Hoch auf einem Hügel über dem Kloster beobachteten Jaime und die anderen, wie Acocas Männer den Lieferwagen überfielen. Sie sahen die erschrockenen Insassen mit erhobenen Händen aussteigen und verfolgten die sich anschließende Pantomime.
Jaime Miro glaubte, den Dialog fast hören zu können:
Wer seid ihr?
Angestellte eines Hotels außerhalb von Logrono.
Was tut ihr hier?
Ein Mann hat uns fünftausend Peseten dafür gegeben, dass wir diesen Wagen ins Kloster bringen.
Welcher Mann?
Das wissen wir nicht. Wir haben ihn nie zuvor gesehen.
Ist das sein Bild?
Ja, das ist er!
»Kommt, wir hauen ab«, sagte Jaime.
Sie saßen in einem weißen Kombi und fuhren nach Logrono zurück. Megan starrte Jaime verwundert an.
»Woher hast du das gewusst?«
»Dass Oberst Acoca vor dem Kloster auf uns warten würde? Er hat’s mir selbst gesagt.«
»Was?«
»Der Fuchs muss wie der Jäger denken, Megan. Ich versetzte mich an Acocas Stelle. Wo würde ich mir eine Falle stellen? Er hat genau das getan, was ich auch getan hätte.«
»Und wenn er nicht aufgekreuzt wäre?«
»Dann hätten wir dich ungefährdet im Kloster abliefern können.«
»Was tun wir jetzt?« wollte Felix wissen.
Das war die Frage, die sie alle im Augenblick am meisten beschäftigte.
»In Spanien ist der Boden in nächster Zeit zu heiß für uns«, entschied Jaime. »Wir fahren direkt nach San Sebastian und von dort aus nach Frankreich.« Er sah zu Megan hinüber. »Auch dort gibt es Zisterzienserinnen-klöster.«
Amparo konnte sich nicht länger beherrschen.
»Warum stellst du dich nicht endlich? Wenn du so weitermachst, wird noch mehr Blut vergossen, werden noch mehr Menschen ermordet.«
»Du hast dein Mitspracherecht verwirkt«, unterbrach Jaime sie knapp. »Sei froh, dass du noch lebst.« Er wandte sich an Megan. »Von San Sebastian aus führen zehn Pässe über die Pyrenäen nach Frankreich. Dort überschreiten wir das Gebirge.«
»Das ist zu gefährlich«, wandte Felix ein. »Acocas Leute fahnden garantiert in San Sebastian nach uns. Er rechnet natürlich damit, dass wir nach Frankreich flüchten.«
»Wenn das so gefährlich ist.«, begann Graciela.
»Keine Angst, San Sebastian ist fest in baskischer Hand«, versicherte Jaime ihr.
Der Kombi hatte bereits wieder die Außenbezirke Logronos erreicht.
»Acoca lässt natürlich alle Zufahrtsstraßen nach San Sebastian überwachen«, warnte Felix. »Wie sollen wir deiner Meinung nach dorthin kommen?«
Jaimes Entschluss stand bereits fest. »Wir fahren mit dem Zug.« »Die Züge werden auch kontrolliert«, wandte Ricardo ein.
Jaime warf Amparo einen nachdenklichen Blick zu. »Nein, das glaube ich nicht. Unsere Freundin hier wird uns weiterhelfen. Weißt du, wie Oberst Acoca zu erreichen ist?«
Amparo zögerte. »Ja«, gab sie dann zu.
»Gut, dann rufst du ihn jetzt an.«
Sie hielten vor der nächsten Telefonzelle. Jaime zwängte sich mit Amparo in die Zelle und schloss die Tür. Er drückte ihr die Mündung seiner Pistole in die Rippen.
»Du weißt, was du zu sagen hast?«
»Ja.«
Jaime beobachtete, wie Amparo eine Nummer wählte, die sie im Kopf hatte.
»Hier ist Amparo Jiron«, sagte sie, als eine Stimme sich meldete. »Oberst Acoca erwartet meinen Anruf. Danke.« Sie sah zu Jaime auf. »Ich werde verbunden.« Die Pistole drückte gegen ihre Rippen. »Musst du mich so.?«
»Tu einfach, was ich dir gesagt habe.« Seine Stimme klang eisig.
Im nächsten Augenblick meldete Acoca sich. »Wo sind Sie?« fragte er als erstes.
