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Las Navas delMarquas 1947

Sie war fünf Jahre alt. Ihre frühesten Erinnerungen betrafen eine Prozession nackter Fremder, die in das und aus dem Bett ihrer Mutter stiegen. »Das sind deine Onkel«, erklärte ihre Mutter ihr, »du musst sie respektvoll behandeln.«

Die Männer waren grob, gewöhnlich und lieblos. Sie blieben eine Nacht, eine Woche, einen Monat und verschwanden dann. Waren sie gegangen, hielt Dolores Pi-nero sofort wieder nach einem neuen Mann Ausschau.

In ihrer Jugend war Dolores eine Schönheit gewesen, und Graciela hatte das Aussehen ihrer Mutter geerbt. Schon als Kind war sie mit hohen Backenknochen, dunklem Teint, glänzendem schwarzem Haar und dichten seidigen Wimpern auffallend hübsch gewesen. Als Mädchen war ihr junger Körper verlockend schlank und biegsam. Im Gegensatz dazu war Dolores Pinero im Laufe der Jahre dick geworden, und auf ihrem noch immer feingeschnittenen Gesicht hatte die Zeit deutliche Spuren zurückgelassen.

Obwohl Dolores’ Schönheit verwelkt war, suchte sie weiter Männerbekanntschaften und stand in dem Ruf, eine leidenschaftliche Bettpartnerin zu sein. Sie setzte ihr Naturtalent als Liebhaberin ein, um Männer an sich zu fesseln, und hoffte, sie dauerhaft an sich binden zu können, indem sie ihre Liebe mit ihrem Körper erkaufte. Als Näherin verdiente sie kaum den Lebensunterhalt, weil sie schlampig arbeitete und nur Aufträge von Frauen erhielt, die sich keine der besseren Näherinnen leisten konnten.

Gracielas Mutter hasste ihre Tochter, denn das Mädchen erinnerte sie ständig an den einzigen Mann, den Dolores Pinero jemals geliebt hatte. Gracielas Vater war ein gutaussehender junger Automechaniker gewesen, der sich um die junge, schöne Dolores bemüht hatte, die sich bereitwillig von ihm hatte verführen lassen. Als sie ihm jedoch mitgeteilt hatte, dass sie von ihm schwanger sei, war er verschwunden und hatte sie mit seinem Balg sitzen lassen.

Dolores Pinero war cholerisch veranlagt und ließ ihren Zorn an dem Kind aus. Jedes Mal wenn sie sich über Graciela ärgerte, schlug sie die Kleine und kreischte dabei: »Du bist so dumm wie dein Vater!«

Für das Mädchen gab es keine Möglichkeit, der ständigen Prügelei und dem Kreischen ihrer Mutter auszuweichen. So betete Graciela jeden Morgen nach dem Aufwachen: »Bitte, lieber Gott, lass Mama mich heute nicht schlagen.«

»Bitte, lieber Gott, lass Mama heute glücklich sein.«

»Bitte, lieber Gott, lass Mama heute sagen, dass sie mich lieb hat.«

Wenn Dolores nicht gerade über ihre Tochter herfiel, ignorierte sie das Mädchen. Graciela kochte sich ihr Essen selbst und flickte ihre Kleidung selbst. Sie bereitete ihr Mittagessen so zu, dass sie es in die Schule mitnehmen konnte, und erzählte der Lehrerin: »Meine Mutter hat mir heute Empanadas gemacht. Sie weiß, wie gern ich Empanadas esse.«

Oder: »Ich habe mir ein Loch ins Kleid gerissen, aber meine Mutter hat’s mir genäht. Sie arbeitet gern für mich.«

Oder: »Meine Mutter und ich gehen morgen ins Kino.«

Das brach ihrer Lehrerin fast das Herz. Las Navas del Marquas war ein eine Stunde von Avila entferntes Dorf, und wie in allen Dörfern auf der ganzen Welt wusste dort jeder alles über jeden. Dolores Pineros Lebenswandel war eine Schande und wirkte sich auch auf Graciela aus. Mütter verboten ihren Töchtern, mit der Kleinen zu spielen, weil sie fürchteten, sie könnten dadurch verdorben werden. Graciela besuchte die Schule an der Plazoleta del Cristo, aber sie besaß weder Freundinnen noch Spielgefährtinnen. Obwohl sie eine der intelligentesten Schülerinnen war, hatte sie schlechte Noten; sie konnte sich nur schwer konzentrieren, weil sie ständig übermüdet war.

