu hören, sobald Sie irgendwelche Informationen haben, ja?… Beruhigen Sie sich, Genosse. Ich bin mir sehr wohl darüber im klaren, daß Sie mein Vorgesetzter sind, aber schließlich ist das hier eine proletarische Gesellschaft, ja? Befolgen Sie einfach den Rat eines extrem erfahrenen Untergebenen. Einen schönen Tag… Nein, das ist keine

Drohung, nur eine Phrase, die ich in Paris aufgeschnappt habe, amerikanischen Ursprungs, glaube ich. «Krupkin legte den Hörer auf und seufzte.»Ich fürchte, es gibt einiges, was man zugunsten unserer früheren gebildeten Aristokratie sagen könnte.«

«Sag das nicht zu laut«, bemerkte Conklin und nickte zum Telefon hinüber.»Ich schätze, es kommt nichts dabei raus.«

«Es ist übrigens etwas sehr Interessantes, auf makabre Weise äußerst Faszinierendes geschehen.«

«Womit du meinst, daß es Carlos betrifft, nehme ich an.«

«Niemanden sonst. «Krupkin schüttelte seinen Kopf, als Jason ihn vom Fenster her ansah.»Ich bin kurz in meinem Büro gewesen, um das Überfallkommando zu treffen, und auf meinem Schreibtisch lagen acht große braune Umschläge. Die Polizei hat in der Wawilowa einige Unterlagen gefunden und wollte, ganz dem Brauch entsprechend, nichts damit zu tun haben.«

«Was war drin?«fragte Alex.»Staatliche Geheimnisse, die das Politbüro als schwul entlarven?«

«Wahrscheinlich liegst du nicht weit daneben«, unterbrach Borowski.»Das war das Moskauer Kader des Schakals in der Wawilowa. Entweder hat er ihnen gezeigt, welche schmutzigen Geschichten er über sie in Händen hält, oder er hat ihnen die schmutzigen Geschichten über andere geben wollen.«

«In diesem Fall das letztere«, sagte Krupkin.»Eine Sammlung der unsinnigsten Behauptungen gegen die ranghöchsten Köpfe unserer wichtigsten Ministerien.«

«Er hat ganze Stahlkammern voll von diesem Schund. So kauft er sich in Kreise ein, in die er anders nicht einzudringen vermag.«

«Dann drücke ich mich falsch aus«, fuhr der KGB-Offizier fort.»Wenn ich >unsinnig< sage, meine ich genau das: unglaublich, irrsinnig.«

«Er trifft damit aber fast immer ins Ziel.«

«Der Großteil der Informationen ist irgendwelches Zeug aus Revolverblättern der untersten Kategorie, nichts Ungewöhnliches, und neben diesem Unsinn finden sich völlige Verzerrungen von Zeiten, Orten, Funktionen und sogar Identitäten. Zum Beispiel ist das Transportministerium gar nicht da, wo ein bestimmtes Dossier sagt, sondern einen Block weiter, und ein gewisser Genosse >Direktor< ist nicht mit der genannten Dame verheiratet, sondern mit jemand anderem — die erwähnte Frau ist ihre Tochter, und die lebt nicht in Moskau, sondern auf Kuba, schon seit sechs Jahren. Außerdem ist der Mann, der als Chef von Radio Moskau geführt wird und dem man außer Geschlechtsverkehr mit Hunden so ziemlich alles vorwirft, vor elf Monaten gestorben und war als heimlicher orthodoxer Katholik bekannt, der als Priester weit glücklicher gewesen wäre… Allein diese Fehler habe ich in wenigen Minuten entdeckt, und ich bin sicher, es gibt Dutzende mehr…«

«Du willst damit sagen, Carlos ist reingelegt worden?«fragte Conklin.»Alles ist so auffällig — wenn auch mit Sorgfalt zusammengestellt —, daß man vor Gericht darüber lachen würde. Derjenige, der ihm diese melodramatischen Exposes gegeben hat, wollte die Gegenbeweise gleich mitliefern.«

«Rodtschenko?«fragte Borowski.

