9

»Lucia Carmine.«

»Nein!« rief Lucia aus. Alles Blut war ihr aus dem Gesicht gewichen. Sie sah sich verzweifelt nach einer Fluchtmöglichkeit um, aber es gab keine. Zu ihrer Verblüffung lächelte der Uniformierte plötzlich. Er beugte sich weit nach vorn und flüsterte: »Ihr Vater ist gut zu meiner Familie gewesen, Signorina. Sie können weiterfahren. Alles Gute!«

Lucia war vor Erleichterung schwindlig. »Grazie.«

Sie gab Gas und fuhr die fünfundzwanzig Meter bis zur französischen Grenzkontrolle. Der Beamte, der dort Dienst tat, war stolz darauf, einen Blick für schöne Frauen zu haben, und diese Frau, die jetzt neben ihm hielt, war ganz entschieden keine Schönheit. Ungepflegtes Haar, dicke Brille, schlechte Zähne und schlampige Kleidung. Warum können Italienerinnen nicht so schön wie Französinnen sein? dachte er angewidert. Er verzichtete darauf, Lucias Pass zu kontrollieren, und winkte sie durch.

Sechs Stunden später war sie in Beziers.

Der Hörer wurde sofort nach dem ersten Klingeln abgenommen.

»Hallo?« sagte eine freundliche Männerstimme. »Dominique Dureil, bitte.« »Ich bin Dominique Dureil. Und wer sind Sie?« »Lucia Carmine. Mein Vater hat mir gesagt, dass.« »Lucia!« Durells herzlicher Tonfall hieß sie willkommen. »Ich habe gehofft, dass Sie sich bei mir melden würden.«

»Ich brauche Hilfe.«

»Auf mich können Sie sich verlassen.«

Lucia atmete erleichtert auf. Das war die erste gute Nachricht seit langem. Sie merkte plötzlich, wie ausgelaugt sie war.

»Ich brauche eine Unterkunft, in der ich vor der Polizei sicher bin.«

»Kein Problem, Lucia. Meine Frau und ich haben eine ideal geeignete Ferienwohnung, die Sie haben können, solange Sie wollen.«

Das klang fast zu gut, um wahr zu sein.

»Vielen Dank.«

»Wo sind Sie jetzt, Lucia?«

»Ich bin.«

In diesem Augenblick war am anderen Ende im Hintergrund ein Polizeifunkgerät zu hören. Es wurde augenblicklich ausgeschaltet.

»Lucia.«

In ihrem Kopf schrillten sämtliche Alarmglocken, »Wo sind Sie, Lucia? Ich komme vorbei und hole Sie ab.«

Weshalb sollte er zu Hause den Polizeifunk abhören? Und er hat gleich beim ersten Klingeln abgehoben - fast als hätte er auf deinen Anruf gewartet.

»Lucia, hören Sie mich noch?«

Plötzlich wusste sie ganz sicher, dass der Mann am anderen Ende ein Polizeibeamter war. Also wurde auch in Frankreich nach ihr gefahndet. Und ihr Anruf wurde zu seinem Ausgangspunkt zurückverfolgt.

»Lucia.«

Sie hängte den Hörer ein und verließ rasch die Telefonzelle.

Du musst aus Frankreich verschwinden, dachte sie.

Lucia lief zu ihrem Wagen zurück und holte eine Straßenkarte aus dem Handschuhfach. Bis zur spanischen Grenze war es nicht weit. Sie warf die Karte auf den Beifahrersitz und fuhr nach Süden in Richtung San Sebastian.

An der spanischen Grenze begann alles schief zugehen.

»Ihren Pass, bitte.«

Lucia gab dem spanischen Grenzpolizisten ihren Reisepass. Der Uniformierte warf einen flüchtigen Blick hinein, wollte ihr den Pass schon zurückgeben und zögerte dann doch. Nach einem weiteren prüfenden Blick veränderte sich sein bis dahin eher gelangweilter Gesichtsausdruck.

