10

Miguel Carrillo war nervös. Tatsächlich war er sogar sehr nervös. Was morgens so gut damit begonnen hatte, dass er den vier Nonnen begegnet war und ihnen weisgemacht hatte, er sei ein Franziskanermönch, hatte damit geendet, dass er niedergeschlagen und an Händen und Füßen gefesselt auf dem Fußboden des Modegeschäfts zurückgelassen worden war.

Dort entdeckte ihn die Ladenbesitzerin. Sie war eine ältliche, nicht sonderlich freundliche, schwergewichtige Frau mit einem Anflug von Schnurrbart. »Madre de Di-os!« rief sie aus, als sie Carrillo gefesselt vor sich liegen sah. »Wer sind Sie? Was tun Sie hier?«

Carrillo setzte seinen gesamten Charme ein. »Dem Himmel sei Dank, dass Sie gekommen sind, Senorita!« Angesichts dieser Senora war das eine schamlose Übertreibung. »Ich habe versucht, mich aus diesen Fesseln zu befreien, um von Ihrem Telefon aus die Polizei anrufen zu können.«

»Sie haben meine Frage nicht beantwortet.«

Er versuchte, seinen Körper in eine etwas bequemere Lage zu bringen. »Die Erklärung dafür ist einfach, Seno-rita. Ich bin Frater Alfonso Gonzales und komme aus einem Kloster in der Nähe von Madrid. Als ich gerade an Ihrem schönen Laden vorbeigegangen bin, habe ich zwei junge Männer gesehen, die hier eingebrochen haben. Ich habe es für meine Pflicht als Gottesmann gehalten, sie daran zu hindern. Deshalb bin ich ihnen in den Laden gefolgt, um sie von ihrem Vorhaben abzubringen - aber sie haben mich überwältigt und dann gefesselt zurückgelassen. Wenn Sie mich jetzt losbinden würden, damit ich.«

»Mierda!«

Er starrte sie an. »Verzeihung?«

»Wer sind Sie?«

»Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich.«

»Ich glaube, dass Sie der schlechteste Lügner sind, den ich je gehört habe.«

Sie blieb vor den abgelegten Ordensgewändern der Nonnen stehen.

»Was haben diese Sachen zu bedeuten?«

»Äh. mit denen hatten die beiden jungen Männer sich verkleidet, wissen Sie, und.«

»Hier liegen aber vier Gewänder - und Sie haben von zwei Männern gesprochen.«

»Ganz recht. Die beiden anderen sind später dazugekommen und.«

Sie ging ans Telefon.

»Was haben Sie vor?«

»Ich rufe die Polizei.«

»Ich versichere Ihnen, dass das nicht nötig ist. Sobald Sie mich losgebunden haben, gehe ich aufs Revier und gebe meine Aussage zu Protokoll.«

Die Frau blickte auf ihn herab.

»Ihre Kutte steht offen, Frater.«

Die Polizeibeamten waren noch unfreundlicher als die Ladenbesitzerin. Miguel Carrillo wurde von vier Angehörigen der Guardia Civil vernommen. Ihre grünen Uniformen mit den aus dem 18. Jahrhundert stammenden Lacklederbaretten, die in ganz Spanien Angst und Schrecken verbreiteten, wirkten auch auf Carrillo einschüchternd.

»Sind Sie sich darüber im klaren, dass Ihre Personenbeschreibung genau auf einen Mann passt, nach dem wegen Mordes an einem Geistlichen gefahndet wird?«

Carrillo seufzte. »Das überrascht mich nicht. Ich habe einen Zwillingsbruder, der Himmel möge ihn strafen. Seinetwegen bin ich ins Kloster gegangen. Unsere arme Mutter.«

»Erzählen Sie uns keine Märchen!«

Ein Riese mit narbigem Gesicht betrat den Raum.

»Guten Tag, Oberst Acoca.«

»Ist das der Mann?«

»Ja, Oberst. Wir haben gedacht, dass Sie wegen der in dem Laden gefundenen Ordensgewänder daran interessiert sein würden, ihn selbst zu vernehmen.«

Oberst Ramon Acoca baute sich vor dem glücklosen Carrillo auf. »Ja, daran bin ich sehr interessiert.«

Miguel Carrillo lächelte so gewinnend wie möglich. »Ich bin froh, dass Sie gekommen sind, Oberst. Ich bin im Auftrag meines Priors unterwegs und muss dringend nach Barcelona weiter. Wie ich diesen freundlichen Herren zu erklären versucht habe, bin ich das Opfer widriger Umstände geworden, nur weil ich den barmherzigen Samariter spielen wollte.«

Acoca nickte freundlich. »Da Sie’s eilig haben, will ich versuchen, Sie nicht lange aufzuhalten.«

Carrillo lächelte erfreut. »Danke, Oberst.«

»Ich werde Ihnen ein paar einfache Fragen stellen. Beantworten Sie sie wahrheitsgemäß, ist alles in Ordnung. Belügen Sie mich, wird es sehr schmerzhaft für Sie.« Er streifte sich irgend etwas über die rechte Hand.