«Mir fällt kein anderer ein. Grigorij — ich sage Grigorij, auch wenn ich ihn immer den >General< genannt habe war ein vollendeter Stratege und dazu ein zutiefst überzeugter Marxist. Kontrolle war sein Schlagwort, schon fast eine Sucht, und wenn er den berüchtigten Schakal im Interesse seines Vaterlandes unter Kontrolle halten konnte… was für eine Genugtuung für den alten Mann. Dennoch hat ihn der Schakal getötet.«

Das Telefon klingelte, Krupkins Hand fuhr nach unten und nahm ab. »Da?« Er wechselte ins Russische und bedeutete Conklin, während er sprach, sich fertig zu machen.»Jetzt hören Sie mir genau zu, Genosse. Die Polizei darf keine Maßnahmen treffen — vor allem sollen sie außer Sicht bleiben. Setzen Sie eins von unseren Zivilfahrzeugen ein, das den Streifenwagen ablösen soll. Drücke ich mich klar aus?… Gut. Wir gehen auf Frequenz Muräne.«

«Haben wir ihn?«fragte Borowski und trat vom Fenster weg, als Dimitrij den Hörer auf die Gabel knallte.

«Sein Wagen wurde auf der Nemtschinowak in Richtung Odintsowo gesehen.«

«Das sagt mir überhaupt nichts. Was ist in Odintsowo oder wie es heißt?«

«Ich weiß es nicht genau, aber ich nehme an, er weiß es. Denken Sie daran, daß er Moskau und Umgebung genau kennt. Man könnte Odintsowo als Industrievorstadt bezeichnen, fünfunddreißig Minuten von der Innenstadt entfernt…«

Alex kämpfte mit den Velcro-Riemen an seinem Stiefel.

«Laß mich das machen«, sagte Jason, und der Ton seiner Stimme erlaubte keinen Widerspruch.»Warum benutzt Carlos immer noch den Wagen vom Dserschinskij?«fuhr er, an Krupkin gewandt, fort.»Es sieht ihm nicht ähnlich, ein solches Risiko einzugehen.«

«Er hat keine Wahl. Er weiß, daß sämtliche Moskauer Taxis stille Helfer des Staates sind, und schließlich ist er schwer verwundet und inzwischen wohl auch ohne Waffe. Er ist nicht in der Lage, einen Fahrer zu bedrohen oder ein Auto zu stehlen… Außerdem war die Nemtschinowak schnell zu erreichen. Daß der Wagen überhaupt gesehen wurde, ist purer Zufall.«

«Laßt uns gehen!«rief Conklin, unangenehm berührt von Jasons Aufmerksamkeit und seiner eigenen Gebrechlichkeit. Er stand auf, schwankte, stieß Krupkins Hand wütend zurück und ging zur Tür.»Wir können im Wagen reden. Wir vergeuden Zeit.«

«Muräne, bitte kommen«, sagte Krupkin auf russisch, das Mikrofon an den Lippen, seine Hand am Frequenzschalter des Funkgeräts.»Muräne, antworten Sie, wenn Sie mich hören.«

«Was redet er?«fragte Borowski auf dem Rücksitz neben Alex.

«Er versucht, Kontakt zur zivilen KGB-Patrouille zu bekommen, die Carlos auf den Fersen ist. Er schaltet von einer UKW-Frequenz auf die andere. Bei uns heißt es Moray Code.«

«Was?«

«Das ist ein Aal, Jason«, erwiderte Krupkin mit einem Blick nach hinten.»Aus der Familie der Muraenidae mit porenähnlichen Kiemen und der Fähigkeit, in große Tiefen hinabzutauchen.«

«Danke, Peter Lorre«, sagte Borowski.

«Sehr gut«, lachte der KGB-Mann.»Aber Sie müssen zugeben, daß die Bezeichnung ausgesprochen anschaulich ist. Nur sehr wenige Funkgeräte taugen dazu.«

«Wann haben Sie es uns geklaut?«

«Oh, Ihnen nicht, Ihnen ganz und gar nicht. Den Briten, um die Wahrheit zu sagen. Wie üblich hält sich London in diesen Dingen zwar äußerst bedeckt, aber die Engländer sind Ihnen und den Japanern in manchen Bereichen weit voraus. Es ist das verdammte MI-Six. Sie dinieren in ihren Clubs in Knightsbridge, rauchen ihre abscheulichen Pfeifen, spielen die Unschuldigen und schicken uns Überläufer, die am Old Vic ausgebildet wurden.«

«Auch die haben ihre Lücken«, sagte Conklin verteidigend.

