Taormina, Sizilien 1968
Sie wurde jeden Morgen von den Glocken der Kirche San Domenico geweckt, die hoch auf den Taormina umgebenden Peloritani stand. Sie genoss es, langsam aufzuwachen und sich träge wie eine Katze zu strecken. Sie behielt die Augen geschlossen, weil sie wusste, dass es etwas Wunderbares gab, woran sie sich erinnern konnte.
Was war es nur?
Die Antwort drängte sich ihr auf, aber sie stieß sie zurück, weil sie sie noch nicht wissen, weil sie die Überraschung genießen wollte. Und dann überflutete das Glücksgefühl sie plötzlich. Sie war Lucia Maria Carmine, die Tochter Angelo Carmines, und das genügte, um jedes Mädchen glücklich zu machen.
Die fünfzehnjährige Lucia wohnte in einer riesigen Traumvilla mit mehr Personal, als sie zählen konnte. Jeden Morgen wurde sie von einem Leibwächter in einer gepanzerten Limousine in die Schule gefahren. Sie wuchs mit den schönsten Spielsachen und den hübschesten Kleidern Siziliens auf und wurde von ihren Schul-freundinnen glühend beneidet.
Trotzdem stand Lucias Vater im Mittelpunkt ihres Lebens. In ihren Augen war er der bestaussehende Mann der Welt. Er war klein und stämmig und besaß ein energisches Gesicht mit kraftvoll blitzenden braunen Augen. Angelo Carmine hatte zwei Söhne - Arnaldo und Vitto-rio -, aber seine Tochter war sein Liebling. Und Lucia betete ihn an. Wenn der Pfarrer in der Kirche von Gott sprach, dachte sie stets an ihren Vater.
Morgens kam er an ihr Bett und sagte: »Aufstehen, sonst kommst du zu spät zur Schule, faccia d’ angelo.« Engelsgesicht.
Das stimmte natürlich nicht. Lucia wusste, dass sie nicht wirklich schön war. Du bist attraktiv, dachte sie, während sie sich objektiv im Spiegel betrachtete. Ja -nicht schön, aber sehr attraktiv. Der Spiegel zeigte ihr ein junges Mädchen mit ovalem Gesicht, makellosem Teint, gleichmäßigen weißen Zähnen, energischem Kinn - zu energisch? -, vollen Lippen - zu voll? - und dunklen, wissenden Augen. Was ihrem Gesicht vielleicht zu wahrer Schönheit fehlte, machte ihr Körper jedoch mehr als wett. Mit fünfzehn hatte Lucia den Körper einer Frau mit großen, festen Brüsten, schmaler Taille und schwellenden Hüften, die Sinnenfreuden versprachen.
»Wir werden dich frühzeitig verheiraten müssen«, neckte ihr Vater sie gelegentlich. »Die jungen Männer werden bald pazzo sein, wenn sie dich sehen, meine kleine Jungfrau.«
»Ich möchte einen Mann wie dich, Papa, aber es gibt keinen wie dich.«
Ihr Vater lachte. »Keine Angst, wir finden einen Märchenprinzen für dich. Du bist unter einem Glücksstern geboren, und eines Tages wirst du wissen, wie es ist, von einem Mann in den Armen gehalten und geliebt zu werden.«
»Ja, Papa«, sagte Lucia und errötete.
Es stimmte, dass sie von keinem Mann geliebt worden war - seit zwölf Stunden nicht mehr. Wenn ihr Vater auf Geschäftsreise war, kam Benito Patas, einer ihrer Leibwächter, regelmäßig in ihr Bett. Dass Benito sie in ihrem Haus liebte, machte alles um so aufregender, denn Lucia wusste, dass ihr Vater sie beide umgebracht hätte, hätte er sie dabei ertappt.
Benito war Anfang Dreißig und fühlte sich geschmeichelt, dass die schöne jungfräuliche Tochter des großen Angelo Carmine sich gerade von ihm hatte entjungfern lassen.
»Ist’s so gewesen, wie du’s dir gedacht hast?« fragte er sie, nachdem sie zum ersten Mal mit ihm geschlafen hatte.
»O ja!« flüsterte Lucia. »Besser.«
Obwohl er nicht so gut wie Paolo, Mario, Tony oder Enrico ist, dachte sie, ist er jedenfalls besser als Leo und Roberto. An die Namen all ihrer sonstigen Liebhaber konnte sie sich nicht mehr erinnern.
Mit dreizehn hatte Lucia das Gefühl gehabt, lange genug eine Jungfrau gewesen zu sein. Sie hatte Umschau gehalten und entschieden, der Glückliche solle Paolo Costello sein, der Sohn von Angelo Carmines Hausarzt. Paolo war siebzehn, groß gewachsen, athletisch und der Starfußballer seiner Schule.
Lucia hatte sich auf den ersten Blick in Paolo verliebt und es seitdem geschafft, ihm bei allen möglichen Gelegenheiten immer wieder über den Weg zu laufen. Paolo wäre nie auf die Idee gekommen, ihre »zufälligen« Begegnungen könnten sorgfältig geplant sein. In seinen Augen war die attraktive Tochter Angelo Carmines noch ein Kind. Aber an einem heißen Augusttag hatte Lucia nicht länger warten wollen. Sie hatte Paolo angerufen.
