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Oberst Ramon Acoca besaß den Instinkt eines Jägers. Er liebte die Jagd, aber erst das Töten verschaffte ihm die wahre innerliche Befriedigung. »Wenn ich töte, habe ich einen Orgasmus«, hatte er einst einem Freund gestanden. »Ob’s ein Stück Wild oder ein Mensch ist, spielt dabei keine Rolle - einem Leben ein Ende zu setzen erweckt in einem gottähnliche Gefühle.«

Acoca war ursprünglich Nachrichtendienstoffizier gewesen und rasch in den Ruf eines brillanten Kopfs gelangt. Er war furchtlos, skrupellos und intelligent: eine Kombination, die einen der Stabsoffiziere General Fran-cos auf ihn aufmerksam werden ließ.

Ramon Acoca war als Leutnant in Francos Stab eingetreten und hatte es in weniger als drei Jahren zum Major gebracht - eine nahezu unglaublich rasche Beförderung. Er bekleidete eine Führungsposition bei den Falangisten, der Sonderformation zur Terrorisierung der Gegner Francos.

Während des Bürgerkriegs hatte ein Mitglied des OPUS mundo Acoca zu sich bestellt.

»Ich möchte, dass Sie wissen, dass wir mit Erlaubnis General Francos mit Ihnen sprechen.«

»Gewiss, Exzellenz.«

»Wir haben Sie beobachtet, Major. Was wir sehen, gefällt uns.«

»Danke, Exzellenz.«

»Von Zeit zu Zeit haben wir bestimmte Aufträge, die. sagen wir mal. höchst vertraulich sind. Und sehr gefährlich.«

»Ich verstehe, Exzellenz.«

»Wir haben viele Feinde. Leute, die nicht begreifen, wie wichtig unsere Arbeit ist.«

»Ja, Exzellenz.«

»Manchmal stellen sie sich uns sogar in den Weg. Das können wir nicht zulassen.«

»Nein, Exzellenz.«

»Ich glaube, wir könnten einen Mann wie Sie brauchen, Major. Ich denke, wir verstehen einander.«

»Gewiss, Exzellenz. Für mich wäre es eine Ehre, helfen zu dürfen.«

»Wir möchten, dass Sie beim Militär bleiben. Das kann für uns nützlich sein. Aber wir sorgen dafür, dass Sie gelegentlich zu solchen „Sondereinsätzen abkommandiert werden.«

»Danke, Exzellenz.«

»Von diesem Gespräch darf niemals jemand erfahren.«

»Nein, Exzellenz.«

Der Mann hinter dem Schreibtisch hatte Acoca nervös gemacht. Er hatte etwas überwältigend Furchterregendes an sich gehabt.

Im Laufe der Jahre war Ramon Acoca aufgefordert worden, ein halbes Dutzend Aufträge für das OPUS MUNDO durchzuführen. Wie ihm vorher mitgeteilt worden war, waren sie alle gefährlich. Und höchst vertraulich.

Bei einem dieser Einsätze hatte Acoca ein sehr hübsches junges Mädchen aus vornehmer Familie kennen gelernt. Bis dahin waren alle seine Frauen Prostituierte gewesen, die er mit brutaler Verachtung behandelt hatte. Einige von ihnen, die seine Kraft und Vitalität anziehend fanden, hatten sich tatsächlich in ihn verliebt. Diesen Frauen gegenüber hatte er sich am miesesten aufgeführt.

Susanna Cerredilla jedoch gehörte einer anderen Welt an. Ihr Vater war Professor an der Universität Madrid, ihre Mutter praktizierte als Rechtsanwältin. Die siebzehnjährige Susanna besaß den Körper einer Frau und das Engelsgesicht einer Madonna. Ramon Acoca hatte noch nie ein Wesen wie diese Kindfrau gekannt. Auf ihre sanfte Verletzbarkeit reagierte er mit einer Zärtlichkeit, die ihn selbst überraschte. Er verliebte sich Hals über Kopf in sie, und aus Gründen, die weder er noch ihre Eltern verstanden, verliebte Susanna sich auch in ihn.