Die Pistole drückte noch schmerzhafter gegen ihre Rippen. »Ich. ich bin. wir fahren eben aus Logrono ab.«
»Wissen Sie, wohin Ihre Freunde unterwegs sind?«
»Ja.«
Jaimes eisig blitzende Augen waren nur zwei Handbreit von ihrem Gesicht entfernt.
»Sie wollen einen Haken schlagen, um Sie auf eine falsche Fährte zu locken. Sie sind nach Barcelona unterwegs. Er fährt einen weißen Seat und benützt vermutlich die Hauptstraße.«
Jaime nickte ihr zu.
»Ich. ich muss jetzt weg. Der Wagen ist da.«
Jaime unterbrach die Verbindung und hängte den Hörer ein. »Gut gemacht.« Er verließ die Telefonzelle. »Wir warten noch eine halbe Stunde, bis er seine Leute abgezogen hat«, erklärte er den vier anderen.
Eine Dreiviertelstunde später standen sie vor dem Bahnhof.
Z wischen Logrono und San Sebastian verkehrten drei Klassen von Zügen: der luxuriöse Schnellzug Talgo, der Eilzug Ter und, als schlechteste und billigste Züge, die irreführend als Expreso bezeichneten unbequemen und schmutzigen Personenzüge, die auf jedem kleinen Bahnhof entlang der Strecke hielten.
»Wir nehmen den Expreso«, entschied Jaime. »Acocas Leute sind unterdessen damit beschäftigt, auf der Straße nach Barcelona jeden weißen Seat anzuhalten. Wir kaufen unsere Fahrkarten einzeln und treffen uns im letzten Wagen.« Er wandte sich an Amparo. »Du gehst voraus. Ich bleibe dicht hinter dir.«
Sie wusste, weshalb, und hasste ihn dafür. Sollte Oberst Acoca ihnen hier eine Falle gestellt haben, würde sie als Köder dienen. Aber eine Amparo Jiron hatte ihren Stolz und schreckte vor nichts zurück!
Während Jaime und die anderen sie beobachteten, betrat sie das Bahnhofsgebäude. Es wurde offenbar nicht überwacht.
Polizei und Militär sind auf der Straße nach Barcelona im Einsatz, überlegte Jaime sich. Er musste unwillkürlich grinsen. Das wird ein Chaos! Jeder zweite Wagen ist ein weißer Seat.
Die sechs kauften einzeln ihre Fahrkarten und warteten, bis der Espreso einfuhr. Auf dem Bahnsteig wurde nicht mehr kontrolliert. Im Zug setzte sich Jaime neben Me-gan. Amparo und Felix saßen vor ihnen; Ricardo und Graciela nahmen auf der anderen Seite des Mittelgangs Platz.
»In drei Stunden sind wir in San Sebastian«, erklärte Jaime Megan. »Dort übernachten wir und gehen in aller Frühe über die Grenze nach Frankreich.«
»Und was passiert dort?«
Sie dachte daran, wie es mit ihm weitergehen würde, aber Jaime antwortete: »Mach dir keine Sorgen. Ein paar Stunden von der Grenze entfernt gibt’s ein französisches Kloster eures Ordens.« Er machte eine Pause. »Falls du noch immer dorthin willst.«
Jaime hatte ihre Zweifel also begriffen. Will ich dorthin zurück? Vor ihnen lag mehr als nur eine Grenze zwischen zwei Staaten: sie bezeichnete die Trennungslinie zwischen Megans bisherigem und ihrem zukünftigen Leben - einem Leben als.? Anfangs hatte sie sich nichts anderes als eine Rückkehr ins Kloster vorstellen können, aber jetzt wurde sie zunehmend von Zweifeln geplagt. Sie hatte vergessen, wie aufregend das Leben außerhalb der Klostermauern sein konnte. Megan sah zu Jaime hinüber und gestand sich ein: Und Jaime Miro macht es noch aufregender.
Er fing ihren Blick auf, und als er ihr in die Augen sah, dachte Megan: Er weiß es!
Der Expreso hielt in jedem Dorf und Weiler entlang der Strecke. Der Zug war voller Bauern mit ihren Frauen, Geschäftsleuten und Vertretern, und auf jedem Bahnhof stiegen Fahrgäste geräuschvoll aus und ein.
Der Expreso schlängelte sich langsam durch die Berge und hatte Mühe, die Steilstrecken zur Puerta de Velete hinauf zu überwinden.