»Paolo, hier ist Lucia Carmine. Mein Vater möchte etwas mit dir besprechen und lässt dich fragen, ob du heute Nachmittag in unseren Pavillon am Swimming-pool kommen könntest.«
Paolo war überrascht und erfreut zugleich. Er hatte großen Respekt vor Angelo Carmine und nicht einmal gewusst, dass der mächtige Mafioso von seiner Existenz Kenntnis genommen hatte. »Mit Vergnügen!« antwortete er eifrig. »Wann soll ich denn kommen?«
»Um fünfzehn Uhr.«
Während der Siesta, wenn alle Welt schlief. Der Pavillon am Swimming-pool stand weit von ihrer Villa entfernt, und ihr Vater war verreist. Unliebsame Störungen waren also ausgeschlossen.
Paolo erschien pünktlich zur vereinbarten Zeit. Das Parktor stand offen, und er ging sofort zum Pavillon. Vor der geschlossenen Tür blieb er stehen und klopfte an. »Signore Carmine? Pronto...?«
Keine Antwort. Paolo sah auf seine Uhr. Dann öffnete er vorsichtig die Tür und trat ein. Im Pavillon war es bei heruntergelassenen Jalousien dunkel.
»Signore Carmine?«
Eine Gestalt kam auf ihn zu. »Paolo.«
Er erkannte Lucias Stimme. »Lucia, ich suche deinen Vater. Ist er hier?«
Sie stand jetzt dicht vor ihm - so dicht, dass Paolo erkennen konnte, dass sie splitterfasernackt war.
»Großer Gott!« ächzte Paolo. »Was.?«
»Ich möchte, dass du mich liebst.«
»Du bist japazza! Du bist noch ein Kind. Ich haue lieber ab!« Er wollte zur Tür.
»Geh nur! Ich erzähle meinem Vater, dass du mich vergewaltigt hast.«
»Nein, das tust du nicht!«
»Wenn du gehst, wirst du’s erleben.«
Paolo blieb stehen. Er wusste genau, was ihm blühte, falls Lucia ihre Drohung wahr machte. Die Kastration war dann nur der Anfang.
Er kam zu Lucia zurück, um vernünftig mit ihr zu reden. »Liebste Lucia.«
»Mir gefällt’s, wenn du Liebste zu mir sagst.«
»Nein. Hör zu, Lucia, diese Sache ist todernst. Dein Vater bringt mich um, wenn du behauptest, ich hätte dich vergewaltigt.«
»Ich weiß.«
Er nahm einen neuen Anlauf. »Mein Vater wäre ruiniert. Meine ganze Familie wäre ruiniert.«
»Ich weiß.«
Es war aussichtslos. »Was willst du von mir?«
»Ich will, dass du’s mit mir machst.«
»Nein! Das ist unmöglich. Dein Vater würde mich umbringen, wenn er’s rauskriegte.«
»Und wenn du jetzt gehst, bringt er dich auch um. Nicht viel Auswahl, was?«
Er starrte sie erschrocken an. »Warum gerade ich, Lucia?«
»Weil ich dich liebe, Paolo!« Sie fasste seine Hände und drückte sie sanft zwischen ihre Beine. »Ich bin eine Frau. Sorg dafür, dass ich mich wie eine fühle.«
Im Halbdunkel sah Paolo die Zwillingshügel ihrer Brüste, die aufgerichteten Brustspitzen und das weiche dunkle Haar zwischen ihren Beinen.
Jesus, dachte Paolo, ich bin schließlich auch nur ein Mann.
Sie führte ihn zur Couch und half ihm, Hose und Unterhose auszuziehen. Als sie vor ihm niederkniete, seine harte Männlichkeit in den Mund nahm und sanft daran saugte, dachte er: Das tut sie nicht zum ersten Mal. Und als er auf ihr lag und tief in sie hineinstieß, während ihre Arme ihn umschlangen und ihre Hüften sich ihm gierig entgegenreckten, dachte er: Mein Gott, sie ist wunderbar.
Lucia fühlte sich wie im siebten Himmel. Es war, als sei sie zur Liebe geboren. Sie wusste instinktiv genau, was sie zu tun hatte, um Paolo und sich selbst Lust zu bereiten. Ihr ganzer Körper schien in Flammen zu stehen. Sie spürte, wie sie immer größere Höhen erreichte, und als sie endlich auf dem Höhepunkt angelangt war, schrie sie ihre Lust laut hinaus. Danach lagen sie beide erschöpft und schweratmend nebeneinander.
Lucia sprach als erste. »Morgen zur gleichen Zeit«, sagte sie.
Als Lucia sechzehn war, beschloss Angelo Carmine, seine Tochter müsse nun etwas von der Welt sehen. In Gesellschaft ihrer ältlichen Tante Rosa verbrachte Lucia ihre Ferien auf Capri und Ischia, in Rom, Venedig und einem Dutzend weiterer Städte.