In den Flitterwochen hatte Acoca das Gefühl, nie andere Frauen gekannt zu haben. Lust empfunden hatte er auch bei anderen, aber diese Kombination aus Liebe und Leidenschaft war für ihn etwas gänzlich Neues.

Drei Monate nach ihrer Hochzeit teilte Susanna ihm mit, dass sie schwanger sei. Diese Nachricht löste bei Acoca wilde Begeisterung aus. Vergrößert wurde seine Freude durch die Tatsache, dass er zu einer Dienststelle in dem schönen Dorf Castilbanca im Baskenland versetzt wurde. Das war im Herbst 1936, als die Kämpfe zwischen Nationalisten und Republikanern am heftigsten tobten.

Als das Ehepaar Acoca an einem friedlichen Sonntagmorgen auf der Plaza von Castilbanca Kaffee trank, füllte sich der Platz überraschend mit baskischen Demonstranten.

»Ich möchte, dass du nach Hause gehst«, sagte Ramon Acoca zu seiner jungen Frau. »Hier gibt’s bestimmt Auseinandersetzungen.«

»Aber du.?«

»Bitte geh! Mir passiert schon nichts.«

Die Demonstranten begannen jetzt, sich drohend zusammenzurotten.

Acoca beobachtete erleichtert, wie seine junge Frau sich von der Menge entfernte und auf das Nonnenkloster am jenseitigen Rand der Plaza zuging. Als sie das Portal fast erreicht hatte, wurde die Klosterpforte aufgestoßen, und bewaffnete Basken, die sich dahinter verborgen gehalten hatten, stürmten wild um sich schießend ins Freie. Ohne seiner Frau helfen zu können, musste Acoca mit ansehen, wie sie im Kugelhagel tot zusammenbrach.

Seit diesem Tag hatte Acoca den Basken ewige Rache geschworen. Und die Kirche war in seinen Augen mitschuldig.

Jetzt stand er in Avila vor einem weiteren Nonnenkloster. Diesmal müssen sie sterben.

Im Kloster hielt Schwester Teresa im Dunkel vor Tagesanbruch die Disziplin mit der rechten Hand umklammert, geißelte sich unbarmherzig damit und spürte, wie die verknoteten Stricke in ihr Fleisch schnitten, während sie im stillen das Miserere aufsagte. Sie hätte beinahe laut aufgeschrien, aber das absolute Schweigegebot zwang sie dazu, ihre Schreie zu unterdrücken. Jesus, vergib mir meine Sünden. Sieh, wie ich mich züchtige, wie du gezüchtigt worden bist, und mir Wunden zufüge, wie dir Wunden zugefügt worden sind. Lass mich leiden, wie du gelitten hast.

Sie war nahe daran, vor Schmerzen ohnmächtig zu werden. Noch dreimal geißelte sie sich, dann sank sie schmerzgepeinigt auf ihren Strohsack. Schwester Teresa hatte sich nicht blutig geschlagen. Das war verboten. Mit zusammengebissenen Zähnen, weil jede Bewegung schmerzte, legte sie die Peitsche in ihren schwarzen Kasten zurück und stellte ihn in eine Ecke der Zelle. Dort erinnerte er sie ständig daran, dass selbst die lässlichste Sünde unter Schmerzen gebüßt werden musste.

Schwester Teresas Vergehen hatte sich an diesem Morgen ereignet, als sie auf dem Korridor mit gesenktem Blick um eine Ecke gebogen und mit Schwester Graciela zusammengestoßen war. Im ersten Schreck hatte Schwester Teresa den Kopf gehoben und ihrer Mitschwester ins Gesicht gesehen. Schwester Teresa hatte ihren Verstoß gegen die Ordensregel sofort gemeldet, und die Ehrwürdige Mutter Betina hatte missbilligend die Stirn gerunzelt und das Zeichen der Disziplin gemacht: eine dreimalige Bewegung der wie um einen Peitschengriff geschlossenen rechten Hand von Schulter zu Schulter, wobei die Daumenspitze gegen die Innenseite des Zeigefingers gedrückt wurde.

