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Avila 1957

Sie hieß »Megan die Schreckliche«.

Sie hieß »Megan, der Teufel mit den blauen Augen«.

Sie hieß »Megan die Unmögliche«.

Sie war zehn Jahre alt.

Sie war als Kleinkind ins Waisenhaus gekommen, nachdem jemand sie vor der Tür eines Bauernpaars ausgesetzt hatte, das sie aber nicht hatte bei sich aufnehmen können.

Das Waisenhaus in Avila war ein schlichtes, einstöckiges, weißgekalktes Gebäude im ärmsten Viertel der Stadt, jenseits der Plaza de Santo Vincente. Geleitet wurde es von Mercedes Angeles, einer sehr männlich wirkenden Frau, deren rauhe Art über die Zuneigung hinwegtäuschte, die sie für ihre Schutzbefohlenen empfand.

Megan unterschied sich von den übrigen Kindern: sie war eine Fremde, die sich mit blondem Haar und leuchtendblauen Augen auffällig von den sonstigen schwarzhaarigen, schwarzäugigen Waisen abhob. Aber sie war von Anfang an auch in anderer Beziehung unterschiedlich: Megan war ein eigensinnig selbständiges Kind, eine Anführerin bei sämtlichen Streichen. Gab es irgendwo im Waisenhaus Unruhe oder Schwierigkeiten, konnte Mercedes Angeles sicher sein, dass Megan dahinter steckte.

Im Laufe der Jahre führte Megan Aufstände gegen schlechtes Essen an, versuchte, einen Kinderbund zu gründen, und verfiel auf clevere Methoden, zu denen ein halbes Dutzend Ausbruchsversuche gehörten, um das Aufsichtspersonal zu ärgern. Selbstverständlich war Megan bei den anderen Kindern sehr beliebt. Viele von ihnen waren älter als sie, aber alle suchten bei ihr Rat und Führung. Sie war eine geborene Führungspersönlichkeit. Und die kleineren Kinder hörten Megan gern Geschichten erzählen, denn sie besaß eine ausufernde Phantasie.

»Wer sind meine Eltern gewesen, Megan?«

»Ah, dein Vater ist ein gerissener Juwelendieb gewesen. Er ist mitten in der Nacht über ein Hoteldach geklettert, um den Brillantring einer berühmten Schauspielerin zu stehlen. Nun, als er den Ring gerade eingesteckt hatte, ist die Schauspielerin aufgewacht. Sie hat Licht gemacht und ihn gesehen.«

»Hat sie ihn verhaften lassen?«

»Nein. Er ist ein sehr gutaussehender Mann gewesen.«

»Was ist dann passiert?«

»Die beiden haben sich verliebt und haben geheiratet. Danach bist du auf die Welt gekommen.«

»Aber warum haben sie mich ins Waisenhaus gesteckt? Haben sie mich nicht lieb gehabt?«

Das war immer der schwierigste Teil. »Natürlich haben sie dich lieb gehabt. Aber. na ja. sie sind in der Schweiz beim Skifahren von einer schrecklichen Lawine erfasst und getötet worden.«

»Was ist eine Lawine, Megan?«

»Dabei kommt ein Riesenhaufen Schnee den Berg runter und verschüttet Menschen.«

»Und meine Eltern sind beide umgekommen?«

»Ja. Und ihre letzten Worte haben dir gegolten - dass sie dich lieben. Aber du hast keine Verwandten gehabt, die dich hätten aufnehmen können, deshalb bist du hierher gekommen.«

Megan hätte so gern wie alle anderen gewusst, wer ihre Eltern gewesen waren, und dachte sich abends vor dem Einschlafen Geschichten für sich selbst aus. »Mein Vater ist Offizier im Bürgerkrieg gewesen«, sagte sie sich beispielsweise. »Er war Hauptmann und sehr tapfer. Er ist verwundet worden, und meine Mutter hat ihn als Krankenschwester gesund gepflegt. Die beiden haben geheiratet, und er ist an die Front zurückgekehrt und gefallen. Meine Mutter ist zu arm gewesen, um mich behalten zu können, deshalb hat sie mich bei dem Bauern ausgesetzt - und das hat ihr das Herz gebrochen.« Und sie weinte vor Mitleid mit ihrem tapferen toten Vater und ihrer trauernden Mutter.

