New York City 1976
Die vor der grauen Fassade des New Yorker Hotels Waldorf-Astoria versammelten Reporter beobachteten die Ankunft der Prominenz, die in Abendkleidung aus ihren Limousinen stieg, durch die Drehtüren ging und zum Grand Ballroom im zweiten Stock hinauffuhr. An diesem Abend kamen die Gäste aus aller Welt.
Elektronenblitze flammten auf, während Fotografen riefen: »Mister Vice President, sehen Sie bitte hierher?«
»Gouverneur Adams, bitte noch eine Aufnahme!«
Zu den Gästen gehörten prominente Politiker, Industriebosse, Bankpräsidenten, Kirchenvertreter und Künstler aus dem In- und Ausland. Sie alle waren gekommen, Ellen Scotts sechzigsten Geburtstag mitzufeiern. Tatsächlich würdigten sie damit jedoch weniger Ellen Scott als die Philanthropie der Firma Scott Industries, eines der größten Mischkonzerne der Welt. Zu diesem weltumspannenden Imperium gehörten Banken, Ölgesellschaften, Stahlwerke, Autofabriken, Zeitungen, Reedereien, Versicherungen, Fluggesellschaften und Dutzende von weiteren Unternehmen.
Scott Industries war an Industrie- und Dienstleistungsfirmen in aller Welt beteiligt. Als Milo Scott, ihr damaliger Präsident, vor fünfundzwanzig Jahren überraschend einem Herzinfarkt erlegen war, hatte seine Frau Ellen die Leitung des riesigen Mischkonzerns übernommen. In diesem Vierteljahrhundert hatte sie sich als brillante Führungskraft erwiesen und die Aktiva des Unternehmens mehr als verdreifacht.
Der Grand Ballroom im Waldorf-Astoria ist ein in Beige und Gold gehaltener riesiger Saal mit rotbespannter Bühne und einem dreiseitigen Balkon, unterteilt in dreiunddreißig Logen mit je einem Kronleuchter. In der Mittelloge saß der Ehrengast des Abends. Mindestens sechshundert Damen und Herren waren gekommen und dinierten an damastgedeckten Tischen mit Silber und Porzellan.
Nach dem Dinner trat der Gouverneur des Staates New York auf der Bühne ans Mikrofon.
»Mister Vice President, meine Damen und Herrn, verehrte Festgäste, wir alle sind heute Abend zu einem einzigen Zweck zusammengekommen: zu Ehren einer bemerkenswerten Frau und ihrer selbstlosen Großzügigkeit über Jahrzehnte hinweg. Ellen Scott gehört zu den Menschen, die auf jedem Gebiet erfolgreich gewesen wären. Sie hätte eine großartige Ärztin oder Wissenschaftlerin abgegeben. Sie wäre auch eine großartige Politikerin geworden - und ich kann Ihnen verraten, dass ich Ellen Scott als erster wählen würde, wenn sie sich dazu entschlösse, für das Amt des Präsidenten der Vereinigten Staaten zu kandidieren. Natürlich nicht schon bei der nächsten Wahl, aber bei der übernächsten.«
Sein Scherz wurde mit Lachen und Beifall quittiert.
»Aber Ellen Scott ist mehr als nur eine hochintelligente Frau. Sie ist ein mitleidiger, wohltätiger Mensch, der niemals zögert, sich für die Lösung der Probleme zu engagieren, vor denen unsere Welt heute steht.«
Der Gouverneur sprach noch zehn Minuten weiter, aber Ellen Scott hörte nicht mehr zu. Wie gewaltig er sich irrt, dachte sie nüchtern, wie gewaltig sie sich alle irren! Scott Industries ist nicht einmal meine Firma. Milo und ich haben sie gestohlen. Und ich habe ein weit größeres Verbrechen begangen - aber das spielt jetzt keine Rolle mehr, weil ich bald tot sein werde.