»Augenblick, bitte. Den muss ich drinnen abstempeln lassen.«

Er hat dich erkannt! dachte Lucia verzweifelt. Sie beobachtete, wie er den Dienstraum der Abfertigungsstelle betrat und ihren Pass einem Kollegen zeigte. Die beiden sprachen aufgeregt miteinander. Sie musste weg von hier. Sie öffnete die Fahrertür und stieg aus. Deutsche Touristen, die kontrolliert worden waren, bestiegen lärmend ihren Ausflugsbus, der neben Lucias Fiat stand. Der Bus war auf dem Weg nach Madrid.

»Bitte Beeilung, Herrschaften!« rief ihr Reiseleiter.

Lucia warf einen Blick in den Dienstraum. Der Uniformierte, der ihr den Pass abgenommen hatte, brüllte ins Telefon.

»Bitte rasch einsteigen!«

Lucia mischte sich unter die lachenden, schwatzenden Touristen und drehte den Kopf zur Seite, damit der Reiseleiter ihr Gesicht nicht sah, als sie in den Bus stieg. Sie nahm ganz hinten Platz und hielt den Kopf gesenkt. Fahr los! betete sie. Sofort!

Durchs Busfenster konnte Lucia beobachten, dass ein weiterer Uniformierter sich zu den beiden anderen gesellt hatte und nun ebenfalls ihren Reisepass begutachtete.

Wie als Antwort auf ihr Stoßgebet ließ der Busfahrer den Motor an und schloss die mit Druckluft betätigten Türen. Im nächsten Augenblick rollte der Bus an und verließ San Sebastian in Richtung Madrid.

Was würde passieren, wenn die Grenzpolizei entdeckte, dass sie nicht mehr in ihrem Wagen war? Als erstes würden die Uniformierten glauben, sie sei auf die Damentoilette gegangen. Sie würden warten und schließlich eine Kollegin hineinschicken, um sie herausholen zu lassen. Danach würden sie die nähere Umgebung absuchen, weil denkbar war, dass sie sich dort versteckt hielt. In der Zwischenzeit würden Dutzende von Bussen und Personenwagen die Grenze passiert haben. Die Polizei würde nicht wissen, wohin sie verschwunden und wohin sie unterwegs war.

Die deutschen Bustouristen waren offenbar bester Laune. Weshalb auch nicht? dachte Lucia verbittert. Schließlich ist ihnen die Polizei nicht auf den Fersen. Hat es sich gelohnt, dafür den Rest deines Lebens zu riskieren? Die Szenen mit Richter Buscetta und Benito Patas standen erneut vor ihrem inneren Auge.

Ich habe das Gefühl, dass wir sehr gute Freunde werden könnten, Lucia... Tod den Verbrechern!

Und Benito Patas: Wie in der guten alten Zeit. Du hast mich nicht vergessen können, stimmt’s?

Und sie hatte ihre Angehörigen an den Verrätern Patas und Buscetta gerächt. Hat sich das gelohnt? Die beiden waren tot, aber ihr Vater und ihre Brüder würden bis ans Ende ihrer Tage leiden. O ja! dachte Lucia. Es hat sich gelohnt!

Irgendjemand im Bus begann zu singen, und die anderen fielen ein: »In München steht ein Hofbräuhaus, oans, zwoa, g’suffa.«

In dieser Gruppe bist du eine Zeitlang sicher, dachte Lucia. Wie ’s weitergeht, brauchst du dir erst in Madrid zu überlegen.

Aber sie sollte niemals bis nach Madrid kommen.

In der von Mauern umgebenen alten Stadt Avila hielt der Bus planmäßig, damit die Reisenden eine Erfrischung zu sich nehmen und eine Pinkelpause machen konnten, wie der Reiseleiter es gewollt scherzhaft nannte.