Oder: »Mein Vater ist Stierkämpfer gewesen - einer der größten Matadore. Ganz Spanien hat ihn geliebt und ihm zugejubelt. Und meine Mutter war eine wunderschöne Flamencotänzerin. Die beiden sind glücklich verheiratet gewesen, aber er ist eines Tages von einem riesigen, schrecklich gefährlichen Stier tödlich verletzt worden. Danach hat meine Mutter sich von mir trennen müssen.«

Oder: »Mein Vater ist ein cleverer Spion aus einem anderen Land gewesen.«

Ihre Phantasien waren endlos.

Im Waisenhaus lebten dreißig Kinder aller Altersstufen, von ausgesetzten Neugeborenen bis zu Vierzehnjährigen. Die meisten stammten aus Spanien, aber drei kamen aus anderen Ländern, so dass Megan bald mehrere Fremdsprachen beherrschte. Sie schlief mit einem guten Dutzend weiterer Mädchen in einem Schlafsaal.

Dort wurden nachts im Flüsterton Gespräche über Puppen und Kleider geführt. Als die Mädchen älter wurden, begannen sie auch, über Sex zu sprechen, der bald ihr Hauptgesprächsthema wurde.

»Angeblich soll’s ganz schön weh tun.«

»Mir doch egal! Ich kann’s kaum noch erwarten.«

»Wenn ich groß bin, heirate ich, aber das darf mein Mann nie. Ich find’s einfach unanständig.«

Eines Nachts, als alle bereits schliefen, schlich Primo Conde, einer der im Waisenhaus lebenden Jungen, sich in den Mädchenschlafsaal. Er setzte sich bei Megan auf die Bettkante.

»Megan.«, flüsterte er kaum hörbar.

Sie war sofort hellwach. »Primo? Was ist los?«

Er schluchzte ängstlich. »Darf ich zu dir ins Bett?«

»Ja. Aber sei leise!«

Primo war mit dreizehn so alt wie Megan, aber er war für sein Alter ziemlich klein und war als Kind misshandelt worden. Er litt unter schrecklichen Alpträumen, aus denen er nachts schreiend hoch schreckte. Die anderen Kinder hänselten ihn, aber Megan war von Anfang an seine Beschützerin gewesen.

Primo kam zu ihr ins Bett, und Megan merkte, dass sein Gesicht tränennass war. Sie hielt ihn in den Armen an sich gedrückt.

»Schon gut«, flüsterte Megan ihm ins Ohr. »Schon gut, Primo.«

Sie wiegte ihn sanft, bis das Schluchzen verstummte. Ihre Leiber waren aneinandergedrückt, und Megan spürte seine wachsende Erregung.

»Primo.«

»Tut mir leid. Ich. ich kann nichts dagegen machen.«

Seine Erektion drängte sich gegen sie.

»Ich liebe dich, Megan. Du bist die einzige auf der ganzen Welt, aus der ich mir was mache.«

»Du kennst die Welt doch noch gar nicht.«

»Lach mich bitte nicht aus.«

»Das tue ich gar nicht.« »Ich habe nur dich, Megan.«

»Ja, ich weiß.«

»Ich liebe dich.«

»Ich liebe dich auch, Primo.«

»Megan, würdest du. würdest du dich von mir lieben lassen? Bitte!«

»Nein.«

Danach herrschte Schweigen. »Tut mir leid, dass ich dich gestört habe. Ich gehe lieber in mein Bett zurück.« Seine Stimme klang verletzt. Er wollte aufstehen.

»Warte.« Megan hielt ihn fest. Sie war selbst erregt und hatte den Wunsch, ihn zu trösten. »Primo, ich. ich darf mich nicht von dir lieben lassen, aber ich kann etwas tun, damit du dich besser fühlst. Einverstanden?«

»Ja«, murmelte er kaum verständlich.

Megans Hand glitt unter das Gummiband seiner Schlafanzughose. Er ist ein Mann, dachte sie, umfasste ihn sanft und begann ihn zu streicheln. »Oh, das ist wunderbar!« stöhnte er. Und wenig später: »Ich liebe dich, Megan!«

Ihr Körper schien in Flammen zu stehen, und wenn er sie in diesem Augenblick erneut gebeten hätte, sich von ihm lieben zu lassen, hätte sie ja gesagt.

Aber er lag schweigend neben ihr und kehrte einige Minuten später in sein Bett zurück.

Megan fand in dieser Nacht keinen Schlaf mehr. Und sie ließ Primo nie wieder in ihr Bett.