Sie erinnerte sich an jedes Wort ihres Arztes, als er ihr den Laborbefund mitgeteilt hatte, der ihr Todesurteil bedeutete: »Tut mir schrecklich leid, Mrs. Scott, aber ich fürchte, dass es keine Möglichkeit gibt, Sie schonend darauf vorzubereiten. Der Krebs hat Ihr gesamtes Lymphsystem erfasst. Er ist inoperabel.«
Sie hatte das Gefühl gehabt, plötzlich einen Eisklumpen im Magen zu haben.
»Wie lange. wie viel Zeit bleibt mir noch?«
Er zögerte. »Ein Jahr - vielleicht.«
Nicht genug Zeit. Nicht genug für alles, was ich noch zu tun habe. »Das behalten Sie für sich.« Ihre Stimme blieb fest.
»Selbstverständlich, Mrs. Scott.«
»Ich danke Ihnen, Doktor.«
Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern, das Presby-terian Medical Center verlassen zu haben und in die Stadt gefahren worden zu sein. Ein einziger Gedanke beherrschte sie: Ich muss sie finden, bevor ich sterbe.
Der Gouverneur kam zum Schluss seiner Rede.
»Meine Damen und Herren, es ist mir eine Ehre und ein Vergnügen, jetzt Mrs. Scott ans Rednerpult zu bitten.«
Die Gäste standen auf, um zu applaudieren, als Ellen Scott nach vorn zur Bühne ging: eine schlanke, grauhaarige, elegante Dame, die eine Vitalität ausstrahlte, die sie in Wirklichkeit nicht mehr besaß.
Mein Anblick gleicht dem für uns noch sichtbaren Licht eines längst erloschenen Sterns, dachte sie verbittert. Ich existiere eigentlich gar nicht mehr.
Auf der Bühne wartete sie, bis der Beifall abgeklungen war. Sie applaudieren einem Ungeheuer. Wie sie wohl reagieren würden, wenn sie ’s wüssten? Als sie zu sprechen begann, klang ihre Stimme fest.
»Mister Vice President, meine Damen und Herren, verehrte Gäste.«
Ein Jahr, dachte Ellen Scott. Wo sie wohl ist... und ob sie überhaupt noch lebt? Das muss ich feststellen lassen.
Sie sprach weiter und sagte automatisch, was ihre Zuhörer von ihr erwarteten. »Ich akzeptiere diese Anerkennung gern - jedoch nicht für mich, sondern für all jene, die so schwer gearbeitet haben, um die Not derer zu lindern, die weniger glücklich als wir sind.«
In Gedanken war sie vor zweiundvierzig Jahren in Gary, Indiana.
Als Achtzehnjährige arbeitete Ellen Dudash in einer Fabrik für Autoteile der Firma Scott Industries in Gary, Indiana. Sie war eine attraktive, aufgeschlossene, bei ihren Kolleginnen beliebte junge Frau. Eines Tages sollte Milo Scott das Werk besichtigen, und Ellen wurde als seine Begleiterin eingeteilt.
»He! Was hältst du’n davon, Ellie? Vielleicht heirat’st du dem Boss sein’ Bruder, und wir arbeiten dann alle für dich.«
Ellen Dudash lachte. »Genau! Und das am gleichen Tag, an dem Schweine Flügel kriegen.«
Milo Scott war ganz anders, als Ellen ihn sich vorgestellt hatte. Er war Anfang Dreißig, groß und schlank. Sieht nicht schlecht aus, dachte Ellen. Er war schüchtern und fast ehrerbietig.
»Wirklich sehr freundlich von Ihnen, sich die Zeit zu nehmen, mir alles zu zeigen, Miss Dudash. Ich hoffe, dass ich Sie nicht von der Arbeit abhalte.«
Sie lachte. »Und ich hoffe, dass Sie’s tun!«
Es war ganz leicht, sich mit ihm zu unterhalten.
Ich kann ’s selbst kaum glauben, dass ich hier mit dem Bruder vom Big Boss scherze, Mom und Pop werden Bauklötze staunen.