Als der Zug endlich in San Sebastian einfuhr, wandte Jaime sich an Megan. »Jetzt sind wir in Sicherheit. Dies ist unsere Stadt. Ich habe einen Wagen angefordert, der uns abholt.«
Vor dem Hauptbahnhof erwartete sie eine große Limousine. Der Fahrer, der eine Chapella - eine Baskenmütze - trug, umarmte Jaime zur Begrüßung und ließ dann die Gruppe einsteigen.
Megan fiel auf, dass Jaime ständig in Amparos Nähe blieb und stets bereit war, sie an der Flucht zu hindern. Was hat er mit ihr vor? fragte sie sich.
»Wir haben uns Sorgen um dich gemacht, Jaime«, sagte der Fahrer. »Die Zeitungen berichten von einer großen Treibjagd Oberst Acocas auf dich.«
Jaime Miro lachte. »Lass ihn nur jagen, Gil! Ich habe im Augenblick Schonzeit.«
Sie fuhren die Avenida Sancho el Savio in Richtung Strand hinunter. An diesem wolkenlosen Sommertag drängten sich auf den Gehsteigen flanierende Paare, die zu ihrem Vergnügen unterwegs waren, und vor dem Hafen kreuzten unzählige Jachten und kleinere Boote. Alles wirkte so friedlich.
»Wohin bringst du uns?« fragte Jaime den Fahrer. »Ins Hotel Niza. Largo Cortez erwartet euch.« »Ich freue mich schon darauf, den alten Piraten wiederzusehen.«
Das Niza an der Plaza Juan de Olezabal in der Nähe der Calle San Martin war ein Mittelklassehotel an einer Ecke dieses belebten Platzes. Das weiße Gebäude hatte braune Fensterläden und eine große blaue Reklametafel auf dem Dach. Der Hinterausgang des Hotels führte auf den Strand hinaus.
Als die Limousine vor dem Hotel hielt, stieg die Gruppe aus und folgte Jaime in die Empfangshalle.
Largo Cortez, der Hotelbesitzer, kam herbeigeeilt, um sie zu begrüßen. Er war groß und dick, hatte schon vor Jahren bei einem riskanten Unternehmen einen Arm verloren und bewegte sich deshalb etwas unbeholfen, als gerate er leicht aus dem Gleichgewicht.
»Herzlich willkommen!« trompetete er strahlend. »Wir erwarten euch schon seit einer Woche.«
Jaime zuckte mit den Schultern. »Wir sind unterwegs aufgehalten worden, Amigo.«
Largo Cortez grinste. »Davon hab’ ich gelesen. Die Zeitungen schreiben von nichts anderem mehr.« Er nickte Megan und Graciela zu. »Alle Welt drückt Ihnen die Daumen, Schwestern. Ihre Zimmer stehen bereit.«
»Wir bleiben nur eine Nacht«, erklärte Jaime ihm. »Morgen brechen wir früh auf und setzen uns nach Frankreich ab. Ich brauche einen guten Führer, der sich in den Bergen auskennt - Cabrera Infante oder Jose Cebrian.«
»Ich besorge dir einen«, versprach der Hotelbesitzer ihm. »Ihr seid dann zu sechst?«
Jaime blickte zu Amparo hinüber. »Nein, zu fünft.«
Amparo sah weg.
»Ich schlage vor, dass ihr darauf verzichtet, eure Meldezettel auszufüllen«, sagte Cortez grinsend. »Was die Polizei nicht weiß, macht sie nicht heiß. Was haltet ihr davon, wenn ich euch eure Zimmer zeige, damit ihr euch ein bisschen frisch machen könnt? Danach serviere ich ein gutes Abendessen.«
»Amparo und ich gehen auf einen Drink in die Bar«, sagte Jaime. »Wir stoßen später wieder zu euch.«
Largo Cortez nickte. »Wie du willst, Jaime.«
Megan beobachtete Jaime verwirrt. Sie fragte sich, was er mit Amparo vorhatte. Wollte er sie etwa eiskalt.? Sie wagte nicht, darüber nachzudenken.
Auch Amparo stellte sich diese Frage, aber sie war zu stolz, um sie auszusprechen.
Jaime führte sie in die an die Hotelhalle anschließende Bar und wählte einen Tisch in der hintersten Ecke.
Als der Ober kam, bestellte Jaime ein Glas Rotwein.
»Eines?«
»Eines.«
Amparo sah zu, wie Jaime ein Papierbriefchen aus der Tasche holte und auseinanderfaltete. Es enthielt ein feines weißes Pulver.