Die Versuchung wäre zu groß gewesen.

Von Zeit zu Zeit wurden die Kinder ins Büro der Direktorin gerufen, um potentiellen Adoptiveltern vorgestellt zu werden. Für die Kinder war das jeweils ein sehr aufregender Augenblick, der die Chance bedeuten konnte, dem trübseligen Waisenhausalltag zu entfliehen, zu jemandem zu gehören und in einer richtigen Familie zu leben.

Im Laufe der Jahre erlebte Megan immer wieder, wie andere Waisen ausgewählt wurden. Sie wurden von Bauern, Handwerkern, Beamten oder Geschäftsleuten in ihr Heim aufgenommen. Aber dieses Glück hatten stets die anderen, niemals Megan. Ihr schlechter Ruf eilte ihr voraus. Gelegentlich bekam sie mit, wie adoptionswillige Ehepaare über sie sprachen.

»Sie ist ein sehr hübsches Mädchen, aber sie soll schrecklich schwierig sein.«

»Ist das nicht die Kleine, die letzten Monat ein Dutzend Hunde ins Waisenhaus eingeschmuggelt hat?«

»Wie ich höre, stiftet sie die anderen zu dummen Streichen an. Ich fürchte, dass sie sich nicht mit unseren Kindern vertragen würde.«

Die Erwachsenen ahnten nicht, wie sehr die anderen Kinder Megan bewunderten.

Pater Berrendo kam einmal in der Woche zur Visitation ins Waisenhaus, und Megan freute sich auf jeden seiner Besuche. Sie war eine eifrige Leserin, und der Geistliche und Mercedes Angeles sorgten dafür, dass ihr der Lesestoff nie ausging. Mit dem Pater konnte sie über Themen diskutieren, die sie mit sonst niemandem zu besprechen wagte. Pater Berrendo war der Mann, zu dem das Bauernpaar die kleine Megan als Findelkind gebracht hatte.

»Warum haben sie mich nicht behalten wollen?« fragte Megan ihn einmal.

»Das hätten sie gern getan, Megan«, versicherte der Geistliche ihr, »aber sie sind alt und krank gewesen.«

»Weshalb haben meine richtigen Eltern mich wohl dort ausgesetzt?«

»Sie sind bestimmt sehr arm gewesen und haben sich kein Kind leisten können.«

Je älter Megan wurde, desto frömmer wurde sie auch. Vor allem reizten sie die intellektuellen Aspekte der katholischen Kirche. Sie las die Bekenntnisse des hl. Augustinus und die Schriften des hl. Franz von Assisi, Thomas Mertons, Thomas Morus und weiterer großer Männer. Megan ging regelmäßig in die Kirche und genoss die Prunkentfaltung des sonntäglichen Hochamts. Am besten gefiel ihr jedoch die wunderbare friedvolle Heiterkeit, die bei jedem Kirchenbesuch auf sie herabzusinken schien.

»Ich möchte katholisch werden«, erklärte sie Pater Ber-rendo eines Tages.

Der Geistliche nahm ihre Hand in seine. »Vielleicht bist du’s schon, Megan«, sagte er augenzwinkernd, »aber wir wollen nichts überstürzen.« Er lehrte sie den katholischen Katechismus:

»Quid petis ab ecclesia dei?«

»Fidem!«

»Fides quid tibi praestat?«

»Vitam aeternam.«

»Abremmtatis satanae?«

»Sic.«

»Glaubst du an Gott, den Vater, den Allmächtigen, Schöpfer des Himmels und der Erden?«

»Credo!«

»Glaubst du an Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn, unsern Herrn?«

»Credo!«

»Glaubst du an den Heiligen Geist, die heilige katholische Kirche, Gemeinschaft der Heiligen, Vergebung der Sünden, Auferstehung des Fleisches und ein ewiges Leben?«

»Credo!«

Der Geistliche blies Megan sanft ins Gesicht. »Exi ab eo Spiritus immunde. Fahre aus ihr aus, du unreiner Geist, und weiche dem Heiligen Geist, dem Fürsprecher vor Gott.« Er blies ihr erneut ins Gesicht. »Megan, empfange durch diesen Odem den guten Geist und den Segen des Herrn. Sein Friede sei mit dir.«

Mit fünfzehn Jahren war Megan zu einem bildhübschen Mädchen herangewachsen, das sich durch ihr langes blondes Haar und ihren hellen Teint noch auffälliger von den anderen Waisenkindern unterschied.