«Eher in allen möglichen aufgebauschten Enthüllungen als in der Realität, Aleksej. Du bist zu lange weggewesen. Sie werden mit peinlichen Situationen in der Öffentlichkeit weit besser fertig als wir… Da müssen wir noch dazulernen. Wir begraben unsere >Lücken<, wie du sie nennst. Wir bemühen uns zu sehr um ein Ansehen, das uns nur allzuoft entzogen wird. Und dann, nehme ich an, sind wir, historisch gesehen, vergleichsweise jung. «Krupkin wechselte wieder ins Russische zurück:»Muräne, bitte kommen! Ich komme ans Ende des Spektrums. Wo sind Sie, Muräne?«

«Bleiben Sie da, Genosse!«kam die metallische Stimme über den Lautsprecher.»Wir haben Kontakt. Können Sie mich hören?«

«Sie klingen wie ein Kastrat, aber ich kann Sie hören.«

«Das muß Genosse Krupkin sein…«

«Haben Sie den Papst erwartet? Wer ist da?«

«Orlow.«

«Gut! Sie wissen, was Sie tun.«

«Ich hoffe, Sie auch, Dimitrij.«

«Warum sagen Sie das?«

«Ihr unerträglicher Befehl, nichts zu tun… Wir sind zwei Kilometer von dem Gebäude entfernt, ich bin über eine Wiese auf einen kleinen Hügel gefahren, und wir haben Sichtkontakt zu dem Fahrzeug. Es parkt auf dem Gelände, und der Verdächtige ist drinnen.«

«Welches Gebäude? Welcher Hügel?«

«Das Kubinka-Arsenal.«

Als er das hörte, schoß Conklin auf seinem Sitz nach vorn.»Oh, mein Gott!«rief er.

«Was ist?«fragte Borowski.

«Er ist in einem Arsenal. «Alex sah den fragenden, verwirrten Ausdruck auf Jasons Gesicht.»Hier drüben sind Arsenale verdammt viel mehr als abgeschlossene Paradeplätze für

Legionäre und Reservisten. Es sind echte Ausbildungsstätten und Waffenlager.«

«Er war also nicht auf dem Weg nach Odintsowo«, unterbrach Krupkin.»Das Arsenal liegt weiter südlich am Stadtrand, vier oder fünf Kilometer. Er ist schon dagewesen.«

«Solche Lager müssen doch strengen Sicherheitskontrollen unterliegen«, sagte Borowski.»Er kann doch da nicht einfach reinspazieren.«

«Das ist er schon«, korrigierte der KGB-Offizier.

«Ich meine, in Sperrgebiete, wie Lagerräume voller Waffen.«

«Das ist es, was mir Sorgen macht«, fuhr Krupkin fort.»Wenn er schon mal da war — und das war er offensichtlich —, was weiß er über die Anlage? Wen kennt er da?«

«Schaffen Sie eine Funkverbindung, rufen Sie den Laden, und lassen Sie ihn aufhalten«, beharrte Jason.

«Angenommen, ich erreiche den Falschen, oder angenommen, er hat sich schon bewaffnet, und wir bringen ihn erneut zum Durchdrehen? Mit einem Anruf, einer einzelnen Konfrontation oder auch nur dem Auftauchen eines fremden Wagens könnte es zu einem großen Abschlachten von mehreren Dutzend Männern und Frauen kommen. Wir haben gesehen, wie er sich im Metropol verhalten hat und an der Wawilowa. Er ist vollkommen wahnsinnig.«»Dimitrij«, kam die metallische sowjetische Stimme über das Funkgerät.»Irgendwas geht da vor sich, der Mann ist gerade mit einem Sack aus einer Seitentür gekommen und geht zu seinem Wagen… Genosse, ich bin nicht sicher, ob es derselbe Mann ist. Wahrscheinlich ist er es, aber etwas an ihm hat sich verändert.«