»Jaime.« Amparos Stimme klang verzweifelt. »Hör mir bitte zu! Versuch zu verstehen, weshalb ich’s getan habe. Du spaltest unser ganzes Land. Deine Sache ist aussichtslos. Dieser Wahnsinn muss aufhören!«
Der Ober kam zurück und stellte das Glas Rotwein auf den Tisch. Als er gegangen war, kippte Jaime den Inhalt des Papierbriefchens in den Wein, in dem das Pulver sich sofort auflöste. Er schob Amparo das Weinglas hin.
»Trink«, befahl er ihr.
»Nein!«
»Nur wenige von uns genießen das Vorrecht, sich ihre Todesart aussuchen zu dürfen«, stellte Jaime ruhig fest. »Diese ist rasch und schmerzlos. Fällst du meinen Leuten in die Hände, kann ich dir nichts dergleichen versprechen.«
»Jaime, ich. ich habe dich geliebt. Du musst mir glauben. Bitte.«
»Trink aus!« Seine Stimme klang unversöhnlich.
Amparo starrte ihn lange an, bevor sie entschlossen nach dem Weinglas griff. »Ich trinke auf deinen Tod.«
Er sah zu, wie sie das Glas an die Lippen setzte und mit einem einzigen Zug leerte.
Ein kalter Schauder durchlief sie. »Was geschieht jetzt?«
»Ich bringe dich nach oben ins Bett. Du schläfst friedlich ein.«
Amparo hatte Tränen in den Augen. »Du bist ein Dummkopf«, flüsterte sie. »Jaime, ich. ich sterbe - und trotzdem sollst du. wissen, dass ich dich sehr geliebt hab’.« Ihre Stimme klang bereits undeutlich.
Jaime stand auf und zog Amparo hoch. Sie schwankte unsicher. Der Raum schien sich vor ihren Augen zu drehen.
»Jaime.«
Er führte sie eng umschlungen aus der Bar in die Hotelhalle, wo Largo Cortez ihn mit zwei Schlüsseln in der Hand erwartete.
»Ich bringe sie in ihr Zimmer«, erklärte Jaime ihm. »Sie braucht Ruhe und darf nicht gestört werden.«
»Dafür sorge ich.«
Megan beobachtete, wie Amparo die Treppe hinauf von Jaime halb gestützt, halb getragen wurde.
In ihrem Zimmer dachte Megan darüber nach, wie seltsam es war, allein in einem Hotelzimmer eines Badeortes zu sein. San Sebastian wimmelte von Touristen, Flitterwöchnern und Liebespaaren, die sich in Hunderten von anderen Hotelzimmern vergnügten. Und plötzlich wünschte Megan sich, Jaime wäre hier bei ihr, und fragte sich, wie es wäre, von ihm geliebt zu werden.
Aber was hatte er Amparo angetan? Hatte er sie etwa.? Nein, dazu wäre er nie imstande gewesen! Oder vielleicht doch?
Zuletzt siegte ihre Entschlossenheit, nur Gutes von Jaime zu glauben. Aber dann überschwemmten Megans lange aufgestauten Gefühle ihren Verstand mit einer Sturzflut widersprüchlicher Emotionen. Ich begehre ihn, gestand sie sich ein. Mein Gott, was geschieht mit mir? Was soll ich dagegen tun? Wo soll das alles enden?
Ricardo pfiff vor sich hm, während er sich nach dem Duschen anzog. Er war bester Laune. Ich bin der glücklichste Mann der Welt, sagte er sich. In Frankreich können wir heiraten. Vielleicht in der schönen Kirche in Bayonne. Gleich morgen bestellen wir das Aufgebot...
Graciela lag in dem zu ihrem Zimmer gehörenden Bad in der Wanne, genoss das warme Wasser und dachte dabei an Ricardo. Ich werde ihn nach Kräften glücklich machen, nahm sie sich lächelnd vor. Herr, ich danke dir!
Felix Carpio dachte über Jaime und Megan nach. Dass es zwischen den beiden gefunkt hat, sieht ein Blinder. Das bringt bestimmt Unglück. Nonnen gehören Gott. Schlimm genug, dass Ricardo Schwester Graciela dazu gebracht hat, auf ihre Berufung zu verzichten. Und Jaime hat sich immer genommen, was er wollte. Was hat er mit der Klosterschwester vor?
Die fünf trafen sich zum Abendessen im Speisesaal des Hotels Niza. Keiner von ihnen erwähnte Amparo Jiron.