»Alles aussteigen!« rief er von der vorderen Tür her.

Lucia blieb auf ihrem Platz und sah zu, wie die anderen aufstanden und sich zur vorderen Tür drängten. Hier drinnen bist du sicherer. Aber der Reiseleiter wurde auf sie aufmerksam.

»Raus mit Ihnen, Fräulein!« forderte er sie auf. »Wir machen nur eine Viertelstunde Pause.«

Lucia zögerte noch; dann stand sie widerstrebend auf und kam langsam nach vorn.

»Augenblick!« sagte der Reiseleiter, als sie an ihm vorbeigehen wollte. »Sie gehören nicht zu dieser Gruppe.«

Lucia lächelte freundlich. »Nein«, bestätigte sie. »Wissen Sie, ich habe in San Sebastian eine Autopanne gehabt und muss dringend nach Madrid, deshalb.«

»Nein!« wehrte er scharf ab. »Ausgeschlossen! Wir sind eine private Reisegruppe.«

»Ja, ich weiß«, sagte Lucia, »aber ich muss dringend.«

»Die Mitfahrerlaubnis müssten Sie von der Firmenleitung in München einholen.«

»Das kann ich nicht. Ich hab’s schrecklich eilig und.«

»Nein, nein, kommt nicht in Frage! Ich will keine Scherereien. Verschwinden Sie, sonst hole ich die Polizei!«

»Aber.«

Er ließ sich durch nichts umstimmen. Zwanzig Minuten später beobachtete Lucia, wie der Bus anfuhr und in Richtung Madrid davon röhrte. Die Polizei in einem halben Dutzend europäischer Staaten fahndete wegen zweier Morde nach ihr, und sie saß ohne Pass und mit nur sehr wenig Geld in der Tasche in Avila fest.

Sie drehte sich um und betrachtete ihre Umgebung näher. Der Bus hatte gegenüber einem runden Gebäude gehalten, das durch ein Schild als Estacion de Autobusses ausgewiesen wurde.

Von hier aus kannst du mit einem anderen Bus weiterfahren, dachte Lucia.

Sie betrat den Busbahnhof. In der mit Marmor verkleideten Schalterhalle gab es ein Dutzend Fahrkartenschalter, über denen die Zielorte angegeben waren: Padier-nos... Munogalindo... Munana... Amavida... Madrid... Treppen und eine Rolltreppe führten ins Untergeschoß, aus dem die Busse abfuhren. An einem Imbissstand wurden Krapfen, Süßigkeiten und in Wachspapier eingewickelte Sandwiches verkauft. Bei diesem Anblick merkte Lucia plötzlich, wie ausgehungert sie war.

Kauf dir lieber nichts, dachte sie, bevor du weißt, was die Busfahrt kostet.

Als sie auf den Schalter zuging, über dem Madrid stand, kamen zwei Polizisten in die Schalterhalle gehastet. Einer von ihnen hielt ein Fahndungsfoto in der Hand. Die beiden klapperten die Schalter ab und zeigten den Fahrkartenverkäuferinnen das Foto.

Das ist dein Foto! Dieser verdammte Reiseleiter muss zur Polizei gegangen sein.

Eine vielköpfige Familie kam mit der Rolltreppe aus dem Untergeschoß herauf und bewegte sich in Richtung

Ausgang. Lucia schloss sich ihr an, mischte sich unter sie und gelangte so unbehelligt ins Freie.

Sie ging übers Kopfsteinpflaster der alten Stadt Avila davon und bemühte sich, nicht zu laufen, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Sie bog auf die Calle de la Mad-re Soledad mit ihren Granitfassaden und schwarzen schmiedeeisernen Baikonen ab und setzte sich auf der Plaza de la Santa auf eine Parkbank, um über ihren nächsten Schritt nachzudenken. Hundert Meter von ihr entfernt saßen mehrere Frauen und einige Paare im Park und genossen den Nachmittagssonnenschein.