»Du sollst eine Frau mit Kultur werden - kein Bauer wie dein Papa. Reisen vervollständigt deine Bildung. Auf Capri besucht Tante Rosa mit dir das Kartäuserkloster, die Kapelle San Michele und die Villen des Tiberius.«
»Ja, Papa.«
»In Venedig besichtigt ihr die Markuskirche, den Dogenpalast, die Kirche San Gregorio und das Museum des achtzehnten Jahrhunderts.«
»Ja, Papa.«
»Rom ist die Schatzkammer der Welt. Dort müsst ihr den Vatikan, den Petersdom, die Basilika Santa Maria Maggiore und natürlich die Galleria Borghese besuchen.«
»Ja, Papa.«
»Und erst Mailand! Ihr müsst zu einem Konzert im Konservatorium gehen. Und ich besorge Tante Rosa und dir Karten für die Scala. Ihr besichtigt den Dom, den Palazzo di Brera, den Palazzo Poldi-Pezzoli und Dutzende von weiteren Kirchen und Museen.«
»Ja, Papa.«
Dank sorgfältiger Planung gelang es Lucia, nur sehr wenige dieser langweiligen Kirchen und Museen kennen zu lernen. Tante Rosa bestand darauf, jeden Nachmittag ihre Siesta zu halten und abends sehr früh zu Bett zu gehen.
»Du brauchst auch deinen Schlaf, Kind.«
»Gewiss, Tante Rosa.«
Und während Tante Rosa den Schlaf der Gerechten schlief, tanzte Lucia auf Capri im Quisisana, fuhr mit einer Kutsche, gezogen von einem mit Federbüschen geschmückten Klepper, fand in Marina Piccola Anschluss an Studenten, wurde zu Picknicks bei den Tiberi-usbädern eingeladen und fuhr mit der Seilbahn nach A-nacapri hinauf, wo sie mit einer Gruppe französischer Studenten auf der Piazza Umberto feierte.
In Venedig ging ein hübscher Gondoliere mit ihr in die Disco, und in Chioggia nahm ein Fischer sie zum Fischen mit. In Rom trank Lucia Wein aus Apulien und entdeckte all die frechen In-Lokale wie Märte und Ranieri und Giggi Fazi. Und Tante Rosa schlief.
Wohin Lucia auch reiste, fand sie versteckte kleine Bars und Nachtclubs und romantische, gutaussehende Männer und dachte oft: Dein Heber Papa hat recht gehabt. Reisen hat deine Bildung vervollständigt.
Im Bett hatte sie Gelegenheit, mehrere Sprachen zu üben, und dachte dabei: Das macht sehr viel mehr Spaß als der Fremdsprachenunterricht in der Schule.
Nach ihrer Rückkehr nach Taormina vertraute Lucia ihren engsten Freundinnen an: »Ich bin in Neapel nackt und in Ancona angetörnt gewesen und hab’ mich in Bologna befummeln und in Venedig vögeln lassen.«
Sizilien selbst war ein Wunder, das sich zu erforschen lohnte: eine Insel mit griechischen Tempeln, römischbyzantinischen Amphitheatern, christlichen Kirchen, arabischen Bädern und Stauferkastellen.
Lucia fand Palermo lärmend und lebhaft und genoss es, durch die Kalsa, das alte arabische Viertel, zu streifen oder die Opera dei Pupi, das Marionettentheater, zu besuchen. Am liebsten war sie jedoch in ihrem Geburtsort Taormina, einer Bilderbuchstadt hoch über dem Ionischen Meer. Taormina war eine Stadt mit schönen alten Plätzen, an denen sich Juweliere und Modegeschäfte, Bars, Restaurants und elegante Hotels wie das Excelsior Palace und das San Domenico drängten.
Die vom Hafen Nachos heraufführende kurvenreiche Straße war steil, schmal und gefährlich, und nachdem Lucia zum achtzehnten Geburtstag einen Sportwagen geschenkt bekommen hatte, verstieß sie gegen sämtliche Verkehrsvorschriften, ohne jemals von den Carabinieri angehalten zu werden. Schließlich war sie Angelo Carmines Tochter.
Für jeden, der dumm oder mutig genug war, um sich danach zu erkundigen, war Angelo Carmine in der Immobilienbranche tätig. Und das stimmte zum Teil sogar, denn seine Familie besaß die Villa in Taormina, ein Haus in Cernobbia am Comersee, eine Ferienwohnung im schweizerischen Gstaad, ein Apartment in Rom und ein Weingut in der Toskana. Darüber hinaus war Angelo Carmine jedoch auch in anrüchigeren Branchen tätig. Ihm gehörten ein Dutzend Bordelle, zwei Spielkasinos, eine Kokainplantage in Kolumbien sowie weitere sehr lukrative Unternehmen wie eine Kreditbank, die Geld zu Wucherzinsen verlieh.
Angelo Carmine war der Capo der sizilianischen Mafiosi - deshalb war es nur angemessen, dass er gut lebte. Sein Lebensstil war eine Inspiration für andere: ein herzerwärmender Beweis dafür, dass ein armer siziliani-scher Bauer, der strebsam und fleißig war, es zu Erfolg und Reichtum bringen konnte.
Mit zwölf Jahren hatte Angelo Carmine als Laufbursche bei einem Mafioso angefangen. Mit fünfzehn war er bereits Schuldeneintreiber eines Kredithais gewesen, und als Sechzehnjähriger hatte er seinen ersten Mord verübt. Zwei Jahre später hatte er Anna Cisaro, Lucias Mutter, geheiratet. In den darauf folgenden Jahren hatte Carmine den schwierigen Aufstieg bis an die Spitze der siziliani-schen Mafia geschafft und dabei eine lange Reihe toter Feinde hinter sich zurückgelassen. Er war aufgestiegen, aber Anna war das einfache Bauernmädchen geblieben, das er einst geheiratet hatte. Sie gebar ihm drei wohlgeratene Kinder, aber danach hatte sie nichts mehr zu seinem Leben beizutragen. Als ob sie sich bewusst sei, dass ihre Familie sie nicht mehr brauche, starb sie gefälligerweise und war noch rücksichtsvoll genug, still und bescheiden abzutreten.