Nachts auf ihrem Strohsack hatte Schwester Teresa immer wieder an das überirdisch schöne Gesicht denken müssen, in das sie geblickt hatte. Sie wusste genau, dass sie ihr Leben lang niemals mit Schwester Graciela sprechen und sie nie wieder ansehen würde, denn schon die geringste Vertraulichkeit zwischen Nonnen wurde streng bestraft. In der hier herrschenden Atmosphäre körperlicher und moralischer Askese durften sich keine Beziehungen entwickeln. Schienen zusammenarbeitende Schwestern Freude an der stummen Gesellschaft der anderen zu haben, veranlasste die Ehrwürdige Mutter sofort eine Trennung. Auch bei Tisch durften Schwestern nie zweimal nebeneinander sitzen. Die Neigung einer Nonne zu einer anderen bezeichnete die Kirche delikat als »besondere Freundschaft«, die rasch und streng bestraft wurde. Schwester Teresa hatte dafür gebüßt, dass sie gegen die Ordensregel verstoßen hatte.

Jetzt hörte Schwester Teresa die Kirchenglocke wie aus weiter Ferne. Das war die Stimme Gottes, die sie tadelte.

In der benachbarten Zelle drang die Stimme aus Erz durch die Korridore von Schwester Gracielas Träumen, und in das Läuten mischte sich das obszöne Knarren einer Sprungfedermatratze. Der Maure kam auf sie zu, nackt, mit aufgerichtetem Geschlecht und nach ihr greifenden Händen. Schwester Graciela schrak hoch und fühlte ihr Herz jagen. Sie sah sich erschrocken um, aber sie war in ihrer winzigen Zelle allein, und das einzige Geräusch war das beruhigende Glockengeläut.

Schwester Graciela kniete neben ihrer Pritsche nieder. Jesus, ich danke dir, dass du mich von meiner Vergangenheit erlöst hast. Ich danke dir für die Gnade, in deinem Licht leben zu dürfen. Lass mich nur an dir Freude finden. Hilf mir, mein Geliebter, deinem Ruf zu folgen. Hilf mir, den Kummer deines geheiligten Herzens zu lindern. Amen.

Schwester Graciela erhob sich, machte sorgfältig ihr Bett und reihte sich dann in die Prozession der zum Nachtoffizium in die Kapelle eilenden Schwestern ein. Sie roch den vertrauten Duft brennender Kerzen und spürte die glatt geschliffenen Steinplatten unter ihren Sandalen.

In der ersten Zeit nach ihrem Eintritt ins Kloster hatte Schwester Graciela nicht verstanden, was die Ehrwürdige Mutter meinte, wenn sie sagte, eine Nonne sei eine Frau, die alles aufgegeben habe, um alles zu besitzen. Damals war Schwester Graciela vierzehn Jahre alt gewesen. Jetzt - siebzehn Jahre später - war ihr der Sinn dieser Aussage klar. Durch Meditation besaß sie alles, denn Meditation war das Zwiegespräch des Geistes mit der Seele, die still fließenden Wasser der Quelle Siloah. Ihre Tage waren von wundervollem Frieden erfüllt.

Ich danke dir, o Herr, dass du mich die schreckliche Vergangenheit hast vergessen lassen. Ich danke dir für deinen Beistand. Ohne dich käme ich nicht über meine schreckliche Vergangenheit hinweg. Danke... danke... danke...

Nach dem Nachtoffizium kehrten die Nonnen in ihre Zellen zurück, um bis zu den Laudes bei Sonnenaufgang zu schlafen.