Als Megan Jaimes Blick auf sich spürte, wurde sie plötzlich verlegen, als könne er ihre Gedanken lesen. Wahrscheinlich ist’s besser, keine fragen zu stellen, dachte sie. Ich weiß, dass er zu keiner Brutalität imstande wäre.
Wie sich zeigte, hatte Largo Cortez nicht übertrieben, als er ihnen ein gutes Abendessen versprochen hatte. Es begann mit Gazpacho, der dicken kalten Suppe aus Tomaten, Gurken und eingeweichtem Brot; danach gab es grünen Salat, eine riesige Schüssel Paella - Reis mit Krabben-, Huhn- und Rindfleisch in wunderbarer Sauce - und zuletzt eine köstliche Obsttorte. Für Ricardo und Graciela war dies seit Tagen wieder die erste warme Mahlzeit.
Nach dem Kaffee stand Megan auf. »Ich gehe lieber gleich ins Bett, glaube ich.«
»Warte«, verlangte Jaime. »Ich habe mit dir zu reden.« Er führte sie in eine Ecke der Hotelhalle, in der sie ungestört waren. »Was morgen betrifft.«
Und sie wusste, was er fragen würde. Aber sie wusste nicht, was sie antworten würde. Ich habe mich verändert, dachte Megan. Früher bin ich mir meines Lebens so sicher gewesen. Ich habe geglaubt, ich sei wunschlos glücklich.
»Du willst nicht wirklich ins Kloster zurück, stimmt’s?« fuhr Jaime fort.
Will ich das?
Er wartete auf ihre Antwort.
Ich muss ihm gegenüber rückhaltlos ehrlich sein, überlegte Megan. Sie sah ihm in die Augen und sagte: »Ich weiß nicht, was ich will, Jaime. Ich bin völlig durcheinander.«
Jaime lächelte. Aber er zögerte noch und wählte seine Worte bedachtsam. »Megan.. dieser Kampf ist bald zu Ende. Wir werden bekommen, was wir fordern, weil das Volk hinter uns steht. Ich kann dir nicht zumuten, die Gefahren mit mir zu teilen, aber ich möchte, dass du auf mich wartest. Ich habe viele baskische Freunde, die in Frankreich leben. Bei ihnen wärst du sicher.«
Megan betrachtete ihn lange, bevor sie antwortete. »Lass mir Zeit, darüber nachzudenken, Jaime.«
»Du sagst also nicht nein?«
»Ich sage nicht nein«, bestätigte Megan ruhig.
Keiner der fünf konnte in dieser Nacht schlafen. Sie alle hatten zuviel zu überlegen, zu viele Konflikte zu lösen. Megan lag wach im Bett und ließ die Vergangenheit an ihrem inneren Auge vorbeiziehen. Die langen Jahre im Waisenhaus und hinter Klostermauern. das plötzliche Hinausgestoßenwerden in eine Welt, der sie für ewig entsagt hatte. Jaime Miro wagte sein Leben für eine Sache, an die er glaubte. Und woran glaube ich? fragte Megan sich. Wie will ich den Rest meines Lebens verbringen?
Sie hatte schon einmal eine Wahl getroffen. Jetzt musste sie sich erneut entscheiden. Morgen früh würde Jaime eine Antwort von ihr verlangen.
Auch Graciela dachte ans Kloster zurück. Dort habe ich so glückliche, friedvolle Jahre verbracht. Ich habe mich Gott so nahe gefühlt. Ob mir das fehlen wird?
Jaime dachte an Megan. Sie darf nicht ins Kloster zurückgehen! Ich will sie an meiner Seite haben. Wie wird ihre Antwort lauten?
Ricardo war zu aufgeregt, um schlafen zu können. Er machte Pläne für ihre Hochzeit. Die Kirche in Bayonne...
Felix fragte sich, wie sie Amparos Leiche beseitigen sollten. Am besten überlassen wir das Largo Cortez.
Als die Gruppe sich sehr früh am nächsten Morgen in der Hotelhalle traf, zog Jaime Megan beiseite.
»Guten Morgen.«
»Guten Morgen, Jaime.«
»Hast du über unser Gespräch nachgedacht?«
Sie hatte die ganze Nacht lang nichts anderes getan. »Ja, Jaime.«
Er sah ihr in die Augen, als versuche er, dort die Antwort abzulesen. »Wartest du auf mich?«
»Jaime, ich.«
In diesem Augenblick kam Largo Cortez herangehastet. Er brachte einen drahtigen Fünfziger mit von Wind und Wetter gegerbtem Gesicht mit.