»Du musst früher zu Bett gehen, Graciela«, ermahnte ihre Lehrerin sie, »damit du im Unterricht ausgeruht bist.«

Aber Gracielas Müdigkeit hatte nichts damit zu tun, dass sie zu spät ins Bett gekommen wäre. Sie lebte mit ihrer Mutter in einem winzigen Häuschen mit lediglich zwei Zimmern. Das Mädchen schlief auf einer Couch im Wohnzimmer, das nur durch einen dünnen, verschlissenen Vorhang vom Schlafzimmer abgetrennt war. Wie hätte Graciela ihrer Lehrerin von den obszönen Geräuschen erzählen können, die sie aufweckten und wach hielten, während sie zuhörte, wie sich ihre Mutter mit irgendeinem Unbekannten abgab, der sich zufällig in ihr Bett hatte locken lassen?

Brachte Graciela ihr Zeugnis nach Hause, kreischte ihre Mutter los: »Das sind genau die Scheißnoten, die ich von dir erwartet habe - und weißt du, warum du so schlechte Noten hast? Weil du dumm bist! Saudumm sogar!«

Und Graciela glaubte ihr und bemühte sich sehr, nicht zu weinen.

Nach der Schule streifte Graciela nachmittags allein durchs Dorf - durch schmale, von Pinien und Akazien gesäumte, verwinkelte Straßen, an weiß gekalkten Steinhäusern vorbei, in denen liebevolle Väter mit ihren Familien wohnten. Sie hatte viele Spielgefährten, die jedoch alle nur in ihrer Phantasie existierten: hübsche Mädchen und nette Jungen, von denen sie zu allen ihren Festen eingeladen wurde, wo es herrlichen Kuchen und Eiscreme gab. Ihre imaginären Freunde waren lieb und freundlich und hielten sie alle für sehr klug. In Abwesenheit ihrer Mutter führte Graciela lange Gespräche mit ihnen.

Hilfst du mir bei den Mathehausaufgaben, Graciela? Ich hab ’ immer Schwierigkeiten beim Bruchrechnen, und du kannst es so gut.

Was machen wir heute Abend, Graciela? Wir könnten ins Kino gehen oder einen Spaziergang in die Stadt machen und ein Cola trinken.

Erlaubt deine Mutter dir, dass du heute Abend bei uns isst, Graciela? Es soll Paella geben.

Nein, ich gehe lieber nicht fort. Mama fühlt sich einsam, wenn ich nicht daheim bin. Sie hat eben nur mich, weißt du.

Sonntags stand Graciela früh auf, zog sich leise an, um ihre Mutter und den jeweiligen Onkel in ihrem Bett nicht zu wecken, und ging in die Kirche San Juan Bautista. Dort predigte Pater Perez von den Freuden des Lebens nach dem Tode - ein märchenhaftes Leben mit Jesus -, und Graciela konnte es kaum noch erwarten, zu sterben und zu Jesus zu kommen.

Pater Perez war ein gutaussehender Geistlicher Anfang Vierzig. Seitdem er vor einigen Jahren nach Las Navas del Marquas gekommen war, hatte er Armen wie Reichen, Kranken wie Gesunden gedient, und es gab im Dorf wohl kein Geheimnis, in das er nicht eingeweiht war. Der Pater kannte Graciela als regelmäßige Gottesdienstbesucherin und wusste auch von den ständig wechselnden Männerbekanntschaften, mit denen Dolores Pi-nero ihr Bett teilte. Das war nicht die richtige Umgebung für ein junges Mädchen, aber daran ließ sich nichts ändern. Der Geistliche staunte ohnehin darüber, wie wohlgeraten Graciela war. Sie war höflich und freundlich und klagte niemals über das Leben mit ihrer Mutter.