Im Dunkel der Nacht gelangten Ramon Acoca und seine Männer rasch bis vor das Nonnenkloster. »Jaime Miro und seine Leute sind natürlich bewaffnet«, sagte der Oberst, als er sie für die Erstürmung einteilte, »geht also kein unnötiges Risiko ein.«

Während er die Klosterfassade betrachtete, erschien vor seinem inneren Auge jenes andere Klosterportal, aus dem baskische Aufständische quollen, deren Waffen Susanna in einem Kugelhagel hatten zusammenbrechen lassen.

»Gebt euch keine Mühe, Jaime Miro lebend gefangen zu nehmen«, fügte er hinzu.

Schwester Megan wachte durch die Stille auf. Es war eine ungewohnte Stille, eine sich bewegende Stille, in der die Luft zu strömen und Körper zu flüstern schienen. Das waren Geräusche, die sie in ihren eineinhalb Jahrzehnten im Kloster Avila niemals zuvor gehört hatte. Sie wurde plötzlich von einer Vorahnung schlimmer Dinge erfasst.

Sie stand in der Dunkelheit auf und öffnete lautlos die Zellentür. Zu ihrer Verblüffung war der lange Korridor mit den steinernen Bodenplatten voller Männer. Ein Riese mit narbigem Gesicht kam aus der Zelle der Ehrwürdigen Mutter und zerrte die Äbtissin am Arm hinter sich her. Schwester Megan starrte ihn erschrocken an. Ich habe einen Alptraum, dachte sie. Diese Männer können nicht wirklich hier sein.

»Wo halten Sie ihn versteckt?« fragte Oberst Acoca laut.

Auf dem Gesicht der Ehrwürdigen Mutter Betina mischten sich Schock und Entsetzen. »Pst! Dies ist ein Tempel Gottes. Sie entweihen ihn.« Ihre Stimme zitterte. »Sie müssen ihn sofort verlassen.«

Der Oberst packte ihren Arm noch fester und schüttelte sie. »Ich will wissen, wo Miro ist, Schwester.«

Der Alptraum war Wirklichkeit.

Auch andere Zellentüren wurden jetzt geöffnet, und Nonnen, aus deren Mienen völlige Verwirrung sprach, erschienen auf den Schwellen. Nichts in ihrem ganzen bisherigen Ordensleben hatte sie auf dieses außergewöhnliche Ereignis vorbereitet.

Oberst Acoca stieß die Äbtissin beiseite und wandte sich an Patricio Arrieta, einen seiner Offiziere. »Lassen Sie das Kloster durchsuchen. Von oben bis unten.«

Acocas Männer schwärmten aus: in die Kapelle, ins Refektorium und in die Zellen, wo sie noch schlafende Nonnen grob wach rüttelten, um sie dann vor sich durch die Gänge in die Kapelle zu treiben. Die Konventualin-nen gehorchten wortlos und hielten sich auch jetzt noch an das Schweigegebot. Schwester Megan hatte den Eindruck, einen Stummfilm zu sehen.

Rachedurst erfüllte Acocas Männer. Sie waren alle Falangisten und erinnerten sich nur allzu gut daran, wie die Kirche sich während des Bürgerkriegs von ihnen abgewandt und die Loyalisten im Kampf gegen Generalissimus Franco, ihren geliebten Führer, unterstützt hatte. Dies war ihre Chance, sich wenigstens teilweise dafür zu rächen. Die schweigende Stärke der Zisterzienserinnen brachte die Männer immer mehr gegen sie auf.

Aus einer Zelle, an der Acoca vorbeikam, drang ein Hilfeschrei. Der Oberst warf einen Blick hinein und sah, wie einer seiner Männer einer Nonne den Habit vom Leib riss. Acoca ging weiter.