Dann fuhr ein Streifenwagen vor. Er hielt am anderen Ende des Platzes, und zwei Uniformierte stiegen aus. Sie traten auf eine der allein auf einer Bank sitzenden Frauen zu und stellten ihr offenbar Fragen. Lucias Herz begann rascher zu schlagen.

Sie zwang sich dazu, langsam aufzustehen, kehrte den Polizeibeamten mit jagendem Puls den Rücken zu und ging davon. Die nächste Straße hieß unglaublicherweise »Die Straße von Leben und Tod«. Ob das ein Omen ist?

Auf der Plaza standen realistische Steinlöwen mit heraushängenden Zungen, und in Lucias überreizter Phantasie schienen sie nach ihr zu schnappen. Vor ihr erhob sich die Kathedrale, an deren Fassade Lucia ein Relief auffiel, das ein junges Mädchen und einen grinsenden Totenschädel zeigte. Überall schien der Tod zu lauern.

Lucia hörte eine Kirchenglocke läuten und blickte durchs offene Stadttor hinaus. Auf einem Hügel weit vor der Stadt erhob sich ein Kloster. Sie stand da und starrte es an.

»Weshalb sind Sie zu uns gekommen, meine Tochter?« fragte Ehrwürdige Mutter Betina mit leiser Stimme.

»Ich bin auf der Suche nach einem Zufluchtsort.« »Und Sie haben beschlossen, sich zu Gott zu flüchten?«

Genau! »Ja.« Lucia begann zu improvisieren. »Danach habe ich mich schon immer gesehnt - nach einem Leben im Frieden des Herrn.«

»In unserer Seele finden wir alles, was wir uns nur wünschen können, nicht wahr, meine Tochter?«

Mein Gott, sie fällt tatsächlich drauf rein, dachte Lucia zufrieden.

»Sie müssen wissen, dass der Zisterzienserorden der allerstrengste ist, mein Kind«, fuhr die Ehrwürdige Mutter fort. »Wir sind völlig von der Außenwelt isoliert.«

Ihre Worte waren Musik in Lucias Ohren.

»Wer im Schütze dieser Mauern lebt, hat gelobt, sie nie mehr zu verlassen.«

»Ich will sie nie verlassen«, versicherte Lucia ihr. Zumindest in den nächsten Monaten nicht.

Die Ehrwürdige Mutter erhob sich. »Das ist eine schwerwiegende Entscheidung. Ich schlage vor, dass Sie wiederkommen, wenn Sie gründlich darüber nachgedacht haben und zu einem Entschluss gelangt sind.«

Lucia merkte, dass die Situation ihrer Kontrolle entglitt, und begann in Panik zu geraten. Sie wusste nicht, wo sie hätte hingehen sollen. Ihre einzige Hoffnung war, hinter diesen Mauern bleiben zu dürfen.

»Ich habe darüber nachgedacht«, sagte Lucia rasch. »Glauben Sie mir, Ehrwürdige Mutter, ich habe an nichts anderes mehr gedacht. Ich möchte der Welt entsagen.« Sie sah der Äbtissin in die Augen. »Ich möchte lieber hier als an irgendeinem anderen Ort der Welt sein.« Ihr bestimmter Tonfall klang überzeugend.

Die Ehrwürdige Mutter stand vor einem Rätsel. Diese junge Frau hatte etwas aufgeregt Ängstliches an sich, das beunruhigend war. Aber welchen besseren Grund konnte es dafür geben, hier Zuflucht zu suchen, wo Gebet und Meditation Seelenfrieden brachten?