Zur Messe erschien Graciela jeden Sonntag in einem adretten, sauberen Kleid, das sie bestimmt selbst gewaschen hatte. Pater Perez wusste, dass sie von ihren Altersgenossinnen gemieden wurde, und hatte umso mehr Mitleid mit ihr. Er gewöhnte sich an, jedes Mal nach dem Gottesdienst ein paar Worte mit ihr zu wechseln, und wenn er Zeit hatte, lud er sie in ein kleines Cafe zum Eis ein.

Im Winter war Gracielas Leben düster und eintönig wie die Landschaft rings um das Dorf. Las Navas del Mar-quas lag in einem Tal der Sierra de Cruz Verde, so dass die Winter dort sechs Monate lang dauerten. Die Sommer waren leichter zu ertragen, weil dann Touristen kamen und das Dorf mit Lachen und Leben füllten, das alle Straßen erfasste.

Die Besucher versammelten sich auf der Plaza de Manuel Delgado Barredo mit dem kleinen gemauerten Musikpodium, hörten Volksmusik und beobachteten, wie die Einheimischen die Sardana tanzten: einen jahrhundertealten Kreistanz barfüßiger, einander an den Händen haltender Tänzer in farbenprächtigen Kostümen. Graciela beobachtete die Touristen, wie sie vor Cafes saßen und Aperitivos tranken oder in den kleinen Läden des Dorfs einkauften. Mittags war die Bodega stets voller Touristen, die Chateo tranken und Tapas, Meeresfrüchte, Oliven und Chips aßen.

Am aufregendsten für Graciela war jedoch der allabendliche Paseo. Mädchen und Jungen spazierten in getrennten Gruppen die Plaza Major auf und ab, wobei die Jungen die Mädchen begutachteten, während Eltern, Großeltern und Freunde sie von Straßencafes aus mit Argusaugen beobachteten. Dies war das seit Jahrhunderten eingehaltene traditionelle Paarungsritual. Graciela hätte zu gern daran teilgenommen, aber ihre Mutter verbot es ihr.

»Willst du ‘ne Puta werden?« kreischte sie Graciela an. »Lass dich bloß nicht mit Jungen ein! Die wollen alle nur das eine von dir. Das weiß ich aus Erfahrung«, fügte sie verbittert hinzu.

Waren die Tage gerade noch erträglich, waren die Nächte um so schlimmer. Durch den dünnen Vorhang, der ihre Betten voneinander trennte, konnte Graciela wildes Stöhnen, zuckende Bewegungen und schweres Atmen hören. Und immer wieder Obszönitäten.

»Schneller. fester!«

»Cogeme!«

»Mamame la verga!«

»Metela en culo!«

Noch bevor Graciela zehn Jahre alt war, hatte sie sämtliche obszönen Ausdrücke der spanischen Sprache gehört. Sie wurden geflüstert, geschrieen, geseufzt oder gestöhnt. Die leidenschaftlichen Schreie stießen Graciela ab - und weckten zugleich seltsame Sehnsüchte in ihr.

Der Maure zog ein, als Graciela vierzehn Jahre alt war. Er war der größte Mann, den sie je gesehen hatte: ein schwarzhäutiger Riese mit glattrasiertem Schädel, gewaltigen Schultern, mächtigem Brustkasten und muskelbepackten Armen. Der Maure war mitten in der Nacht gekommen, als Graciela bereits schlief, so dass sie ihn erstmals sah, als er den Vorhang öffnete und auf dem Weg zum Außenabort hinter dem Haus nackt an ihrem Bett vorbeiging. Bei seinem Anblick hatte Graciela Mühe, einen Aufschrei zu unterdrücken. Alles an ihm war so riesig! Damit bringt er Mama um, war ihr erster Gedanke.

Der Maure starrte sie an. »Hm, hm. Und wen haben wir da?«

Dolores Pinero kam hastig aus dem Bett und trat an seine Seite. »Meine Tochter«, sagte sie knapp.