Milo Scott schien sich ernsthaft für die Arbeiter und ihre Probleme zu interessieren. Ellen führte ihn durch die Abteilung, in der Getriebezahnräder und Antriebswellen gegossen wurden. Sie zeigte ihm die Härterei, in der die noch weichen Teile gehärtet wurden, die Packerei und den Versand, und er wirkte entsprechend beeindruckt.
»Ein ziemlich großer Laden, nicht wahr, Miss Dudash?«
Er ist Mitbesitzer von allem, was ersieht, und benimmt sich wie ein ahnungsloser Junge. Na ja, es muss eben solche und solche geben.
In einer Montagehalle passierte dann der Unfall. Das Tragseil eines Laufkrans, der Rohlinge zur Bearbeitung in die Dreherei bringen sollte, riss mit einem Knall wie ein Pistolenschuss, und die Ladung kam herunter. Sie hätte Milo Scott genau getroffen. Ellen sah sie Sekundenbruchteile früher und stieß Milo Scott instinktiv beiseite. Zwei der schweren Rohlinge streiften sie dabei, und sie blieb bewusstlos liegen.
Sie wachte in einer Suite in einer Privatklinik auf. Ihr Zimmer war buchstäblich ein Blumenmeer. Als Ellen die Augen aufschlug und sich umsah, dachte sie: Ich bin gestorben und im Himmel.
In den Vasen standen Orchideen und Rosen und Lilien und Chrysanthemen und seltene Blumen, die sie noch nie gesehen hatte.
Ihr rechter Arm lag in Gips, und ihre schmerzenden Rippen verschwanden unter einem Pflasterverband.
Eine Krankenschwester kam herein. »Ah, Sie sind wieder wach, Miss Dudash. Ich informiere gleich den Stationsarzt.«
»Wo. wo bin ich?«
»Im Blake Center - einer Privatklinik.«
Ellen sah sich in der großen Suite um. Das alles kann ich niemals bezahlen.
»Wir haben Sie vor Anrufern abgeschirmt«, berichtete die Krankenschwester.
»Vor welchen Anrufern?«
»Die Zeitungen haben sich um Interviews mit Ihnen bemüht. Ihre Freunde haben angerufen. Mister Scott hat mehrmals telefoniert.«
Milo Scott! »Geht’s ihm gut?«
»Wie bitte?«
»Ist er bei dem Unfall verletzt worden?«
»Nein. Er ist heute morgen wieder hier gewesen, aber Sie haben geschlafen.«
»Er ist hergekommen, um mich zu besuchen?«
»Ja.« Die Krankenschwester sah sich um. »Die meisten dieser Blumen sind von ihm.«
Unglaublich.
»Ihre Eltern sitzen im Wartezimmer, Miss Dudash. Fühlen Sie sich wohl genug, um Besuch zu empfangen?«
»Natürlich.«
»Danke. Ich schicke sie dann herein.«
Junge, Junge, so bin ich noch in keinem Krankenhaus behandelt worden! dachte Ellen.
Ihre Eltern kamen herein und traten an ihr Bett. Sie waren beide aus Polen eingewandert und sprachen noch immer ein schlechtes Englisch. Ihr Vater war Automechaniker, ein stämmiger, grob-knochiger Fünfziger. Ellens Mutter war das einfache Bauernmädchen geblieben, als das sie auf die Welt gekommen war.
»Ich hab’ dir was Suppe mitgäbracht, Ellen.«
»Mom, im Krankenhaus kriegt man was zu essen.«
»Nicht meine Suppe, die kriegst du in keine Hospital. Du isst meine Suppe, damit du wirst schnäller gesund.«
»Hast du Zeitung geläsen?« fragte ihr Vater. »Hab’ ich dir mitgäbracht.«
Er gab ihr die Zeitung. Die Schlagzeile lautete: Fabrikarbeiterin riskiert Leben, um Boss zu retten!
Sie las die Story zweimal.