»Tut mir leid, aber fürs Frühstück bleibt heute keine Zeit«, sagte der Hotelbesitzer. »Ihr solltet sofort aufbrechen. Das hier ist Jose Cebrian, euer Führer. Er bringt euch über die Berge nach Frankreich. Er ist der beste Führer San Sebastians.«
»Freut mich, dich kennen zu lernen, Jose«, sagte Jaime Miro. »Was hast du mit uns vor?«
»Wir fahren ein Stück weit und marschieren den Rest des Weges bis zur Grenze«, erklärte Jose seinen Schutzbefohlenen. »Auf der anderen Seite warten dann wieder Fahrzeuge auf uns. Kommt, wir haben’s eilig!«
Die fünf traten auf die Straße hinaus, die im gelblichen Licht der Morgensonne vor ihnen lag.
Largo Cortez kam aus seinem Hotel, um sie zu verabschieden. »Glückliche Reise!« wünschte er ihnen.
»Vielen Dank für alles«, antwortete Jaime. »Wir kommen zurück, Amigo. Vielleicht schneller, als du denkst.«
»Kommt, die Autos stehen in der nächsten Seitenstraße«, drängte Jose.
Die Gruppe setzte sich in Bewegung. In diesem Augenblick tauchten an beiden Enden der Straße Soldaten und GOE-Angehö-rige auf und riegelten sie ab. Die schwerbewaffneten Uniformierten standen unter dem Kommando der Obersten Ramon Acoca und Fal Sostelö.
Auf der Suche nach einem Fluchtweg warf Jaime hastig einen Blick in Richtung Strand. Aber auch dort waren Soldaten in Stellung gegangen. Eine Flucht war unmöglich. Sie würden kämpfen müssen. Jaime griff instinktiv nach seiner Pistole.
»Hände hoch, Miro!« rief Oberst Acoca ihm zu. »Lassen Sie die Waffe stecken, sonst schießen wir Sie alle auf der Stelle nieder!«
Jaimes Gehirn arbeitete auf Hochtouren, ohne einen Ausweg zu erkennen. Woher hatte Acoca gewusst, wo er zu finden war? Er drehte sich um und sah Amparo mit kummervoller Miene am Haupteingang des Hotels stehen.
»Mierda!« sagte Felix angewidert. »Ich dachte, du hättest sie.«
»Ich hab’ ihr ein starkes Schlafmittel gegeben, von dem sie hätte schlafen müssen, bis wir über der Grenze gewesen wären.«
»Dieses Luder!«
Oberst Acoca kam auf Jaime zumarschiert. »Ihr Spiel ist aus, Miro.« Er drehte sich nach seinen Männern um. »Nehmt ihnen die Waffen ab!«
Felix und Ricardo sahen erwartungsvoll zu Jaime hinüber, um zu sehen, wie er reagieren würde. Aber Jaime schüttelte den Kopf. Er gab widerstrebend seine Pistole ab, und die beiden anderen folgten seinem Beispiel.
»Was haben Sie mit uns vor?« erkundigte Jaime sich.
Inzwischen waren mehrere Passanten stehen geblieben, um die Vorgänge zu beobachten.
»Ich bringe Sie und Ihre Mörderbande nach Madrid«, antwortete Oberst Acoca knapp. »Dort bekommen Sie einen fairen Prozess vor einem Militärgericht und werden danach gehenkt. Hätte ich darüber zu bestimmen, würde ich Sie auf der Stelle aufknüpfen lassen.«
»Lassen Sie die Schwestern laufen«, forderte Jaime ihn auf. »Sie haben nichts mit dieser Sache zu tun.«
»Sie sind Ihre Komplizinnen und deshalb so schuldig wie Sie.«
Der Oberst wandte sich ab und gab ein Handzeichen. Soldaten drängten die Neugierigen zurück, damit drei Militärlastwagen vorfahren konnten.
»Sie und Ihre Mörderbande fahren auf dem mittleren Wagen«, erklärte der Oberst Jaime. »Meine Männer sind vor und hinter Ihnen und haben Befehl, Sie alle bei der geringsten falschen Bewegung zu erschießen. Haben Sie verstanden?«
Jaime nickte wortlos.