Heißes Schamgefühl durchflutete Graciela, als sie ihre Mutter nackt neben dem Mann stehen sah.

Der Maure lächelte und ließ dabei prachtvoll weiße, ebenmäßige Zähne sehen. »Wie heißt du, Guapa?«

Graciela war wegen seiner Nacktheit so verlegen, dass sie kein Wort herausbrachte.

»Sie heißt Graciela. Sie ist geistig behindert.«

»Sie ist schön. Ich möchte wetten, dass du wie sie ausgesehen hast, als du jung gewesen bist.«

»Ich bin noch immer jung!« fauchte Dolores Pinero. Sie wandte sich an ihre Tochter. »Zieh dich an, sonst kommst du zu spät zur Schule.«

»Ja, Mama.«

Der Maure blieb stehen und starrte sie an.

Dolores zog ihn am Arm. »Komm wieder ins Bett, Querido«, gurrte sie. »Wir sind noch nicht fertig.«

»Später«, sagte der Maure. Er ließ Graciela noch immer nicht aus den Augen.

Der Maure blieb. Auf dem Heimweg von der Schule betete Graciela jeden Tag, er möge ausgezogen sein. Aus ihr unerklärlichen Gründen versetzte er sie in Angst und Schrecken. Obwohl er stets freundlich zu ihr war und nie aufdringlich wurde, ließ allein der Gedanke an ihn Graciela am ganzen Leib erzittern.

Ihre Mutter behandelte er dagegen ausgesprochen schlecht. Der Maure lungerte auch tagsüber in dem Häuschen herum und trank viel. Er nahm Dolores Pinero alles Geld ab, das sie mühsam verdiente. Graciela hörte manchmal, wie er sie nachts schlug, nachdem sie sich eben noch geliebt hatten. Am nächsten Morgen hatte Dolores dann ein blaues Auge oder eine geplatzte Lippe.

»Warum hältst du’s mit ihm aus, Mama?« fragte Graciela.

»Das würdest du nicht verstehen«, antwortete sie unwirsch. »Er ist ein richtiger Mann, kein Zwerg wie die anderen. Er weiß, wie man eine Frau befriedigt.« Sie fuhr sich kokett mit einer Hand durchs Haar. »Außerdem ist er ganz verrückt nach mir.«

Das glaubte Graciela ihr nicht. Sie wusste, dass der Maure ihre Mutter ausnützte, aber sie wagte nicht, nochmals dagegen zu protestieren. Sie hatte zuviel Angst vor dem cholerischen Temperament ihrer Mutter, denn wenn Dolores Pinero wirklich zornig wurde, wusste sie oft nicht mehr, was sie tat. So war sie Graciela einmal mit einem Küchenmesser in der Hand nachgelaufen, weil die Kleine gewagt hatte, einem der »Onkel« einen Tee zu machen.

Eines Sonntagmorgens stand Graciela früh auf, um zur Kirche zu gehen. Ihre Mutter hatte das Haus bereits verlassen, um einige Kleider auszuliefern. Als Graciela sich ihr Nachthemd über den Kopf zog, wurde der Vorhang geöffnet, und der Maure erschien. Er war nackt.

»Wo ist deine Mutter, Guapa?«

»Mama ist schon weggegangen. Sie hat was zu erledigen.«

Der Maure betrachtete Gracielas nackten Körper. »Du bist wirklich eine Schönheit«, sagte er leise.

Graciela fühlte, dass sie errötete. Sie wusste, was sie hätte tun müssen. Sie hätte sich bedecken, Rock und Bluse anziehen und das Haus verlassen sollen. Stattdessen blieb sie wie angenagelt stehen und sah zu, wie seine Männlichkeit vor ihren Augen anschwoll und sich aufrichtete. Sie bildete sich ein, Stimmen zu hören.

»Schneller. fester!«

Ihr wurde schwach.

»Du bist noch ein Kind«, sagte der Maure heiser. »Zieh dich an und verschwinde!«

Im nächsten Augenblick setzte Graciela sich in Bewegung, auf den Mauren zu. Sie umschlang seinen Leib mit ihren Armen und spürte seine männliche Härte an ihrem Körper.