»War serrr tapfer, was du gemacht hast.«
Tapfer? Dämlich bin ich gewesen. Hätte ich ein bisschen Zeit zum Nachdenken gehabt, hätte ich mich selbst in Sicherheit gebracht. So was Dämliches hab ’ ich noch nie getan! Ich hätte dabei umkommen können!
Milo Scott besuchte Ellen etwas später an diesem Vormittag. Er brachte einen weiteren prächtigen Blumenstrauß mit.
»Die sind für Sie«, sagte er verlegen. »Der Arzt hat mir gesagt, dass Sie sich bald erholen werden. Ich. ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie dankbar ich Ihnen bin.«
»Oh, das war nicht der Rede wert.«
»Es war die mutigste Tat, die ich je erlebt habe. Sie haben mir das Leben gerettet.«
Ellen versuchte, sich zu bewegen, aber dabei begann ihr Arm stark zu schmerzen.
»Alles in Ordnung?«
»Klar.« Unter dem Pflasterverband hatte sie jetzt stechende Schmerzen. »Was hat der Doc bei mir festgestellt?«
»Sie haben sich den Arm und drei Rippen gebrochen.«
Etwas Schlimmeres hätte er ihr kaum mitteilen können! Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
»Was haben Sie plötzlich?«
Wie sollte sie ihm das sagen? Er würde sie nur auslachen. Sie hatte auf eine lange geplante Urlaubsreise nach New York mit einigen Mädels aus der Fabrik gespart. Diese Reise war ihr großer Traum gewesen. Jetzt kriege ich wenigstens vier, fünf Wochen lang keinen Lohn, weil ich nicht arbeiten kann. Lebwohl, Manhattan!
Ellen hatte seit ihrem fünfzehnten Lebensjahr gearbeitet. Sie war stets wild entschlossen unabhängig und selbständig gewesen, aber jetzt dachte sie: Vielleicht übernimmt er einen Teil der Krankenhauskosten, wenn er so dankbar ist. Aber der Teufel soll mich holen, wenn ich ihn darum bitte! Sie fühlte sich schläfrig. Das muss an der Medizin liegen, die ich vorhin gekriegt habe.
»Danke für die vielen Blumen, Mister Scott. Und es war nett, Sie kennen gelernt zu haben.« Wegen der Krankenhausrechnung kann ich mir später Sorgen machen.
Ellen Dudash schlief.
Am nächsten Morgen betrat ein großer, distinguiert aussehender Mann Ellens Suite.
»Guten Morgen, Miss Dudash. Wie fühlen Sie sich heute?«
»Danke, besser.«
»Ich bin Sam Norton, der Pressechef der Firma Scott Industries.«
»Oh.« Sie hatte ihn noch nie gesehen. »Leben Sie hier?«
»Nein. Ich bin mit dem Flugzeug aus Washington gekommen.«
»Um mich zu besuchen?«
»Um Ihnen behilflich zu sein.«
»Wobei behilflich zu sein?« »Draußen wartet die Presse, Miss Dudash. Da Sie vermutlich noch nie eine Pressekonferenz gegeben haben, glaube ich, dass Sie etwas Unterstützung brauchen könnten.«
»Was wollen die Reporter?«
»Sie werden Sie vor allem bitten, ihnen zu schildern, wie und weshalb Sie Mister Scott gerettet haben.«
»Oh, das ist ganz einfach. Hätte ich erst darüber nachdenken können, wäre ich blitzartig abgehauen.«
Norton starrte sie an. »Miss Dudash.. das würde ich an Ihrer Stelle nicht sagen, glaube ich.«
»Warum nicht? Es ist die Wahrheit.«
Damit hatte Norton nicht gerechnet. Das Mädchen schien die Situation überhaupt nicht zu begreifen.