Schwester Lucia wurde durch laute Männerstimmen geweckt. Sie setzte sich in panischer Angst auf. Die Polizei hat dich aufgespürt, war ihr erster Gedanke. Du musst hier raus! Aber der einzige Fluchtweg führte durch die Klosterpforte.

Sie stand hastig auf und sah vorsichtig in den Korridor hinaus. Dort bot sich ihr ein wahrhaft erstaunliches Bild. Auf dem Korridor drängten sich keine Polizeibeamten, sondern bewaffnete Männer in Zivil, die Lampen und Möbelstücke zerschlugen. Während sie herumliefen, herrschte überall größte Verwirrung.

Mitten in diesem Chaos stand Ehrwürdige Mutter Beti-na, betete stumm und sah hilflos zu, wie die Männer ihr geliebtes Kloster verwüsteten. Schwester Megan trat an ihre Seite, und Lucia schloss sich den beiden an.

»Ver.. was geht hier vor? Wer sind die Kerle?« fragte Lucia. Das waren ihre ersten laut gesprochenen Worte seit ihrem Eintritt ins Kloster.

Die Ehrwürdige Mutter schob ihre rechte Hand dreimal unter die linke Achsel: das Zeichen für verstecken.

Lucia starrte sie ungläubig an. »Jetzt dürfen Sie ruhig sprechen. Wir müssen um Himmels willen zusehen, dass wir hier rauskommen! Und ich meine wirklich um Himmels willen.«

Patricio Arrieta, der die Suchaktion geleitet hatte, hastete auf Acoca zu. »Wir haben alles durchsucht, Oberst«, meldete er. »Nirgends eine Spur von Miro oder seiner Bande.«

»Weitersuchen«, befahl Acoca ihm stur.

In diesem Augenblick erinnerte die Ehrwürdige Mutter sich an den einzigen Schatz, den das Kloster besaß. Sie winkte Schwester Teresa heran und flüsterte ihr zu: »Ich habe einen Auftrag für Sie. Holen Sie das goldene Kruzifix aus der Sakristei und bringen Sie’s ins Kloster Men-davia. Sie müssen es von hier fortschaffen. Beeilen Sie sich!«

Schwester Teresa zitterte so sehr, dass ihr Schleier sich wellenförmig bewegte. Sie starrte die Ehrwürdige Mutter wie gelähmt an. Nach drei in diesem Kloster verbrachten Jahrzehnten erschien ihr der Gedanke, es verlassen zu sollen, geradezu unvorstellbar. Sie hob ihre Hand und signalisierte: Ich kann nicht.

Die Ehrwürdige Mutter war der Verzweiflung nahe. »Unser Kruzifix darf diesen Teufeln in Menschengestalt nicht in die Hände fallen. Sie müssen es für Jesus tun!«

In Schwester Teresas Augen trat ein Leuchten. Sie richtete sich zu voller Größe auf, machte das Zeichen "Für Jesus!” und hastete in Richtung Kapelle davon.

Schwester Graciela näherte sich der Gruppe und starrte die um sie herum herrschende Verwüstung sprachlos an.

Die Männer wurden immer gewalttätiger und zertrümmerten alles, was ihnen unter die Finger kam. Oberst Acoca beobachtete ihr Zerstörungswerk anerkennend.

Lucia wandte sich an Megan und Graciela. »Ich weiß nicht, was ihr vorhabt, aber ich verdrücke mich lieber. Kommt ihr mit?«

Die beiden starrten sie an, als seien sie zu benommen, um zu antworten.

Dann kam Schwester Teresa mit einem Gegenstand gelaufen, den sie in ein Leinentuch gewickelt hatte. Die unbekannten Männer trieben weitere Nonnen ins Refektorium.

»Los, wir verschwinden!« drängte Lucia.

Die Schwestern Teresa, Megan und Graciela zögerten noch einen Augenblick; dann folgten sie Lucia zur Pforte. Als sie um eine Ecke des langen Korridors bogen, sahen sie, dass das massive Portal aufgebrochen worden war.