»Nein«, stöhnte sie. »Ich bin kein Kind mehr!«

Der darauf folgende Schmerz war mit nichts zu vergleichen, was Graciela jemals erlebt hatte. Er war schrecklich, unerträglich. Er war wunderbar, begeisternd, herrlich schön. Sie hielt den Mauren an sich gedrückt, während sie ekstatisch schrie. Er verschaffte ihr einen Orgasmus nach dem anderen, und Graciela dachte: Das ist also das ganze Geheimnis! Es war wundervoll, endlich das Geheimnis aller Schöpfung zu kennen, damit zu einem Teil des Lebens geworden zu sein und zu wissen, welche Freuden einen in Zukunft erwarteten.

»Was macht ihr da, verdammt noch mal?«

Das war Dolores Pineros kreischende Stimme. Einen Augenblick lang schien alles zur Bewegungslosigkeit zu erstarren, als sei die Zeit stehen geblieben. Dolores stand neben ihrem Bett und glotzte ihre Tochter und den Mauren an.

Graciela blickte vor Entsetzen stumm zu ihrer Mutter auf. In Dolores Pineros Augen funkelte besinnungsloser Zorn.

»Du Schlampe!« keifte sie. »Du elende Schlampe!«

»Mama.. bitte.«

Dolores griff nach dem schweren eisernen Aschenbecher auf dem Nachttisch und schlug ihn ihrer Tochter auf den Kopf.

Das war das letzte, woran Graciela sich erinnern konnte.

Sie wachte in einem großen Krankensaal auf, dessen zwei Dutzend Betten sämtlich belegt waren. Blasse, übermüdete Krankenschwestern eilten hin und her und bemühten sich, alle Patientinnen zu versorgen.

Gracielas Kopf schmerzte schrecklich. Bei jeder Bewegung flossen Feuerströme durch ihren Körper. Sie lag da und horchte auf das Stöhnen und Schreien der anderen.

Am späten Nachmittag blieb ein junger Assistenzarzt neben ihrem Bett stehen. Obwohl er erst Ende Zwanzig war, wirkte er alt und verbraucht.

»Aha!« sagte er. »Sie sind also endlich aufgewacht.«

»Wo bin ich?« Das Sprechen tat ihr weh.

»Im Armensaal des Provinzkrankenhauses Avila«, antwortete der junge Arzt. »Sie sind gestern in schrecklicher Verfassung eingeliefert worden. Wir haben eine Platzwunde auf Ihrer Stirn nähen müssen. Das hat der Chefarzt unserer Chirurgie selbst übernommen. Er hat gesagt, Sie seien zu schön, um Narben haben zu dürfen.«

Er täuscht sich, dachte Graciela. Diese Narbe werde ich

Am zweiten Tag kam Pater Perez, um Graciela zu besuchen. Eine Krankenschwester stellte ihm einen Stuhl an ihr Bett. Der Geistliche betrachtete das vor ihm liegende blasse schöne Mädchen und war zu Tränen gerührt. Das ganze Dorf war über Gracielas angeblichen »Unfall« empört, aber niemand konnte diese Version widerlegen. Dolores Pinero hatte bei der Polizei ausgesagt, ihre Tochter habe sich die Kopfverletzung bei einem Sturz zugezogen.

»Geht’s dir schon besser, Kind?« fragte Pater Perez besorgt.

Graciela nickte. Diese Bewegung brachte ihr pochende Kopfschmerzen ein.

»Die Polizei hat Ermittlungen angestellt. Soll ich ihr irgend etwas ausrichten?«

Graciela antwortete nicht gleich. »Es ist ein Unfall gewesen«, sagte sie schließlich.

Er konnte es nicht ertragen, ihr in die Augen zu sehen. »Ich verstehe«, murmelte er. Dann gab er sich einen Ruck. »Graciela, ich habe mit deiner Mutter gesprochen.«

Sie ahnte, was er sagen wollte. »Ich. ich kann nicht wieder nach Hause, stimmt’s?«

»Nein, leider nicht. Aber darüber können wir noch reden.« Pater Perez griff nach Gracielas Hand. »Ich komme dich morgen wieder besuchen.«

»Danke, Pater.«

Nachdem er gegangen war, lag Graciela da und betete: Lieber Gott, lass mich sterben. Ich will nicht weiterleben.