Arnaldo und Vittorio waren in den Unternehmen ihres Vaters tätig, und als kleines Mädchen belauschte Lucia manchmal die aufregenden Gespräche zwischen ihrem Vater und ihren Brüdern und hörte sie erzählen, wie sie Gegner mit List oder Gewalt ausgeschaltet hatten. Für Lucia war ihr Vater ein Ritter in schimmernder Wehr. Sie sah nichts Böses in dem, was er und ihre Brüder taten. Im Gegenteil - sie halfen den Menschen. Weshalb sollten Leute, die gern spielen, durch dumme Gesetze daran gehindert werden? War es nicht menschenfreundlich, Männern zu helfen, die Spaß daran hatten, für Sex zu bezahlen? Und wie großzügig von ihrem Vater und ihren Brüdern, dass sie Leuten, die von hartherzigen Bankiers abgewiesen worden waren, gutes Geld liehen!
In Lucias Augen waren ihr Vater und ihre Brüder musterhafte Staatsbürger. Den Beweis dafür lieferten die Freunde Angelo Carmines. Was für hochgestellte Persönlichkeiten sich an seinem Tisch versammelten, wenn er einmal in der Woche ein großes Diner gab! Der Oberbürgermeister, mehrere Stadträte und ein, zwei Richter saßen mit dem Polizeichef und gelegentlich einem Monsignore zwischen Filmstars und Opernsängern. Mehrmals im Jahr gab sich auch der Regierungspräsident die Ehre.
Lucia führte ein idyllisches Leben mit Partys, schönen Kleidern, Juwelen, Luxusautos, Dienstboten und einflussreichen Freunden. Aber an einem Februartag, ihrem einundzwanzigsten Geburtstag, endete das alles abrupt.
Das Ende kündigte sich scheinbar harmlos an. Zwei Männer erschienen in der Villa und wünschten ihren Vater zu sprechen. Der eine war sein Freund, der Polizeichef; der andere war sein Stellvertreter.
»Ich bitte vielmals um Entschuldigung, Padrone«, begann der Polizeichef, »aber der Polizeipräsident besteht auf der Einhaltung einer dummen Formalität. Wenn Sie so freundlich sein wollen, uns jetzt aufs Revier zu begleiten, Padrone, sorge ich dafür, dass Sie rechtzeitig zur Geburtstagsfeier Ihrer Tochter zurück sind.«
»Kein Problem«, sagte Angelo Carmine freundlich. »Sie tun schließlich nur Ihre Pflicht.« Er grinste. »Dieser neue von Rom ernannte Polizeipräsident ist ein ganz Eifriger, was?«
»Ja, das stimmt leider.« Der Polizeichef seufzte. »Aber machen Sie sich seinetwegen keine Sorgen. Sie und ich haben solche lästigen Leute oft genug kommen und sehr schnell wieder gehen sehen, stimmt’s, Padrone?«
Die Männer verließen lachend das Haus.
Angelo Carmine kam weder an diesem Abend zur Party noch am nächsten Tag wieder heim. Tatsächlich sah er keines seiner Häuser jemals wieder. Die gegen ihn erhobene Anklage warf ihm über hundert Verbrechen wie Mord, Drogenhandel, Zuhälterei, Brandstiftung und Dutzende von weiteren Straftaten vor. Eine Haftentlassung gegen Kaution wurde abgelehnt. Die Polizei fahndete nach Carmines Leuten und nahm die meisten von ihnen fest. Er hatte damit gerechnet, seine einflussreichen sizi-lianischen Freunde würden erreichen, dass die Anklage niedergeschlagen wurde, aber stattdessen wurde er mitten in der Nacht nach Rom abtransportiert und dort ins berüchtigte Gefängnis Regina Coeli gesteckt. Das war empörend! Geradezu unglaublich!
Anfangs war Carmine noch der Überzeugung, dass Tommaso Contorno, sein Rechtsanwalt, ihn sehr bald freibekommen werde.
Als der Anwalt ihn im Gefängnis besuchte, wütete Carmine: »Sie haben meine Bordelle geschlossen, meinen Drogenhandel zum Erliegen gebracht und wissen alles über meine Geldwaschtricks! Irgendjemand muss ausgepackt haben. Bringt mir seine Zunge!«
»Machen Sie sich keine Sorgen, Padrone«, beschwichtigte Contorno ihn. »Keine Angst, wir finden ihn.«
Sein Optimismus erwies sich als unbegründet. Um die Belastungszeugen zu schützen, weigerte die Staatsanwaltschaft sich kategorisch, ihre Namen vor Prozeßbeginn bekannt zu geben.