Etwas anderes machte Ellen Sorgen, und sie beschloss, offen darüber zu sprechen. »Kommen Sie demnächst mit Mister Scott zusammen?«
»Ja.«
»Würden Sie mir einen Gefallen tun?«
»Gewiss, wenn ich kann.«
»Ich weiß, dass der Unfall nicht seine Schuld gewesen ist, und er hat mich nicht gebeten, ihn wegzuschubsen, aber.« Ihre unabhängige Veranlagung ließ sie zögern. »Okay, schon gut.«
Jetzt kommt’s! dachte Norton. Was will sie als Belohnung rausholen? Bargeld? Einen besseren Job? Was sonst? »Bitte weiter, Miss Dudash.«
Die Worte sprudelten aus ihr hervor. »Die Wahrheit ist einfach, dass ich nicht viel Geld habe und wegen dieser Sache ein paar Wochen lang keinen Lohn kriegen werde und mir diese Krankenhausrechnung bestimmt nicht leisten kann. Ich möchte Mister Scott nicht belästigen, aber wenn er dafür sorgen könnte, dass ich einen Kredit bekomme, würde ich alles abstottern.« Sie deutete Nortons Gesichtsausdruck gründlich falsch. »Tut mir leid, wenn das geldgierig geklungen hat. Aber ich habe gerade auf eine Urlaubsreise gespart, und. na ja, jetzt ist eben alles im Eimer.« Sie holte tief Luft. »Aber das ist nicht sein Problem. Ich komme schon irgendwie zurecht.«
Norton hätte sie am liebsten geküsst. Wie lange ist’s her, dass ich zum letzten Mal wahre Unschuld erlebt habe? Das kann einem den Glauben an die Frauen wiedergeben!
Er legte seine professionelle Art ab, setzte sich auf Ellens Bettkante und griff nach ihrer Hand. »Ellen, ich habe das Gefühl, wir könnten gute Freunde werden. Ich versichere Ihnen, dass Sie sich keine Geldsorgen zu machen brauchen. Als erstes müssen wir dafür sorgen, dass Sie die Pressekonferenz gut überstehen. Ich möchte, dass Sie dabei gut rauskommen, damit.« Er machte eine Pause. »Ich will ganz ehrlich sein. Mein Job ist es, dafür zu sorgen, dass die Firma Scott Industries dabei gut rauskommt. Verstehen Sie das?«
»Ich glaube schon. Sie meinen, dass es nicht so gut wirken würde, wenn die Reporter von mir hören, dass es mir in Wirklichkeit gar nicht um Milo Scott gegangen ist. Dass ich lieber sagen sollte: Ich arbeite so gern bei Scott Industries, dass ich gewusst habe, dass ich versuchen musste, Milo Scott unter Einsatz meines eigenen Lebens zu retten. Stimmt’s, Mister Norton?«
»Ja.«
Ellen lachte. »Okay, wenn Ihnen damit geholfen ist. Aber ich will Ihnen nichts vormachen, Mister Norton. Ich weiß selbst nicht, weshalb ich’s getan habe.«
Er lächelte. »Das bleibt unser Geheimnis. Dann lasse ich jetzt die Leute herein.«
Rundfunksender, Zeitungen und Zeitschriften hatten über zwei Dutzend Reporter und Fotografen entsandt. Die Story war außergewöhnlich, und die Medien waren entschlossen, sie gründlich auszuschlachten. Schließlich kam es nicht jeden Tag vor, dass eine hübsche Arbeiterin ihr Leben riskierte, um ihren Boss zu retten. Und die Tatsache, dass ihr Chef Milo Scott war, erhöhte den Nachrichtenwert dieser Story noch.
»Miss Dudash, woran haben Sie als erstes gedacht, als Sie gesehen haben, dass diese Ladung Eisenteile auf Sie herabstürzen würde?«
Ellen sah kurz zu Sam Norton hinüber, bevor sie ernsthaft antwortete: »Ich habe mir gedacht: „Du musst Mister Scott retten! Du würdest dir nie verzeihen, wenn er umkäme.«
Die Pressekonferenz verlief reibungslos, und als Norton sah, dass Ellen müde zu werden begann, verabschiedete er die Reporter. »Meine Damen und Herren, das war’s für heute. Vielen Dank.«
»Hab’ ich alles richtig gemacht?«
»Sie sind großartig gewesen, Ellen. Ruhen Sie sich jetzt ein bisschen aus.«
Sie schlief unruhig. Sie träumte, sie stehe in der Eingangshalle des Empire State Buildings und dürfe den Aufzug nicht betreten, weil sie nicht genug Geld für ein Ticket bei sich habe.