»Gottesmänner lügen nicht«, behauptete Carrillo selbstgefällig.

»Um so besser! Erzählen Sie mir von den vier Nonnen.«

»Ich weiß nichts von vier.«

Die Faust, die seinen Mund traf, trug einen Schlagring, der seine Lippe aufplatzen ließ.

Carrillo schrie laut auf.

Der Oberst wiederholte seine Aufforderung. »Erzählen Sie mir von den vier Nonnen.«

»Ich weiß nichts.«

Diesmal schlug die Faust ihm zwei Zähne aus.

Carrillo verschluckte sich an seinem eigenen Blut. »Aufhören!« ächzte er. »Ich.«

»Erzählen Sie mir von den vier Nonnen«, verlangte Acoca erneut. Seine Stimme klang ruhig und vernünftig.

»Ich.« Er sah, dass die Faust zum nächsten Schlag ausholte. »Ja! Ich. ich.«

Die Worte sprudelten nur so heraus. »Auf der Flucht aus ihrem Kloster sind sie in Villacastin gewesen. Bitte nicht mehr schlagen!«

»Weiter«, verlangte der Oberst.

»Ich. ich habe ihnen meine Hilfe angeboten. Sie wollten andere Kleidung, um nicht aufzufallen.«

»Deshalb haben Sie in dem Modegeschäft eingebrochen.«

»Nein. Ich. ja. Ich. sie haben Kleidungsstücke gestohlen und mich niedergeschlagen und dort zurückgelassen.«

»Haben sie davon gesprochen, wohin sie wollten?«

In Carrillo erwachte plötzlich ein seltsames Ehrgefühl. »Nein.« Dass er Mendavia unerwähnt ließ, hatte nichts mit den Nonnen zu tun. Die vier Frauen waren ihm gleichgültig. Aber er hasste den Oberst, der ihm das Gesicht ruiniert hatte. So würde es ihm sehr schwer fallen, sich nach seiner Entlassung aus der Haft seinen Lebensunterhalt zu verdienen.

Oberst Acoca wandte sich an die Angehörigen der Guardia Civil. »Seht ihr, was sich mit ein bisschen gutem Zureden erreichen lässt? Bringt ihn wegen Mordverdachts nach Madrid in Untersuchungshaft.«

Auf ihrem Marsch nach Nordosten in Richtung Olmeda mieden Lucia, Schwester Teresa, Rubio Arzano und To-mas Sanjuro die großen Straßen und blieben auf Feldwegen durch Kornfelder. Sie kamen an Schaf- und Ziegenherden vorbei, und die heitere Unschuld der idyllischen Landschaft stand in ironischem Kontrast zu der ernsten Gefahr, in der sie alle schwebten. Sie marschierten die ganze Nacht lang und suchten sich bei Tagesanbruch ein Versteck in den Hügeln. »Nach Olmeda ist’s nicht mehr weit«, stellte Rubio Arzano fest. »Wir bleiben hier, bis es wieder dunkel wird. Ihr beiden scheint etwas Schlaf nötig zu haben.«

Schwester Teresa war körperlich erschöpft. Emotional ging jedoch etwas weit Besorgniserregenderes in ihr vor: sie hatte das Gefühl, den Bezug zur Realität zu verlieren. Angefangen hatte alles mit dem Verlust ihres kostbaren Rosenkranzes. Hatte sie ihn verloren - oder war er ihr gestohlen worden? Sie war sich ihrer Sache nicht ganz sicher. Er war ihr seit vielen, vielen Jahren ihr größter Trost gewesen. Wie viele tausendmal hatte sie in dieser Zeit ihren Rosenkranz gebetet? Er war zu einem Stück ihrer selbst, zu einem Teil ihrer inneren Sicherheit geworden, und nun besaß sie ihn nicht mehr.

Hatte sie ihn während des Überfalls im Kloster verloren? Und hatte dieser Überfall tatsächlich stattgefunden? Alles erschien ihr jetzt so irreal. Sie wusste nicht mehr bestimmt, was Realität und was Einbildung war. Zum Beispiel das Baby, das sie gesehen hatte. War es Moni-ques Baby gewesen? Oder hatte Gott ihr damit einen Streich spielen wollen? Alles erschien ihr so verwirrend. In ihrer Jugend war alles so einfach gewesen. In ihrer Jugend.

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