Zwei Tage vor Prozeßbeginn wurden Carmine und seine Mafiosi in das Hochsicherheitsgefängnis Rebibbia Prigione, zwanzig Kilometer außerhalb Roms verlegt. Ein in der Nähe liegendes Gerichtsgebäude war festungsartig ausgebaut worden. Die hundert -achtundfünfzig Mafiosi wurden in Handschellen und Ketten durch einen unterirdischen Gang in den Saal geführt und in dreißig Käfige mit Stahlgittern und Panzerglas gesperrt. Das Gebäude wurde scharf bewacht, und Prozessbeobachter mussten sich einer Leibesvisitation unterziehen, bevor sie den Gerichtssaal betreten durften.
Als Angelo Carmine in den Saal geführt wurde, machte sein Herz einen Freudensprung, denn der Vorsitzende Richter war Giovanni Buscetta, der seit über einem Jahrzehnt in seinem Sold stand und häufig in seinem Haus zu Gast gewesen war. Bei seinem Anblick wusste Carmine, dass die Gerechtigkeit nun endlich ihren Lauf nehmen würde.
Das Verfahren wurde eröffnet. Angelo Carmine vertraute darauf, dass die Omerta, die sizilianische Schweigepflicht, ihn schützen würde. Aber zu seiner Verblüffung war der Hauptbelastungszeuge kein anderer als sein Leibwächter Benito Patas. Patas hatte der Familie Carmine so lange treu gedient, dass er selbst an vertraulichen Besprechungen hatte teilnehmen dürfen, und da bei diesen Gelegenheiten alle nur vorstellbaren Straftaten besprochen worden waren, war Patas ein für die Anklagebehörde höchst wertvoller Zeuge.
Die Polizei hatte Benito Patas, der den neuen Freund seiner Geliebten kaltblütig erstochen hatte, schon wenige Minuten nach der Tat festgenommen. Als der Staatsanwalt ihm mit lebenslänglicher Haft gedroht hatte, war Patas widerstrebend bereit gewesen, gegen Carmine auszusagen, um mit einer leichteren Strafe davonzukommen. Jetzt saß Carmine auf der Anklagebank und musste ungläubig entsetzt mit anhören, wie Patas als Belastungszeuge die größten Geheimnisse seines Imperiums preisgab.
Auch Lucia war jeden Tag im Gerichtssaal und hörte zu, wie der Mann, der ihr Liebhaber gewesen war, ihren Vater und ihre Brüder zugrunde richtete.
Mit Benito Patas’ Aussage war der Damm gebrochen. Nun meldeten sich Dutzende von Zeugen, um zu schildern, was Angelo Carmine und seine Mafiosi ihnen angetan hatten. Die Mafia hatte ganze Geschäftszweige unter ihre Kontrolle gebracht, Schutzgelder erpresst, Frauen zur Prostitution gezwungen, Widerspenstige zu Invaliden gemacht oder ermordet und unzählige junge Menschen in die Drogenabhängigkeit getrieben. Die Liste ihrer Untaten war endlos lang.
Noch schädlicher für Angelo Carmine und seine Söhne waren die Zeugenaussagen der Pentiti - reumütiger ehemaliger Mafiosi, die auszupacken beschlossen hatten.
Lucia durfte ihren Vater im Gefängnis besuchen.
Er begrüßte sie fröhlich, umarmte sie und flüsterte dabei: »Mach dir keine Sorgen, facda del angelo. Richter Buscetta ist mein Trumpf im Ärmel. Er kennt alle Tricks und Gesetzeslücken. Er sorgt dafür, dass ich und deine Brüder freigesprochen werden oder mit ein paar Jahren Haft davonkommen.«
Angelo Carmine erwies sich als schlechter Prophet.
Die italienische Öffentlichkeit war über die Exzesse der Mafia empört, und als es um die Festsetzung des Strafmaßes ging, verurteilte Richter Giovanni Buscetta, der politische Strömungen feinfühlig registrierte, die Mafiosi zu langen Haftstrafen. Carmine und seine Söhne erhielten die nach italienischem Recht mögliche Höchststrafe: lebenslänglich, was achtundzwanzig Jahren Gefängnis entsprach.
Für Angelo Carmine kam das einem Todesurteil gleich.
Ganz Italien jubelte. Endlich hatte die Gerechtigkeit triumphiert! Aber für Lucia war das alles ein unvorstellbarer Alptraum. Die drei Männer, die sie am meisten liebte, waren dazu verdammt worden, in einer Hölle weiterzuleben.
Lucia durfte ihren Vater erneut in der Haft besuchen. Die Veränderung, die über Nacht in ihm vorgegangen war, brach ihr fast das Herz. Binnen weniger Tage war er ein alter Mann geworden. Er ließ Kopf und Schultern hängen, und seine sonst so rosig gesunde Gesichtsfarbe war blässlich geworden.