Milo Scott besuchte Ellen an diesem Nachmittag. Sie war überrascht, ihn zu sehen. Soviel sie wusste, lebte er in New York.
»Die Pressekonferenz ist sehr gut verlaufen, habe ich gehört. Sie sind eine richtige Heldin.«
»Mister Scott, ich. ich muss Ihnen etwas sagen. Ich bin keine Heldin. Ich habe nicht daran gedacht, Sie zu retten. Ich. ich hab’s einfach getan.«
»Ja, ich weiß. Sam hat’s mir erzählt.«
»Na ja, dann.«
»Ellen, es gibt alle möglichen Arten von Heldentum. Sie haben nicht überlegt, ob Sie mich retten sollten; Sie haben’s instinktiv getan, anstatt sich selbst in Sicherheit zu bringen.«
»Das wollte ich Ihnen nur sagen.«
»Sam hat mir auch erzählt, dass Sie sich Sorgen wegen der Krankenhausrechnung machen.«
»Nun, ich.«
»Die wird natürlich bezahlt. Und was Ihren Lohnausfall betrifft.« Er lächelte. »Miss Dudash, Sie wissen vermutlich gar nicht, wie viel ich Ihnen schuldig bin.«
»Sie sind mir überhaupt nichts schuldig.«
»Der Arzt sagt, dass Sie morgen bereits entlassen werden können. Darf ich Sie dann zum Abendessen einladen?«
Er begreift nichts, dachte Ellen. Ich will weder sein Mitleid noch seine Mildtätigkeit. »Sie schulden mir wirklich nichts, Mister Scott. Dass Sie die Krankenhauskosten übernehmen, ist nett. Damit sind wir quitt.«
»Gut. Darf ich Sie trotzdem zum Essen einladen?«
Damit fing alles an. Milo Scott blieb eine Woche lang in Gary und ging jeden Abend mit Ellen aus.
»Sei vorsichtig«, warnten ihre Eltern sie. »Große Bosse gehen nur mit Arbeiterinnen aus, wenn sie was von ihnen wollen.«
Auch Ellen Dudash war ursprünglich dieser Meinung gewesen, aber Milo Scott brachte sie davon ab. Er erwies sich als perfekter Gentleman, bis Ellen schließlich erkannte: Er ist gern mit mir zusammen.
Wo Milo schüchtern und zurückhaltend war, war Ellen aufgeschlossen und offen. Milo hatte sein Leben lang nur Frauen kennen gelernt, die von brennendem Ehrgeiz erfüllt waren, in die mächtige Dynastie der Scotts einzuheiraten. Ellen Dudash war die erste rückhaltlos ehrliche Frau, die er jemals kennen gelernt hatte. Sie sagte immer genau das, was sie dachte. Sie war intelligent, attraktiv und vor allem eine amüsante Gesprächspartnerin. Gegen Ende dieser Woche waren sie beide dabei, sich ineinander zu verlieben.
»Ich möchte, dass du mich heiratest«, sagte Milo Scott. »Ich kann an nichts anderes mehr denken. Heiratest du mich?«
»Nein.«
In Wirklichkeit konnte auch Ellen an nichts anderes mehr denken. Aber dieser Gedanke erschreckte sie. Die Familie Scott gehörte zum feinsten Geldadel Amerikas; sie war berühmt, reich und mächtig. Ich gehöre nicht in diese Kreise. Ich würde mich nur lächerlich machen. Und Milo dazu. Aber sie wusste, dass sie einen vergeblichen Kampf kämpfte.