«Was meinen Sie? Die Kleidung?«

«Nein, er trägt einen dunklen Anzug, und sein rechter Arm liegt in einer dunklen Schlinge… Aber er bewegt sich schneller als vorher, sein Schritt ist fester, seine Haltung aufrecht.«

«Sie wollen sagen, daß er nicht verwundet zu sein scheint?«

«Ich glaube, das will ich damit sagen, ja.«

«Es könnte sein, daß er uns was vorspielt«, sagte Conklin.»Es könnte sein, daß der Scheißkerl seine letzte Kraft zusammennimmt und uns davon überzeugen will, daß er für einen Marathon bereit ist.«

«Aber aus welchem Grund, Aleksej? Wozu?«

«Ich weiß nicht, aber wenn dein Mann in diesem Wagen ihn sehen kann, kann er möglicherweise den Wagen sehen und hat es deshalb nur verdammt eilig.«

«Was geht da vor sich?«fragte Borowski böse.

«Irgend jemand ist mit einem Sack voller Überraschungen aus dem Gebäude gekommen und geht zurück zum Wagen«, sagte Conklin auf englisch.

«Haltet ihn auf!«

«Wir sind nicht sicher, ob es der Schakal ist«, unterbrach Krupkin.»Die Kleidung ist die gleiche, die Armschlinge, aber es gibt physische Unterschiede…«

«Dann will er, daß wir glauben, er wäre es nicht!« sagte Jason.

«Tschto?… Was?«

«Er versetzt sich in unsere Lage, denkt, was wir denken, und so ist er uns einen Schritt voraus. Wann sind wir da?«

«So, wie mein unverschämt rücksichtsloser Genosse fährt, würde ich sagen, in drei oder vier Minuten.«

«Krupkin!«Die Stimme platzte aus dem Lautsprecher hervor.»Vier weitere Leute sind rausgekommen, drei Männer und eine Frau. Sie laufen zum Wagen!«

«Was hat er gesagt?«fragte Borowski. Alex übersetzte, und Jason runzelte die Stirn.»Geiseln?«sagte er leise wie zu sich selbst.»Jetzt hat er es versaut!«Delta one beugte sich vor und berührte Krupkin an der Schulter.»Sagen Sie Ihrem Mann, er soll da verschwinden, sobald der Wagen abfährt und er weiß, wohin er fährt. Sagen Sie ihm, er soll sich auffällig verhalten, so laut hupen, wie er kann, wenn er am Arsenal vorbeifährt, was er auf die eine oder andere Weise muß.«

«Würde es Ihnen etwas ausmachen«, explodierte Krupkin,»mir zu erzählen, warum ich so einen Befehl ausgeben sollte?«

«Weil Ihr Kollege recht hatte, und ich unrecht. Der Mann mit der Armschlinge ist nicht Carlos. Der Schakal ist drinnen und wartet darauf, daß die Kavallerie am Fort vorbeireitet, damit er mit einem anderen Wagen flüchten kann…«

«Im Namen unseres verehrten Karl Marx, bitte erklären Sie, wie Sie zu diesem Schluß gekommen sind!«

«Ganz einfach. Er hat einen Fehler gemacht… Selbst wenn Sie es könnten, Sie würden diesen Wagen nicht auf offener Straße unter Feuer nehmen, oder?«

«Stimmt. Da drin sitzen vier andere Leute, zweifellos sowjetische Bürger, die gezwungen werden, als etwas anderes zu erscheinen.«

«Geiseln?«

«Ja, natürlich.«

«Und wann haben Sie das letzte Mal von Leuten gehört, die sich freiwillig in eine Situation begeben haben, in der sie zu Geiseln werden konnten? Selbst wenn sie von der Tür aus mit einer Waffe bedroht wurden, hätten einer oder zwei, wenn nicht alle, versucht, hinter andere Wagen zu laufen, um in Deckung zu gehen.«

«Mein Wort…«

«Aber in einer Sache hatten Sie recht. Carlos hatte Kontakt innerhalb des Arsenals — der Mann mit der Schlinge. Vielleicht ist er nur ein unschuldiger Russe mit einem Bruder oder einer Schwester in Paris, aber er gehört dem Schakal.«