»Sind Sie katholisch?«

»Ja, Ehrwürdige Mutter.«

Die Äbtissin nahm wieder Platz und griff nach einem altmodischen Federhalter. »Ihr Name, Kind?«

»Ich heiße Lucia Car. Caproni.«

»Leben Ihre Eltern noch?«

»Nur mein Vater.«

»Was ist er von Beruf?«

»Er ist Geschäftsmann gewesen. Jetzt hat er sich zur Ruhe gesetzt.« Der Gedanke daran, wie blass und krank er bei ihrem letzten Besuch ausgesehen hatte, versetzte ihr einen Stich ins Herz.

»Haben Sie Geschwister?«

»Zwei Brüder.«

»Und was sind sie von Beruf?«

Lucia beschloss, lieber dick aufzutragen. »Die beiden studieren Theologie.«

»Wundervoll!«

Diese Befragung ging fast drei Stunden weiter. »Ich lasse Ihnen für die Nacht ein Bett anweisen«, entschied die Ehrwürdige Mutter Betina dann. »Morgen beginnen wir mit dem Unterricht, und wenn Sie nach seinem Abschluss noch immer bleiben wollen, können Sie in den Orden eintreten. Aber ich muss Sie warnen: Sie haben einen sehr schwierigen Weg gewählt.«

»Glauben Sie mir«, sagte Lucia aufrichtig, »mir bleibt keine andere Wahl.«

Eine laue Nachtbrise flüsterte in den Bäumen, unter denen Lucia schlief. Sie war auf einem Fest in einer luxuriösen Villa, ihr Vater und ihre Brüder waren ebenfalls da, und alle amüsierten sich glänzend, als ein Unbekannter hereingestapft kam und fragte: »Wer sind diese Leute, verdammt noch mal?« Und die Lichter flammten auf, und eine helle Taschenlampe schien ihr ins Gesicht, und sie schrak hoch und setzte sich auf, während die Lampe sie weiter blendete.

Die Nonnen auf der Lichtung waren von etwa einem halben Dutzend Männern eingekreist. Da das Licht blendete, konnte Lucia ihre Umrisse nur undeutlich erkennen.

»Wer sind Sie?« wollte der Mann wissen. Seine Stimme war grob und tief.

Lucias Verstand arbeitete auf Hochtouren. Sie schienen in der Falle zu sitzen. Aber wenn diese Männer Polizisten gewesen wären, hätten sie gewusst, wer die vier Frauen waren. Und was hatten sie mitten in der Nacht hier im Wald zu suchen?

Lucia setzte alles auf eine Karte. »Wir sind Schwestern aus dem Kloster Avila«, antwortete sie. »Heute morgen sind wir von einem Sonderkommando überfallen und.«

»Das haben wir gehört«, unterbrach der Mann sie.

Auch die anderen Schwestern setzten sich jetzt ängstlich und hellwach auf.

»Wer. wer sind Sie?« fragte Megan.

»Ich bin Jaime Miro.«

Die Männer waren zu sechst: kräftige Gestalten in Cordjeans, Lederjacken, Rollkragenpullovern, festen Lederstiefeln und den traditionellen Baskenmützen. Sie waren schwer bewaffnet und wirkten im schwachen Mondlicht geradezu dämonisch. Zwei von ihnen schienen erst vor kurzem körperlich misshandelt worden zu sein.

Der Mann, der sich Jaime Miro nannte, war groß und hager und hatte wilde schwarze Augen. »Sie können hierher verfolgt worden sein.« Er nickte einem seiner Leute zu. »Sieh dich mal um.«

»Si.«

Lucia merkte, dass eine Frau geantwortet hatte, und beobachtete, wie sie lautlos unter den Bäumen verschwand.

»Was hast du mit ihnen vor?« fragte Ricardo Mellado.

»Nada«, antwortete Jaime Miro. »Wir lassen sie hier und marschieren weiter.«

»Jaime, das sind kleine Schwestern Christi«, protestierte einer der Männer.

»Dann soll Jesus sich um sie kümmern«, sage Miro knapp. »Wir haben genügend andere Sorgen.«

Die inzwischen aufgestandenen Nonnen warteten auf eine Entscheidung. Die Männer umringten Jaime Miro und diskutierten mit ihm.