Oberst Acoca spuckte ihm ins Gesicht. »Gut. Auf den Wagen!«
Durch die anwachsende Menge ging ein zorniges Raunen.
Amparo blieb auf ihrem Platz am Hoteleingang und beobachtete ausdruckslos, wie Jaime und Megan, Graciela und Ricardo, Jose und Felix, von Soldaten mit schussbereiten Gewehren bewacht, auf den Lastwagen kletterten.
Oberst Sostelo trat ans erste Fahrzeug. »Wir fahren bis Madrid durch«, wies er den jungen Fahrer an. »Ohne Halt, verstanden?«
»Ja, Oberst.«
Unterdessen waren weitere Menschen zusammengeströmt, um die Vorgänge zu beobachten. Oberst Acoca stellte sich aufs Trittbrett des ersten Lastwagens. »Machen Sie Platz!« forderte er die Zivilisten auf. »Machen Sie die Straße frei!«
Aus Seitenstraßen strömten weitere Menschen heran.
»Machen Sie Platz!« wiederholte Oberst Acoca.
Aber die Menge - vor allem Männer mit breiten Baskenmützen - wurde immer zahlreicher, als reagiere sie auf irgendein unhörbares Signal. Jaime Miro braucht uns. Die Menschen kamen aus Geschäften und Werkstätten. Hausfrauen ließen ihre Arbeit liegen und hasteten auf die Straße. Geschäftsleute, die ihre Läden aufschließen wollten, hörten von Miros Festnahme und kamen zum Hotel Niza.
Und die Menge schwoll weiter an: Handwerker, Angestellte, Geschäftsleute, Akademiker, Studenten, Schüler und Arbeiter, viele davon mit Gewehren und Schrotflinten bewaffnet. Sie waren Basken, und dies war ihre Hauptstadt. Aus einigen wenigen Neugierigen wurden bald Hunderte und binnen Minuten Tausende von Menschen, die sich auf Fahrbahn und Gehsteigen drängten und die Militärlastwagen einkeilten. Die Menge verhielt sich auffällig still, aber ihr Schweigen wirkte bedrohlich.
Oberst Acoca beobachtete die riesige Menge mit wachsender Verzweiflung. »Räumt die Straße«, kreischte er, »sonst lasse ich das Feuer eröffnen!«
»Das würde ich Ihnen nicht raten!« rief Jaime ihm zu. »Diese Menschen hassen Sie für das, was Sie ihnen antun wollen. Ein Wort von mir genügt, damit Sie und Ihre Leute in Stücke gerissen werden. Sie haben etwas übersehen, Oberst: San Sebastian ist eine baskische Stadt -meine Stadt.« Er wandte sich an seine Gruppe. »Kommt, wir hauen ab!«
Jaime half Megan von der Ladefläche, und die anderen folgten ihnen. Oberst Acoca, dessen Gesicht vor Wut verkniffen war, beobachtete sie hilflos.
Die Menge wartete in feindseligem Schweigen. Jaime blieb vor Acoca stehen. »Nehmen Sie Ihre Lastwagen, und fahren Sie nach Madrid zurück.«
Der Blick des Obersten glitt über den noch immer anschwellenden Mob. »Ich. damit kommen Sie nicht durch, Miro.«
»Ich bin damit durchgekommen. Verschwinden Sie!« Er spuckte Acoca ins Gesicht.
Aus Acocas Blick sprach blanke Mordgier. So darf’s nicht enden, dachte der Oberst verzweifelt. Ich hatte ihn doch gefasst! Miro ist schachmatt gewesen! Er wusste recht gut, dass dies mehr als nur eine schmerzliche Niederlage war. Sein Misserfolg kam einem Todesurteil gleich. In Madrid würde das OPUS MUNDO auf ihn warten. Er starrte das Menschenmeer an, von dem sie eingeschlossen waren, und erkannte, dass ihm keine andere Wahl blieb.
»Aufsitzen!« befahl er seinen Männern mit vor Wut heiserer Stimme.
Die Menge wich zurück und verfolgte schweigend, wie die Soldaten und GOE-Angehörigen auf ihre Lastwagen kletterten. Als sie dann anfuhren, brach wilder Jubel los. Anfangs galt er Jaime Miro; dann wurde er lauter, als die Zusammengeströmten ihren Freiheitskampf, ihren Widerstand gegen die Gewaltherrschaft und ihren bevorstehenden Sieg bejubelten, bis die Straßen davon widerhallten.