Sie wusste nicht, wohin und zu wem sie hätte gehen können. Sie würde das Haus, in dem sie aufgewachsen war, nie wieder sehen. Sie würde ihre Schule und die vertrauten Gesichter der Lehrerinnen nie mehr sehen. Auf der ganzen Welt gab es nichts Vertrautes mehr für sie.

Eine Krankenschwester blieb an ihrem Bett stehen. »Brauchen Sie irgendwas?«

Graciela sah verzweifelt zu ihr auf. Was hätte sie sagen sollen?

Am nächsten Tag erschien der Assistenzarzt wieder an ihrem Bett.

»Ich habe eine gute Nachricht für Sie«, sagte er verlegen. »Sie haben sich so gut erholt, dass wir Sie entlassen können.« Das war gelogen, aber was er hinzufügte, war die Wahrheit. »Wir brauchen das Bett.«

Sie durfte also gehen - aber wohin?

Eine Stunde später erschien Pater Perez in Begleitung eines weiteren Geistlichen.

»Das ist mein alter Freund Pater Berrendo.«

Graciela blickte zu dem zerbrechlich wirkenden Alten auf. »Pater.«

Er hat recht, dachte Pater Berrendo. Sie ist wirklich eine Schönheit.

Pater Perez hatte ihm Gracielas Schicksal geschildert. Der Geistliche hatte erwartet, sichtbare Spuren der Umgebung, in der das Kind aufgewachsen war, auf seinem Gesicht vorzufinden: Verhärtung, Trotz oder Selbstmitleid. Aber auf dem Gesicht des Mädchens zeichnete sich nichts dergleichen ab.

»Ich bedaure, dass es Ihnen so schlecht ergangen ist, mein Kind«, sagte Pater Berrendo. Damit meinte er keineswegs nur ihren Krankenhausaufenthalt.

»Graciela, ich muss nach Las Navas del Marquas zurück«, erklärte Pater Perez ihr. »Aber Pater Berrendo hat mir versprochen, sich um dich zu kümmern.«

Graciela wurde plötzlich von panischer Angst erfasst. Sie hatte das Gefühl, ihre letzte Verbindung zu ihrer Heimat werde gekappt. »Bleiben Sie noch!« bat sie flehentlich.

Pater Perez nahm ihre Hand in seine. »Ich weiß, dass du dich verlassen fühlst«, sagte er freundlich, »aber das bist du nicht. Glaub mir, Kind, das bist du nicht.«

Eine Krankenschwester brachte ein Bündel Kleidungsstücke und legte es aufs Bett. »Hier sind Ihre Sachen. Sie müssen jetzt gehen, fürchte ich.«

Gracielas Panik verstärkte sich noch. »Jetzt gleich?«

Die beiden Geistlichen wechselten einen Blick.

»Wollen Sie sich nicht anziehen und mit mir kommen?« schlug Pater Berrendo vor. »Dann können wir miteinander reden.«

Eine Viertelstunde später trat Graciela auf Pater Ber-rendos Arm gestützt aus dem Krankenhausportal in warmen Sonnenschein hinaus. In der kleinen Anlage vor dem Krankenhaus blühten farbenprächtige Sommerblumen, aber Graciela war zu benommen, um sie überhaupt wahrzunehmen.

»Pater Perez hat mir erzählt, dass Sie nicht wissen, wohin Sie gehen sollen«, sagte Pater Berrendo, als sie sich in seinem Dienstzimmer gegenübersaßen.

Graciela nickte.