Plötzlich tauchte ein Mann vor ihnen auf. »Wohin so eilig, meine Damen? Zurück! Meine Freunde möchten sich noch ein bisschen mit euch amüsieren.«

»Wir haben ein Geschenk für Sie«, sagte Lucia und griff lächelnd nach einem der schweren Kerzenleuchter auf den Tischen der Eingangshalle.

Der Mann betrachtete den Leuchter verständnislos. »Was kann man damit anfangen?«

»Das.« Lucia schlug ihm den Leuchter auf den Kopf, und der Mann brach bewusstlos zusammen.

Die drei Nonnen starrten sie entsetzt an.

»Weiter!« sagte Lucia.

Wenige Augenblicke später erreichten Lucia, Megan, Teresa und Graciela den Vorhof und hasteten durchs Tor in die sternenklare Nacht hinaus.

Lucia blieb stehen. »Hier trennen sich unsere Wege. Sie suchen bestimmt nach euch, deshalb verschwindet ihr am besten so rasch wie möglich.«

Sie wandte sich ab und machte sich auf den Weg zu den Bergen, die in der Ferne über dem Kloster aufragten. Du hältst dich dort oben versteckt, bis die Suche abgebrochen wird, und versuchst dann, dich in die Schweiz durchzuschlagen. Dieses verdammte Pech! Die Scheißkerle haben mir meine perfekte Tarnung versaut!

Auf halber Höhe des ersten Hügels drehte Lucia sich noch einmal um. Von diesem Beobachtungspunkt aus konnte sie die drei Nonnen sehen. Unglaublicherweise standen sie noch immer wie schwarzweiße Statuen vor dem Klostertor. Um Himmels willen, dachte sie. Seht zu, dass ihr verschwindet, bevor sie euch schnappen. Bewegt euch!

Sie waren zu keiner Bewegung imstande. Ihre Sinne schienen so lange gelähmt gewesen zu sein, dass sie jetzt außerstande waren, die Ereignisse um sie herum zu erfassen. Die Zisterzienserinnen starrten vor sich hin zu Boden. Sie waren zu benommen, um einen klaren Gedanken fassen zu können. Sie hatten so lange abgeschieden hinter Gottes Wällen gelebt, dass das Bewusstsein, außerhalb dieser schützenden Mauern zu sein, sie mit Angst und Verwirrung erfüllte.

Die drei wussten nicht, wohin sie sich wenden und was sie tun sollten. Im Kloster waren ihnen alle Entscheidungen abgenommen worden. Sie waren ernährt und gekleidet und angewiesen worden, dies oder jenes zu dieser oder jener Zeit zu tun. Sie hatten nach der Ordensregel gelebt. Aber plötzlich gab es keine Regel mehr. Was erwartete Gott von ihnen? Was hatte er mit ihnen vor? Sie standen dicht beieinander, hatten Angst, miteinander zu sprechen, und fürchteten sich davor, einander ins Gesicht zu blicken.

Schließlich deutete Schwester Teresa zögernd auf die in der Ferne erkennbaren Lichter Avilas und machte ein Zeichen: Dorthin.

Nein, ihr Idiotinnen! dachte Lucia, die sie vom ersten Hügel aus beobachtete. Dort suchen sie euch zuerst. Aber das ist euer Problem. Ich habe eigene Sorgen. Sie blieb einen Augenblick unbeweglich stehen und sah die anderen ins Verderben, zur Schlachtbank rennen. Scheiße!

Lucia rannte bergab, stolperte in dem Geröll, das den Weg bedeckte, und lief hinter den dreien her, wobei der schwere Habit sie behinderte.

»He, wartet einen Augenblick!« rief sie. »Halt!«

Die Ordensschwestern blieben stehen und drehten sich nach ihr um.

Lucia erreichte sie völlig außer Atem. »Ihr lauft in die falsche Richtung. In der Stadt suchen sie euch zuerst. Ihr müsst euch irgendwo verstecken.«

Das Trio starrte sie schweigend an.