Zwei Jugendliche kreischten, bis sie heiser waren. Einer von ihnen stieß den anderen an. »Komm, wir treten in die ETA ein!«
Ein Ehepaar in mittleren Jahren hielt sich umarmt. »Vielleicht geben sie uns jetzt unseren Hof zurück«, sagte die Frau mit Tränen in den Augen.
Ein alter Mann, der nicht in den allgemeinen Jubel eingestimmt hatte, beobachtete schweigend die Abfahrt der Militärlastwagen. »Eines Tages kommen sie zurück«, murmelte er pessimistisch.
Jaime griff nach Megans Hand. »Wir haben’s geschafft! Wir sind frei! In einer Stunde sind wir über der Grenze. Dort bringe ich dich zu meiner Tante, bei der du bleiben kannst.«
Sie sah ihm in die Augen. »Jaime.«
Ein Mann drängte sich durch die Menge und kam auf Megan zugehastet.
»Entschuldigung«, sagte er atemlos. »Sind Sie Schwester Megan?«
Sie nickte erstaunt. »Ja.«
Er seufzte erleichtert. »Sie zu finden hat mich verdammt viel Mühe gekostet.« »Mein Name ist Alan Tucker. Kann ich Sie einen Augenblick sprechen?«
»Ja.«
»Allein.«
»Tut mir leid, ich bin gerade dabei.«
»Bitte! Diese Sache ist sehr wichtig. Ich bin eigens aus New York gekommen, um Sie aufzuspüren.«
Megan starrte ihn verständnislos an. »Um mich aufzuspüren? Das verstehe ich nicht. Weshalb.?«
»Ich erkläre Ihnen alles, wenn Sie einen Augenblick Zeit für mich haben.«
Der Amerikaner nahm ihren Arm, führte sie die Straße entlang und sprach dabei eifrig auf sie ein. Megan sah sich einmal nach Jaime Miro um, der stehen geblieben war und auf sie wartete.
Megans Gespräch mit Alan Tucker stellte ihre bisherige Welt auf den Kopf.
»Meine Auftraggeberin möchte Sie dringend sprechen.« »Das verstehe ich nicht. Wer ist Ihre Auftraggeberin? Was will sie von mir?«
Wenn ich das nur wüsste, dachte Alan Tucker. »Bedau-re, darüber darf ich nicht sprechen. Sie erwartet Sie in New York.«
Das war unbegreiflich. Hier musste irgendein Irrtum vorliegen. »Wissen Sie bestimmt, dass ich die Richtige bin - Schwester Megan?«
»Ja. Aber Sie heißen nicht Megan, sondern Patricia.« Seine Eröffnung traf Megan wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Nach all diesen Jahren sollte ihr Wunschtraum sich erfüllen: sie würde endlich erfahren, wer sie war. Allein der Gedanke daran war erregend - und zugleich beängstigend.
»Wann. wann müsste ich abreisen?« Ihre Kehle war plötzlich so trocken, dass sie kaum sprechen konnte.
Ich möchte, dass Sie sie finden und so rasch wie möglich herbringen.
»Sofort! Ich besorge Ihnen einen Reisepass.«
Megan drehte sich um und sah Jaime wartend vor dem Hotel stehen.
»Entschuldigen Sie mich bitte einen Augenblick.«
Sie ging benommen wie eine Schlafwandlerin zu ihm zurück.
»Alles in Ordnung?« fragte Jaime. »Oder hat der Kerl dich etwa belästigt?«
»Nein. Er ist. Nein, durchaus nicht.«
Jaime ergriff ihre Hand. »Ich möchte, dass du mitkommst. Wir gehören zusammen, Megan.«
Sie heißen nicht Megan, sondern Patricia.
Und sie betrachtete Jaimes energisches, gut geschnittenes Gesicht und dachte: Ich will bei ihm bleiben. Aber wir müssen noch warten. Erst muss ich wissen, wer ich bin.
»Jaime, ich. ich möchte bei dir bleiben. Aber ich habe erst noch etwas anderes zu erledigen.«
Er studierte ihr Gesicht mit sorgenvoller Miene. »Du gehst fort?«
»Nur für kurze Zeit. Ich komme bestimmt zurück.«
Jaime starrte sie lange an und nickte dann langsam. »Gut. Du erreichst mich über Largo Cortez.«
»Ich komme zu dir zurück. Das verspreche ich dir!«
Und sie meinte ihr Versprechen ernst. Aber das war vor ihrer Begegnung mit Ellen Scott.