»Sie haben mich verraten«, jammerte er, »sie haben mich alle verraten. Richter Buscetta - ich habe ihn in der Tasche gehabt, Lucia! Durch mich ist er reich geworden, und jetzt hat er mir das angetan. Und Benito Patas. Ich bin wie ein Vater zu ihm gewesen. Wie kann man so tief sinken? Gibt’s denn kein Ehrgefühl mehr? Sie sind doch Sizilianer wie ich!«
Lucia ergriff die Hand ihres Vaters. »Und ich bin Sizilianerin, Papa«, sagte sie leise. »Du sollst deine Rache haben, das schwöre ich dir bei meinem Leben.«
»Mein Leben ist vorbei«, erklärte er ihr trübselig. »Aber du hast deines noch vor dir. Ich habe ein Nummernkonto bei der Züricher Bank Leu. Darauf ist mehr Geld, als du in zehn Leben ausgeben kannst.« Er flüsterte ihr die Kontonummer ins Ohr. »Sieh zu, dass du aus diesem verdammten Italien raus kommst. Nimm das Geld und mach dir ein schönes Leben.«
Lucia drückte ihn an sich. »Papa.«
»Solltest du jemals einen Freund brauchen, kannst du dich auf Dominique Dureil verlassen. Wir sind wie Brüder zueinander. Er wohnt in Frankreich - in Beziers, in der Nähe der spanischen Grenze.«
»Gut, ich denke daran.«
»Versprich mir, dass du aus Italien weggehst.«
»Ja, Papa. Aber erst habe ich noch etwas zu erledigen.«
Lucia musste bald feststellen, dass es nicht leicht sein würde, ihren brennenden Rachedurst zu stillen. Da sie allein war, würde sie sich etwas Besonderes einfallen lassen müssen. Schließlich dachte sie an die italienische Redensart „Rubare il mestiere “. Man stiehlt ihren Beruf. Du musst lernen, wie sie zu denken.
Einige Wochen nach dem Strafantritt ihres Vaters und ihrer Brüder klingelte Lucia Carmine an Richter Buscet-tas Haustür. Der Richter öffnete sie ihr selbst.
Buscetta starrte Lucia überrascht an. Er war ihr oft im Hause ihres Vaters begegnet, aber sie hatten nie mehr als ein paar Worte miteinander gewechselt.
»Lucia Carmine! Was führt Sie zu mir? Sie hätten.« »Ich bin gekommen, um Ihnen zu danken, Euer Ehren.« Er musterte sie misstrauisch. »Wofür wollen Sie mir danken?«
Lucia sah ihm tief in die Augen. »Dafür, dass Sie meinen Vater und meine Brüder entlarvt haben. Ich habe ahnungslos in diesem Haus des Schreckens gelebt. Ich habe nie gewusst, was für Ungeheuer.« Sie brach in Tränen aus.
Der Richter zögerte noch, aber dann klopfte er ihr beruhigend auf die Schulter. »Nicht weinen, mein Kind.
Kommen Sie, wir trinken eine Tasse Tee miteinander.«
»D-d-danke.«
»Ich habe gar nicht geahnt, dass Sie Ihren Vater kritisch sehen«, sagte Buscetta, als sie in seinem Wohnzimmer saßen. »Ich habe den Eindruck gehabt, Sie verstünden sich sehr gut mit ihm.«
»Aber nur, weil ich nicht gewusst habe, was für Teufel er und meine Brüder in Wirklichkeit sind! Als mir die Augen aufgegangen sind.« Lucia fuhr zusammen. »Sie können sich nicht vorstellen, was ich mitgemacht habe«, sagte sie leise. »Ich wollte fort, aber ich konnte einfach nicht!«
»Das habe ich nie geahnt.« Er tätschelte ihre Hand. »Ich fürchte, ich habe Sie falsch gesehen, meine Liebe.«
»Ich habe in Angst und Schrecken vor ihm gelebt!« beteuerte sie leidenschaftlich.
Richter Buscetta fiel wieder einmal auf, dass Lucia eine ausgesprochen schöne junge Frau war. Sie trug ein schlichtes schwarzes Kleid, das ihre üppigen Reize vorteilhaft zur Geltung brachte. Er warf einen Blick in ihren tiefen Ausschnitt und stellte fest, dass sie wirklich sehr erwachsen geworden war.
Es wäre amüsant, dachte Buscetta, mit Carmines Tochter zu schlafen. Er kann mir jetzt nichts mehr anhaben. Der alte Ganove hat geglaubt, mich in der Tasche zu haben - aber ich bin zu clever für ihn gewesen. Als Sizilianerin ist Lucia wahrscheinlich noch Jungfrau. Im Bett könnte ich ihr bestimmt einiges beibringen.
Seine ältliche Haushälterin brachte ein Tablett mit Teegeschirr und einem Teller Biskuits herein und stellte es auf die Anrichte. »Soll ich eingießen, Signore?«
»Überlassen Sie das mir«, schlug Lucia vor. Ihre Stimme klang warm und verheißungsvoll.
Richter Buscetta lächelte ihr zu. »Danke, Sie können gehen, Eleonora.«
»Ja, Signore.«
Buscetta sah zu, wie Lucia zur Anrichte ging und sorgfältig zwei Tassen Tee für den Richter und sich einschenkte.
»Ich habe das Gefühl, dass wir sehr gute Freunde werden könnten, Lucia«, sagte Giovanni Buscetta lauernd.
Lucia lächelte verführerisch. »Das würde mir sehr gut gefallen, Euer Ehren.«
»Bitte. Giovanni.«
»Giovanni.« Lucia gab ihm seine Tasse. Sie hob ihre wie zu einem Trinkspruch. »Tod den Verbrechern!«
Buscetta imitierte lächelnd ihre Geste. »Tod den Verbrechern!« Er nahm einen Schluck und verzog das Gesicht. Der Tee schmeckte bitter.