«Dimitrij!«rief die metallische Stimme auf russisch.»Der Wagen rast davon.«

Krupkin drückte den Knopf an seinem Mikrofon und gab seine Anweisungen. Im wesentlichen sollten sie dem Auto folgen, wenn nötig, bis an die finnische Grenze, es aber ohne Gewalt übernehmen und, wenn nötig, die Polizei rufen. Der letzte Befehl war, am Arsenal vorbeizufahren und mehrmals zu hupen. Im russischen Jargon fragte der Agent namens Orlow:»Wozu der Scheiß?«

«Weil ich eine Eingebung vom Nikolaus hatte! Tun Sie es!«

«Ihnen geht's nicht gut, Dimitrij.«

«Wollen Sie einen erstklassigen Dienstbericht oder einen, der Sie nach sonstwo schickt?«

«Bin schon auf dem Weg, Genosse.«

Krupkin hängte das Mikrofon zurück in die Halterung am Armaturenbrett.»Alles geht seinen Gang«, sagte er zögernd.»Wenn ich entweder mit einem wahnsinnigen Attentäter oder einem verdrehten Irren untergehen soll, der einen gewissen Anstand zeigt, nehme ich an, ist es das beste, letzteren zu wählen. Entgegen den erleuchtetsten Ungläubigen mag es am Ende doch einen Gott geben… Hättest du Interesse, ein Haus am Genfer See zu kaufen, Aleksej?«

«Ich vielleicht«, antwortete Borowski.»Wenn ich diesen Tag überlebe und tue, was ich tun muß, nennen Sie mir einen Preis.«

«He, David«, mischte sich Conklin dazwischen.»Marie hat das Geld verdient, nicht du.«

«Sie wird auf mich hören. Auf ihn.«

«Was jetzt, wer immer Sie sind?«fragte Krupkin.»Geben Sie mir aus Ihrem Kofferraum alle Waffen, die Sie haben, und lassen Sie mich kurz vor dem Arsenal unbemerkt raus. Geben Sie mir zwei Minuten, um in Stellung zu gehen, dann biegen Sie auf den Parkplatz ein und entdecken offensichtlich, sehr offensichtlich, daß der Wagen weg ist, und hauen schnell ab, mit heulendem Motor.«»Und lassen dich allein?«rief Alex.

«Das ist die einzige Möglichkeit für mich, ihn zu erwischen.«

«Wahnsinn!«stieß Krupkin mit mahlendem Unterkiefer aus.

«Nein, Kruppie, Realität«, sagte Jason Borowski schlicht und einfach.»Wie schon ganz zu Anfang. Einer gegen einen, das ist die einzige Möglichkeit.«

«Das sind die Worte eines Oberschülers!«polterte der Russe und schlug mit der Hand gegen die Rückseite des Sitzes.»Und was noch schlimmer ist: Es ist eine lächerliche Strategie. Wenn Sie recht haben, kann ich das Arsenal von tausend Soldaten umstellen lassen!«

«Was genau das wäre, was er will — was auch ich wollen würde, wenn ich Carlos wäre. Verstehen Sie denn nicht? Er könnte im Durcheinander entkommen, in der Masse der Leute — so was wäre für keinen von uns beiden ein Problem, das haben wir schon zu oft gemacht. Menschenmengen und Angst sind ein Schutz. Ein Messer in eine Uniform, die Uniform gehört uns. Wirf eine Granate in die Truppe, und nach der Explosion sind wir eines der schwankenden Opfer. Das ist ein Kinderspiel…«

«Und was glaubst du, kannst du alleine ausrichten, Batman?«fragte Conklin, während er wütend sein nutzloses Bein massierte.

«Den Killer jagen, der mich töten will, und ich werde ihn erwischen.«

«Scheiße, du bist größenwahnsinnig!«

«Du hast absolut recht. Das ist die einzige Möglichkeit in diesem Spiel, der einzige Vorteil, den man haben kann.«

«Wahnsinn!« schrie Krupkin.

«Auch die gesamte russische Armee könnte mein Überleben nicht sichern — sonst würde ich danach schreien. Aber sie könnte es nicht. Es gibt nur diese eine Möglichkeit… Stoppen Sie den Wagen, und lassen Sie mich die Waffen wählen.«

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