»In den Bergen!« sagte Lucia ungeduldig. »Ihr müsst in die Berge. Los, kommt mit!«

Sie machte kehrt und ging auf dem Weg zurück, den sie gekommen war. Die anderen sahen ihr nach, zögerten kurz und folgten ihr dann in Reih und Glied.

Von Zeit zu Zeit sah Lucia sich nach ihnen um, weil sie sich vergewissern wollte, dass sie tatsächlich hinter ihr waren. Weshalb kannst du dich nicht um deinen eigenen Scheiß kümmern? dachte sie dabei. Du bist nicht für sie verantwortlich. Als Vierergruppe sind wir viel eher gefährdet. Trotzdem stieg sie weiter bergauf und achtete darauf, dass sie keine abhängte.

Den anderen fiel es schwer, mit ihr Schritt zu halten, und Lucia blieb zwischendurch immer wieder stehen, damit sie zu ihr aufschließen konnten. Morgen früh schaffst du sie dir vom Hals.

»Los, wir haben’s eilig!« rief Lucia.

Im Kloster Avila ging der Überfall zu Ende. Die verwirrten Nonnen in ihren verknitterten, blutbefleckten Habiten wurden zusammen getrieben und in neutrale Kastenwagen verladen.

»Bringt sie in die Madrider Zentrale«, befahl Oberst Acoca, »und sperrt sie in Einzelzellen.«

»Unter welcher Anklage?«

»Unterstützung von Terroristen.«

»Zu Befehl, Oberst«, sagte Arrieta. Er zögerte. »Vier der Nonnen sind verschwunden.«

Acocas Blick wurde eisig. »Findet sie!«

Oberst Acoca flog nach Madrid zurück, um dem Ministerpräsidenten Bericht zu erstatten. »Jaime Miro hat sich abgesetzt, bevor wir das Kloster erreicht haben.«

Ministerpräsident Martinez nickte. »Ja, das habe ich gehört.« Und er fragte sich, ob Miro überhaupt jemals im Kloster Avila gewesen war. Eines stand außer Zweifel: Oberst Acoca wurde gefährlich unbeherrschbar. Der brutale Überfall auf ein Nonnenkloster hatte zu erregten Protesten geführt. Der Ministerpräsident wählte seine Worte sorgfältig. »Die Zeitungen haben mir wegen der dortigen Ereignisse heftig zugesetzt.«

»Die Zeitungen stilisieren diesen Terroristen zum Helden hoch«, sagte Acoca kalt. »Wir dürfen uns von ihnen nicht unter Druck setzen lassen.«

»Er bringt meine Regierung in große Verlegenheit, Oberst. Und diese vier Nonnen - wenn die auspacken.«

»Seien Sie unbesorgt, die kommen nicht weit. Ich fange sie wieder ein, und ich spüre Miro auf.«

Der Ministerpräsident war bereits zu dem Schluss gekommen, dass sie keine weiteren Risiken mehr auf sich nehmen durften. »Oberst, ich möchte, dass Sie dafür sorgen, dass die sechsunddreißig Nonnen in der Haft gut behandelt werden. Und ich habe angeordnet, dass die Armee sich an der Fahndung nach Miro und den anderen beteiligt. Sie arbeiten dabei mit Oberst Sostelo zusammen.«

Nun folgte eine lange, gefährliche Pause. »Wer von uns beiden leitet das Unternehmen?« Acocas Augen blitzten eisig.

Ministerpräsident Martinez schluckte trocken. »Natürlich Sie, Oberst.«

Beim ersten Tageslicht waren Lucia und die drei Klosterschwestern, die Avila und das Kloster hinter sich zurückgelassen hatten, weiter nach Norden in die Berge unterwegs. Die Nonnen, die es gewöhnt waren, sich schweigend zu bewegen, kamen fast lautlos voran. Die einzigen Geräusche waren das Rascheln ihrer Habite, das Klicken von Rosenkränzen, ein gelegentliches Knacken, wenn ein Zweig brach, und ihr keuchendes Atemholen, während sie höher und höher stiegen.