Eines Tages wurde Megan ins Büro der Direktorin gerufen. Auch Pater Berrendo war dort.

»Guten Tag, Pater.«

»Guten Tag, liebes Kind.«

»Megan, wir stehen vor einem Problem, fürchte ich«, begann Mercedes Angeles.

»Ja?« Sie zerbrach sich den Kopf, ohne darauf zu kommen, was sie wieder einmal angestellt haben könnte.

»Wir haben hier eine Altersobergrenze von fünfzehn Jahren«, fuhr die Direktorin fort, »und du bist letzte Woche fünfzehn geworden.«

Diese Bestimmung kannte Megan natürlich längst. Aber sie hatte sie verdrängt, um nicht mit der Tatsache konfrontiert zu werden, dass sie nicht wusste, wohin sie gehen sollte, dass niemand sie haben wollte und dass sie wieder ausgesetzt werden würde.

»Muss ich. muss ich also fort?«

Die freundliche Amazone war bekümmert, aber ihr blieb keine andere Wahl. »Wir müssen uns an die Bestimmungen halten, fürchte ich. Vielleicht können wir dir eine Stellung als Dienstmädchen beschaffen.«

Megan fand keine Worte.

»Wohin möchtest du gehen?« fragte Pater Berrendo sie.

Als Megan jetzt darüber nachdachte, fiel ihr ein, wohin sie gehen könnte.

Seit ihrem zwölften Lebensjahr hatte sie sich damit ein Taschengeld verdient, dass sie für Geschäfte Waren ausgetragen hatte - viele davon ins Zisterzienserinnenklos-ter. Dort war Megan jedes Mal von Ehrwürdiger Mutter Betina empfangen worden. Sie hatte die Nonnen beten oder über die Korridore wandeln sehen und war von ihrer heiteren Gelassenheit beeindruckt gewesen. Sie beneidete die Nonnen um ihren Seelenfrieden. Das Kloster Avila war Megan stets als ein Haus der Liebe erschienen.

Die Ehrwürdige Mutter hatte das aufgeweckte Mädchen ins Herz geschlossen und im Laufe der Jahre häufig lange Gespräche mit Megan geführt.

»Weshalb gehen Menschen ins Kloster?« hatte Megan sie einmal gefragt.

»Sie kommen aus unterschiedlichen Gründen zu uns. Die meisten wollen ihr Leben Gott weihen. Andere kommen jedoch, weil sie keine Hoffnung mehr haben. Wir geben ihnen Hoffnung. Wieder andere kommen, weil sie am Sinn des Lebens verzweifeln. Wir zeigen ihnen, dass Gott dieser Sinn ist. Einige flüchten sich vor der Welt hinter unsere Mauern. Und manche kommen, weil sie entwurzelt sind und im Kloster eine Heimat suchen.«

Das hatte in dem jungen Mädchen eine vertraute Saite zum Klingen gebracht. Ich habe niemals ein richtiges Zuhause gehabt, dachte Megan. Dies ist meine Chance.

»Ich glaube, ich möchte ins Kloster gehen.«

Sechs Wochen später legte Megan ihr Gelübde ab.

Damit hatte Megan gefunden, was sie so lange gesucht hatte. Hier war sie endlich zu Hause. Die anderen waren ihre Schwestern - die Familie, die sie nie gehabt hatte -, und sie waren alle eins unter ihrem Vater.

Im Kloster arbeitete Megan als Buchhalterin und hielt die Aufzeichnungen über den Wirtschaftsbetrieb auf dem laufenden. Vom ersten Tag an faszinierte sie die alte Zeichensprache, die der Verständigung zwischen den Schwestern und der Ehrwürdigen Mutter diente. Insgesamt gab es 472 Zeichen, mit denen sich wortlos alles ausdrücken ließ, was mitzuteilen war.

War beispielsweise eine Schwester an der Reihe, in den langen Korridoren Staub zu wischen, hielt Ehrwürdige Mutter Betina ihre waagrechte rechte Hand mit den Fingerspitzen an die Lippen und blies über den Handrücken. Hatte eine Nonne Fieber, ging sie zur Äbtissin und drückte die Spitzen von Zeige - und Mittelfinger der rechten Hand gegen die Außenseite ihres linken Handgelenks. Sollte einer Bitte erst später stattgegeben werden, hielt Ehrwürdige Mutter Betina ihre rechte Faust vor die rechte Schulter und machte eine Bewegung vom Körper weg nach unten. Morgen.