»Wir dürfen nicht zulassen, dass sie gefasst werden. Acoca und seine Männer sind hinter ihnen her.«

»Ohne unsere Hilfe schaffen’s die Schwestern nie.«

»Wir haben keinen Grund, unser Leben für sie zu riskieren«, stellte Miro nachdrücklich fest. »Wir haben genügend eigene Probleme.«

Felix Carpio, einer seiner Unterführer, ergriff das Wort. »Wir könnten sie ein Stück weit begleiten, Jaime«, schlug er vor. »Damit sie erst mal von hier wegkommen.« Er wandte sich an die Nonnen. »Wohin sind Sie unterwegs, Schwestern?«

»Ich habe einen heiligen Auftrag«, antwortete Teresa, aus deren Blick das Licht Gottes leuchtete. »Das Kloster Mendavia wird uns Zuflucht gewähren.«

»Wir könnten sie dorthin begleiten«, sagte Carpio zu Miro. »Mendavia liegt auf unserem Weg nach San Sebastian.«

Jaime Miro funkelte ihn aufgebracht an. »Verdammter Idiot! Musst du überall rumposaunen, wohin wir wollen?«

»Ich wollte nur sagen.«

»Mierda!« Das klang angewidert. »Jetzt bleibt uns nichts anderes übrig, als sie tatsächlich mitzunehmen. Bekäme Acoca sie in die Finger, würde er sie zum Reden bringen. Mit ihnen kommen wir langsamer voran, so dass Acocas Schlächter uns um so leichter verfolgen können.«

Lucia hörte nur mit halbem Ohr zu. Das goldene Kruzifix lag verlockend ganz in ihrer Nähe. Aber diese verdammten Kerle! Dein Zeitgefühl ist schauderhaft, Gott, und du hast einen merkwürdigen Sinn für Humor.

»Gut, meinetwegen«, sagte Jaime Miro gerade. »Wir müssen eben das Beste daraus machen. Wir bringen sie bis zum Kloster, aber wir können nicht alle gemeinsam wie ein gottverdammter Wanderzirkus durch die Gegend ziehen.« Als er sich jetzt an die Nonnen wandte, war seine Verärgerung unüberhörbar. »Wisst ihr überhaupt, wo Mendavia liegt?«

Die Schwestern wechselten einen stummen Blick.

»Nicht genau«, gab Schwester Graciela zu.

»Und wie hättet ihr dann hinfinden wollen, verdammt noch mal?«

»Gott wird uns führen«, sagte Schwester Teresa nachdrücklich.

Rubio Arzano, ein weiterer Vertrauter Miros, grinste. »Sie haben Glück gehabt.« Er nickte zu Jaime hinüber. »Er ist persönlich erschienen, um Sie zu führen, Schwester.«

Jaime brachte ihn mit einem Blick zum Schweigen. »Wir trennen uns und benützen drei verschiedene Routen.«

Er holte eine Landkarte aus seinem Rucksack, und die Männer kauerten ringsum und richteten ihre Taschenlampen auf die Karte.

»Das Kloster Mendavia liegt hier - südöstlich von Logrono. Ich marschiere nach Norden über Valladolid und dann weiter nach Burgos.« Miro fuhr mit dem Zeigefinger seine Route nach, bevor er sich an Rubio Arzano, einen großen, freundlich wirkenden Mann, wandte. »Du nimmst die Route über Olmedo und nach Penafiel und Aranda de Duero.«

»Wird gemacht, Amigo.«

Jaime konzentrierte sich erneut auf die Landkarte. Er sah zu Ricardo Mellado auf, einem der beiden Männer, deren Gesichter Spuren von Misshandlungen trugen. »Ricardo, du marschierst nach Segovia und von dort aus über die Berge nach Carezo de Abono und Soria. Unser gemeinsamer Treffpunkt ist Logrono.« Er faltete die Karte zusammen. »Logrono ist zweihundertzehn Kilometer von hier entfernt.« Miro rechnete schweigend. »Wir treffen uns in sieben Tagen. Haltet euch von den Hauptstraßen fern.«

»Wo treffen wir uns in Logrono?« wollte Felix Carpio wissen.