»Ist er zu.?«
»Nein, nein. Er ist ganz in Ordnung, meine Liebe.«
Lucia hob erneut ihre Tasse. »Auf unsere Freundschaft.«
Sie trank wieder, und er folgte ihrem Beispiel.
»Auf.«
Buscetta brachte diesen Satz nicht mehr zu Ende. Er wurde von einem plötzlichen Krampf befallen und hatte das Gefühl, rotglühender Stahl durchbohre seine Brust. Er griff sich ans Herz. »Hilfe! Einen Arzt. ich.«
Lucia blieb sitzen, trank gelassen mit kleinen Schlucken ihren Tee und beobachtete, wie der Richter aufzustehen versuchte und dabei zusammenbrach. Er zuckte noch etwas und lag dann still.
»Das war Nummer eins, Papa«, sagte Lucia.
Benito Patas legte in seiner Zelle eine Patience, als der Schließer ihm mitteilte: »Sie haben Damenbesuch.«
Patas strahlte zufrieden. Als Zeuge der Anklage genoss er in der Haft besondere Privilegien, zu denen auch gehörte, dass er in dem für Besuche von Ehefrauen eingerichteten Zellentrakt Damenbesuche empfangen durfte. Er hatte ein halbes Dutzend Freundinnen, die sich bei diesen Besuchen abwechselten, und war gespannt, welche heute gekommen war.
Er betrachtete sich in seinem kleinen Wandspiegel, nahm etwas Pomade, kämmte sich die Haare zurück und folgte dann dem Schließer durch die Korridore zu dem Trakt mit den Privaträumen.
Der Schließer öffnete ihm die Tür. Patas stolzierte erwartungsvoll über die Schwelle. Dann blieb er ruckartig stehen und starrte die Besucherin verblüfft an.
»Lucia! Was tust du hier, verdammt noch mal? Wie bist du überhaupt rein gekommen?«
»Ich habe angegeben, dass wir verlobt sind, Benito«, antwortete Lucia sanft.
Sie trug ein verwirrend tief ausgeschnittenes rotes Seidenkleid, das ihre Kurven wie eine zweite Haut modellierte.
Benito Patas wich vor ihr zurück. »Verschwinde!«
»Wenn du willst. Aber ich muss dir erst noch etwas erklären. Als ich miterlebt habe, wie du im Zeugenstand gegen meinen Vater und meine Brüder ausgesagt hast, habe ich dich anfangs gehasst. Ich hätte dich am liebsten umgebracht.« Lucia trat näher an ihn heran. »Aber dann ist mir klar geworden, dass das sehr tapfer von dir war. Du hast gewagt, aufzustehen und die Wahrheit zu sagen. Mein Vater und meine Brüder sind nicht böse, aber sie haben Böses getan, und nur du bist stark genug gewesen, um ihnen entgegenzutreten.« »Glaub mir, Lucia«, sagte er, »die Polizei hat mich dazu gezwungen, alles.«
»Mir brauchst du nichts zu erklären«, wehrte sie freundlich ab. »Erinnerst du dich noch an das erste Mal, als wir uns geliebt haben? Ich hab’ damals gespürt, dass ich dich liebe und immer lieben würde.«
»Lucia, ich hätte das alles niemals getan, wenn ich.«
»Caro, ich möchte, dass wir das Vergangene vergessen. Es liegt hinter uns. Jetzt zählen nur noch du und ich.«
Sie stand jetzt dicht vor ihm, und ihr schweres Parfüm duftete betäubend stark. Patas war völlig verwirrt. »Ist das dein Ernst?«
»Mein heiliger Ernst! Deshalb bin ich heute hergekommen, um dir zu beweisen, dass ich’s ernst meine. Um dir zu zeigen, dass ich dir gehöre. Und das nicht nur mit Worten.«
Ihre Finger griffen nach ihren Spaghettiträgern, und im nächsten Augenblick lag die schimmernde Seide zu ihren Füßen. Darunter war sie nackt. »Glaubst du mir jetzt?«
Mein Gott, wie schön sie ist! »Ja, ich glaube dir«, sagte Benito heiser.
Lucia drängte sich gegen ihn. »Zieh dich aus!« flüsterte sie. »Beeil dich!«
Sie beobachtete, wie Patas sich hastig auszog. Als auch er nackt war, nahm er Lucia an der Hand und führte sie zu dem kleinen Bett in einer Ecke der Zelle. Er hielt sich nicht lange mit sexuellem Vorspiel auf. Sekunden später lag er auf ihr, spreizte ihre Beine und stieß mit einem arroganten Lächeln auf den Lippen tief in sie hinein.
»Wie in der guten alten Zeit«, meinte er zufrieden. »Du hast mich nicht vergessen können, stimmt’s?«
»Nein«, flüsterte Lucia ihm ins Ohr. »Und weißt du, warum ich dich nicht habe vergessen können?«
»No, mi amore. Sag’s mir.«
»Weil ich wie mein Vater aus Sizilien stamme.«
Sie griff sich an den Hinterkopf und zog die lange Schmucknadel heraus, die ihr aufgetürmtes Haar zusammenhielt.
Benito Patas spürte einen Stich unter den Rippen und wollte wegen des plötzlichen Schmerzes aufschreien. Aber Lucias Mund war auf seine Lippen gepresst, und während Benitos Körper sich auf ihrem wand und aufbäumte, hatte sie einen Orgasmus.