An einem trüben Novembertag lernte Megan erstmals das Sterberitual der Zisterzienserinnen kennen. Als eine Nonne im Sterben lag, ertönte eine hölzerne Klapper und gab damit das Zeichen für den Beginn eines seit dem Jahre 1030 unverändert beibehaltenen Rituals. Alle abkömmlichen Schwestern eilten ins Krankenzimmer, um die Letzte Ölung mit Psalmen zu begleiten. Sie flehten die Heiligen schweigend um ihre Fürbitte für die Seele ihrer heimgehenden Mitschwester an. Um das Zeichen für die Erteilung der Sterbesakramente zu geben, streckte die Äbtissin die linke Hand mit der Handfläche nach oben aus und machte darauf mit dem rechten Daumen das Kreuzzeichen.

Und zuletzt folgte das Zeichen für den eingetretenen Tod: eine Schwester legte die Spitze ihres rechten Daumens unter das Kinn der Verstorbenen und hob es leicht an.

Nach den letzten Gebeten wurde der Leichnam eine Stunde lang allein gelassen, damit die Seele in Frieden scheiden konnte. Am Fußende des Totenbetts brannte der große Wachsstock, das christliche Symbol des ewigen Lichts, auf seinem hölzernen Ständer.

Die Schwester Infirmarin wusch die Leiche und legte ihr das Totengewand an: schwarzes Skapulier über weißem Habit, grobwollene Strümpfe und handgenähte Sandalen. Aus dem Klostergarten brachte eine der Nonnen eine Blütenkrone, die sie der Toten aufs Haupt setzte. Danach trugen sechs der Schwestern sie in feierlicher Prozession in die Kirche, um sie vor dem Altar aufzubahren. Da sie vor ihrem Gott nicht allein gelassen werden sollte, blieben zwei Nonnen für den Rest des Tages und die Nacht hindurch betend dicht neben ihr, und der Wachsstock brannte weiterhin flackernd an ihrer Seite.

Am nächsten Nachmittag nach dem Requiem wurde die Verstorbene von Mitschwestern durchs Kloster zur Beisetzung auf ihrem eigenen, von Mauern umgebenen Friedhof getragen, auf dem die Nonnen noch im Tode von der Welt abgeschieden waren. Die Schwestern - je drei auf einer Seite - ließen sie an weißen Leinenbändern vorsichtig ins Grab hinab. Nach Zisterzienserbrauch wurde auch diese Tote ohne Sarg der Erde übergeben. Und zwei Nonnen erwiesen ihrer Schwestern den letzten Liebesdienst, indem sie den Leichnam sanft zuschaufelten, bevor sie alle in die Kirche zurückkehrten, um den Bußpsalm zu beten. Dreimal baten sie Gott, Erbarmen mit ihrer Seele zu haben:

»Domine, miserere super peccatrice.« »Domine, miserere super peccatrice.« »Domine, miserere super peccatrice.«

Die junge Schwester Megan litt häufig unter melancholischen Anwandlungen. Das Klosterleben brachte ihr innere Gelassenheit, aber keinen völligen Frieden. Es war, als fehle ein Stück ihrer selbst. Sie empfand Sehnsüchte, die sie längst hätte vergessen sollen. Sie ertappte sich dabei, dass sie an Freundinnen aus dem Waisenhaus dachte und sich fragte, was wohl aus ihnen geworden sein mochte. Und sie fragte sich, was in der Welt außerhalb der Klostermauern geschah - jener Welt, der sie entsagt hatte, einer Welt, in der es Musik und Tanz und Lachen gab.

Megan suchte Ehrwürdige Mutter Betina auf.

»Das erleben wir alle gelegentlich«, versicherte die Äbtissin ihr. »Die Kirche bezeichnet diesen Zustand als A-cedia. Er ist eine geistige Erkrankung, ein Werkzeug des Satans. Machen Sie sich deswegen keine Sorgen, Kind. Er gibt sich wieder.«

Und sie behielt recht.

Was sich jedoch nicht gab, war Megans heißer Wunsch, zu wissen, wer ihre Eltern waren. Das werde ich niemals erfahren, dachte sie verzweifelt. Mein Leben lang nicht.

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