Sie wurden in Greenwich von einem Friedensrichter getraut und kehrten nach Manhattan zurück, damit Ellen Dudash ihre angeheiratete Verwandtschaft kennen lernen konnte.
»Wie bist du auf die Scheißidee gekommen, diese polnische Nutte zu heiraten?« fragte Byron Scott seinen Bruder zur Begrüßung. »Bist du völlig übergeschnappt?«
Susan Scott war ebenso abweisend. »Sie hat Milo natürlich wegen seines Geldes geheiratet. Wenn sie merkt, dass er keines hat, lassen wir die Eheschließung annullieren. Diese Ehe hält bestimmt nicht lange.«
Beide unterschätzten Ellen Dudash gewaltig.
»Dein Bruder und deine Schwägerin hassen mich, aber ich habe nicht sie geheiratet. Ich habe dich geheiratet. Ich will nicht zwischen dir und Byron stehen. Wenn du wegen dieser Sache unglücklich bist, brauchst du’s nur zu sagen - dann gehe ich nach Gary zurück.«
Er schloss seine junge Frau in die Arme und flüsterte ihr ins Ohr: »Ich liebe dich, und wenn Byron und Susan dich richtig kennen lernen, werden sie’s auch tun.«
Wie naiv er ist! dachte Ellen, während sie ihn an sich drückte. Und wie ich ihn liebe!
Byron und Susan behandelten ihre neue Schwägerin nicht unfreundlich. Sie waren gönnerhaft. Für sie würde sie stets die kleine Polin bleiben, die in einer ihrer Fabriken gearbeitet hatte.
Ellen lernte, las, beobachtete, wie die Frauen von Milos Freunden sich anzogen und benahmen, und imitierte sie. Sie war entschlossen, eine Milo Scott würdige Ehefrau zu werden - und das gelang ihr schließlich auch. Aber nicht in den Augen ihrer neuen Verwandtschaft. Ihre Naivität verwandelte sich allmählich in Zynismus. So wundervoll sind die Reichen und Mächtigen auch wieder nicht, dachte sie. Sie wollen nur noch reicher und mächtiger werden.
Ellens Beschützerinstinkt für Milo war stark, aber sie konnte nur wenig tun, um ihm zu helfen. Die Firma Scott Industries gehörte zu den wenigen in Privatbesitz befindlichen Mischkonzernen der Welt, und Byron besaß sämtliche Anteile allein. Sein jüngerer Bruder war lediglich ein Angestellter der Firma, und Byron sorgte dafür, dass er das nie vergaß. Milo erhielt schwierige Aufgaben zugewiesen, bekam aber nie ein anerkennendes Wort zu hören.
»Weshalb lässt du dir das gefallen, Milo? Du bist nicht auf ihn angewiesen. Du könntest eine eigene Firma gründen.«
»Ich kann Scott Industries nicht verlassen. Byron braucht mich.«
Nach einiger Zeit erkannte Ellen jedoch den wahren Grund: Milo war schwach. Er brauchte einen Starken, auf den er sich stützen konnte. Damit stand für sie fest, dass er niemals den Mut aufbringen würde, die Firma zu verlassen.
Cut, dann eben nicht, dachte sie erbittert. Eines Tages gehört die Firma trotzdem ihm. Byron kann nicht ewig leben. Und Milo ist sein einziger Erbe.
Als Susan Scott überraschend mitteilte, sie erwarte ein Kind, war Ellen wie vor den Kopf geschlagen. Der Balg erbt einmal alles! überlegte sie sich.
Byron Scott ließ sich nicht entmutigen, als seine Frau ein Mädchen zur Welt brachte. »Ich bringe ihr bei, wie man die Firma leitet«, versicherte er seinem Bruder.
Dieser Schweinehund, dachte Ellen Scott. Ihr Herz brannte vor Mitleid mit Milo.
»Ist sie nicht ein wunderhübsches Baby?« sagte Milo nur.