Einige Minuten später war Lucia wieder angezogen, und die Nadel hielt wieder ihr Haar zusammen. Benito lag zugedeckt und mit geschlossenen Augen im Bett. Lucia klopfte an die Zellentür und lächelte den Schließer an, der ihr aufsperrte. »Er schläft«, flüsterte sie.
Der Schließer musterte die schöne junge Frau und grinste. »Wahrscheinlich haben Sie ihn geschafft.«
»Das hoffe ich«, sagte Lucia.
Die Kühnheit, mit der die beiden Morde verübt worden waren, faszinierte ganz Italien. Die schöne Tochter eines Mafioso hatte ihren Vater und ihre Brüder gerächt, und die leicht zu begeisternde italienische Öffentlichkeit applaudierte ihr und wünschte sich, sie möge entkommen. Die Polizei war verständlicherweise anderer Meinung. Lucia Carmine hatte einen angesehenen Richter ermordet und danach ausgerechnet hinter Gefängnismauern einen weiteren Mord verübt. Aus der Sicht der Carabinieri war die Tatsache, dass sie zum Narren gehalten worden waren, ebenso schlimm wie Lucias Straftaten. Die Medien amüsierten sich wieder einmal auf Kosten der Polizei.
»Ich verlange ihre Festnahme!« brüllte der Innenminister den Polizeikommandeur an. »Und zwar schnellstens.«
Die Großfahndung wurde verstärkt. Die Frau, der sie galt, hielt sich bei Giuseppe Salvatore versteckt - einem ehemaligen Mitarbeiter ihres Vaters, dem es gelungen war, sich dem Strudel des Verfahrens gegen Carmine und seine Leute zu entziehen.
Anfangs war Lucia nur von dem Gedanken besessen gewesen, ihren Vater und ihre Brüder zu rächen. Sie hatte eigentlich damit gerechnet, gefasst zu werden, und war zur Selbstaufopferung bereit gewesen. Aber nachdem es ihr gelungen war, das Gefängnis unbehelligt zu verlassen, begann sie, statt an Rache ans Überleben zu denken. Seitdem sie ihr Ziel erreicht hatte, erschien ihr das Leben plötzlich wieder kostbar. Du lässt dich nicht von ihnen schnappen, schwor Lucia sich. Niemals!
Salvatore und seine Frau hatten sich alle Mühe gegeben, Lucia unkenntlich zu machen. Sie hatten ihre Haarfarbe aufgehellt, ihre Zähne verfärbt und ihr eine Brille und schlecht sitzende Kleidung besorgt. Salvatore betrachtete das Ergebnis ihrer Bemühungen kritisch.
»Nicht schlecht«, meinte er. »Aber nicht gut genug. Wir müssen dich aus Italien rausschaffen. Du musst irgendwohin, wo nicht jede Zeitung mit deinem Foto auf der Titelseite erscheint. Wo du für ein paar Monate unterschlüpfen kannst.«
Und Lucia erinnerte sich: Solltest du jemals einen Freund brauchen, kannst du dich auf Dominique Durell verlassen. Wir sind wie Brüder zueinander. Er wohnt in Frankreich - in Beziers, in der Nähe der spanischen Grenze.
»Ich weiß, wo ich unterkommen kann«, sagte Lucia. »Aber dazu brauche ich einen Reisepass.«
»Den besorge ich dir.«
Vierundzwanzig Stunden später hielt Lucia einen auf den Namen Lucia Caproni ausgestellten Pass mit einem Foto in ihrer neuen Aufmachung in den Händen.
»Wohin willst du damit?«
»Mein Vater hat in Frankreich einen Freund, der mir weiterhelfen wird.«
»Soll ich dich bis zur Grenze begleiten?« schlug Salva-tore vor.
Sie wussten beide, wie gefährlich das sein konnte.
»Danke, Giuseppe«, sagte Lucia. »Du hast schon mehr als genug für mich getan. Ich muss mich allein durchschlagen.«
Am nächsten Morgen mietete Salvatore einen Fiat auf den Namen Lucia Caproni und übergab ihr die Schlüssel.
»Versprich mir, vorsichtig zu sein!« bat er.
»Keine Angst, ich bin ein Glückskind.«
Hatte ihr Vater ihr das nicht oft versichert?
An der italienisch-französischen Grenze bildeten Autofahrer, die nach Frankreich wollten, eine lange, nur langsam vorrückende Schlange. Je näher Lucia der Abfertigung kam, desto nervöser wurde sie. Bestimmt wurde an allen Grenzübergängen nach ihr gefahndet. Falls sie gefasst wurde, drohte ihr eine lebenslängliche Haftstrafe. Vorher bringst du dich um, nahm Lucia sich vor.
Sie erreichte die Grenzabfertigung.
»Ihren Pass, Signorina«, verlangte der Uniformierte hinter dem Schalter.
Lucia reichte ihm ihren schwarzen Reisepass durchs Autofenster. Der Polizeibeamte griff danach, und als er ihr einen prüfen den Blick zuwarf, sah sie, wie er die Stirn runzelte. Dann verglich er das Passfoto nochmals mit ihrem Gesicht - diesmal jedoch sorgfältiger. Lucia spürte, wie ihr Körper sich verkrampfte.
»Sie sind Lucia Carmine«, sagte er.