»Nächste Woche spielt dort der Zirkus Nippon«, sagte Ricardo.

»Gut, dann treffen wir uns dort. In der Nachmittagsvorstellung.«

»Und wer nimmt die Nonnen mit?« fragte Felix weiter.

»Die verteilen wir auf die Gruppen.«

Diesem Unsinn muss ein Ende gemacht werden, dachte Lucia. »Falls nach Ihnen gefahndet wird, Senores, sind wir weniger gefährdet, wenn wir uns allein durchschlagen.«

»Aber wir nicht, Schwester«, antwortete Jaime. »Sie wissen schon zuviel über unsere Pläne.«

»Außerdem hätten Sie keine Chance«, fügte Rubio Arzano hinzu. »Wir kennen das Land. Wir sind Basken, und die Menschen im Norden sind unsere Freunde. Sie helfen und verstecken uns vor dem nationalistischen Militär. Allein würden Sie nie nach Mendavia durchkommen.«

Ich will nicht nach Mendavia, du Idiot!

»Gut, dann brechen wir jetzt auf«, sagte Jaime Miro missmutig. »Bei Tagesanbruch müssen wir schon möglichst weit fort sein.«

Schwester Megan hörte dem Mann, der die Befehle erteilte, schweigend zu. Er war grob und arrogant, schien aber irgendwie beruhigende Kraft auszustrahlen.

Miro sah zu Schwester Teresa hinüber und zeigte auf Tomas Sanjuro und Rubio Arzano. »Diese beiden sind für Sie verantwortlich.«

»Für mich ist Gott verantwortlich«, sagte Schwester Teresa.

»Klar«, bestätigte Jaime trocken. »Deshalb sind Sie vermutlich überhaupt hier.«

Rubio trat auf sie zu. »Rubio Arzano zu Ihren Diensten, Schwester. Wie heißen Sie?«

»Ich bin Schwester Teresa.«

»Ich gehe mit Schwester Teresa«, warf Lucia rasch ein. Sie hatte nicht die Absicht, sich von dem goldenen Kruzifix trennen zu lassen.

Jaime Miro nickte. »Einverstanden, Schwester.« Er deutete auf Graciela. »Ricardo, du nimmst diese hier mit.«

Ricardo Mellado nickte wortlos.

Die Frau, die Miro als Kundschafterin ausgeschickt hatte, war wieder zurück. »Alles klar, Jaime«, meldete sie.

»Gut.« Jaime Miro sah zu Megan hinüber. »Sie kommen mit uns, Schwester.«

Megan nickte zufrieden. Jaime Miro faszinierte sie. Und auch an der Frau reizte sie irgend etwas. Sie war rothaarig und wild, mit den scharfen Zügen eines Raubtiers. Ihr Mund glich einer roten Wunde. Ihre Ausstrahlung war unglaublich erotisch.

Jetzt baute sie sich vor Megan auf. »Ich bin Amparo Ji-ron. Halten Sie den Mund, Schwester, dann gibt’s keine Schwierigkeiten.«

»Los, wir müssen weiter!« befahl Jaime den anderen. »In sieben Tagen in Logrono. Lasst die Schwestern keine Sekunde aus den Augen.«

Rubio Arzano und Schwester Teresa waren bereits als erste unterwegs. Lucia hastete hinter ihnen her. Sie hatte die Landkarte gesehen, die Arzano in seinen Rucksack gesteckt hatte. Die nimmst du ihm ab, beschloss Lucia, wenn er schläft.

Ihre Flucht quer durch Spanien hatte begonnen.

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