Sie erreichten ein Plateau des Gredos-Massivs und folgten einer zwischen Steinwällen verlaufenden schmalen Straße mit tiefen Fahrspuren. Auf beiden Seiten der Straße lagen Weideflächen mit Ziegen und Schafen. Bei Sonnenaufgang hatten sie bereits einige Kilometer zurückgelegt und durchquerten ein Wäldchen außerhalb des Dorfes Villacastin.

Hier trennst du dich von ihnen, beschloss Lucia. Ab jetzt kann ihr Gott sich um sie kümmern. Um dich hat er sich auch großartig gekümmert, überlegte sie sich erbittert. Du bist weiter von der Schweiz entfernt als je zuvor. Du hast kein Geld und keinen Reisepass und siehst in diesem Aufzug wie eine Vogelscheuche aus. Diese Männer wissen inzwischen, dass wir geflüchtet sind. Sie lassen bestimmt nicht locker, bis sie uns aufgespürt haben. Je früher du dich von den anderen trennst, desto besser ist’s für dich.

Im nächsten Augenblick passierte jedoch etwas, das Lucia bewog, ihren Plan zu ändern.

Schwester Teresa stolperte auf dem Waldweg, verlor fast das Gleichgewicht und ließ den in das Leinentuch gehüllten Gegenstand fallen, den sie bisher so ängstlich gehütet hatte. Die Umhüllung öffnete sich, und Lucia sah in den Strahlen der Morgensonne ein großes, kostbar gearbeitetes goldenes Kruzifix blinken.

Das ist reines Gold, dachte Lucia, dort oben meint ’s irgendjemand gut mit dir. Dieses Kruzifix ist ein Geschenk des Himmels. Das ist deine Fahrkarte in die Schweiz.

Lucia beobachtete, wie Schwester Teresa das goldene Kruzifix sorgfältig wieder in das Leinen hüllte, und lächelte dabei vor sich hin. Das Kruzifix an dich zu bringen wird ein Kinderspiel, dachte Lucia. Diese Nonnen tun doch, was du ihnen sagst!

Ganz Avila war empört. Die Nachricht von dem Überfall auf das Kloster hatte rasch die Runde gemacht, und Pater Berrendo wurde dazu bestimmt, bei Oberst Acoca dagegen zu protestieren. Der Geistliche war über siebzig, und seine scheinbare Gebrechlichkeit täuschte über seine innere Stärke hinweg. Seinen Gemeindemitgliedern gegenüber war er ein warmherziger, verständnisvoller Hirte. Aber im Augenblick erfüllte ihn kalte Wut.

Oberst Acoca ließ den Geistlichen eine Stunde lang warten, bevor er sein Dienstzimmer betreten durfte.

»Sie und Ihre Männer sind grundlos in ein Kloster eingedrungen«, sagte Pater Berrendo ohne weitere Einleitung. »Das ist ein Akt des Wahnsinns gewesen!«

»Wir haben lediglich unsere Pflicht getan«, wehrte der Oberst knapp ab. »Die Abtei hat Jaime Miro und seiner Mörderbande Unterschlupf geboten, deshalb haben die Schwestern sich alles selbst zuzuschreiben. Sie bleiben in Haft, bis wir alle vernommen haben.«

»Haben Sie Miro im Kloster Avila angetroffen?« fragte der Geistliche aufgebracht.

»Nein«, gab Acoca ungerührt zu. »Er und seine Leute sind rechtzeitig geflüchtet. Aber wir spüren sie auf, damit die Gerechtigkeit ihren Lauf nehmen kann.«

Meine Gerechtigkeit, dachte Oberst Acoca wütend.

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