»Sie haben keine Verwandten?«

»Nur.« Es fiel ihr schwer, das zu sagen. »Nur. meine Mutter.«

»Von Pater Perez weiß ich, dass Sie in Ihrem Heimatdorf regelmäßig zur Messe gegangen sind.«

In dem Dorf, das sie nie wieder sehen würde. »Ja.«

Graciela dachte an diese Sonntagmorgen - daran, wie schön das Hochamt immer gewesen war und wie sehr sie sich gewünscht hatte, bei Jesus zu sein, ihrer Alltagspein zu entrinnen.

»Graciela, haben Sie jemals daran gedacht, ins Kloster zu gehen?«

»Nein.« Dieser Gedanke verblüffte sie.

»Hier in Avila gibt’s ein Nonnenkloster, ein Kloster der Zisterzienserinnen. Dort wären Sie gut versorgt.«

»Ich. ich weiß nicht recht.« Sie fand diese Vorstellung eher erschreckend.

»Das Klosterleben ist nicht für jeden richtig«, erklärte Pater Berrendo ihr. »Und ich muss Sie warnen, dass dies der strengste Orden überhaupt ist. Sobald Sie dort eintreten und Ihre Gelübde ablegen, haben Sie Gott versprochen, das Kloster nie mehr zu verlassen.«

Graciela, deren Kopf mit widersprüchlichen Gedanken angefüllt war, saß da und starrte aus dem Fenster. Die Vorstellung, sich gänzlich von der Welt abzusondern, hatte etwas Erschreckendes an sich. Das wäre, als wenn man freiwillig ins Gefängnis ginge. Aber was hatte die Welt ihr andererseits zu bieten? Mehr Schmerzen und Verzweiflung, als sie ertragen konnte. Sie hatte schon oft an Selbstmord gedacht. Vielleicht war dies ein Ausweg aus ihrem Elend.

»Die Entscheidung liegt bei Ihnen, mein Kind«, sagte Pater Berrendo. »Wenn Sie wollen, bringe ich Sie mit der Ehrwürdigen Mutter Äbtissin zusammen.«

Graciela nickte. »Einverstanden.«

Die Ehrwürdige Mutter studierte das Gesicht des jungen Mädchens vor sich. Letzte Nacht hatte sie zum ersten Mal seit vielen, vielen Jahren wieder die Stimme gehört. Ein Kind wird zu dir kommen. Beschütze es. »Wie alt sind Sie, meine Liebe?«

»Vierzehn.«

Sie ist alt genug. Im vierten Jahrhundert hatte ein Papst entschieden, Mädchen könnten bereits mit zwölf Jahren Nonnen werden.

»Ich habe Angst«, sagte Graciela zur Ehrwürdigen Mutter Betina.

Ich habe Angst. Diese Worte hallten in Betinas Kopf wider. Ich habe Angst...

Das war vor vielen Jahrzehnten gewesen. Damals hatte sie mit ihrem Pfarrer gesprochen. »Ich weiß nicht, ob ich dazu berufen bin, Pater. Ich habe Angst.«

»Betina, der erste Kontakt mit Gott kann beunruhigend sein, und die Entscheidung, Ihr Leben ihm zu weihen, ist schwierig.«

Wie habe ich meine Berufung gefunden! hatte Betina sich gefragt.

Sie war niemals auch nur andeutungsweise an Glaubensdingen interessiert gewesen. Nach der Erstkommunion hatte sie vielmehr versucht, sich vor jedem Gottesdienstbesuch zu drücken. Als Teenager hatte sie sich mehr für Mode, Partys und Jungen interessiert. Wären ihre Freundinnen in Madrid aufgefordert worden, potentielle Kandidatinnen für den Beruf einer Ordensschwester zu benennen, hätte Betina auf ihrer Liste ganz unten gestanden. Oder genauer gesagt: Sie wäre nicht einmal auf ihrer Liste erschienen. Aber als sie neunzehn Jahre alt war, begannen Dinge zu passieren, die dann ihr Leben veränderten.

Sie lag schlafend in ihrem Bett, als eine Stimme sagte:

»Betina, steh auf und geh nach draußen.«

Sie öffnete die Augen und setzte sich erschrocken auf. Dann machte sie Licht. Sie war allein. Was für ein seltsamer Traum!

Aber die Stimme hatte so echt geklungen. Sie sank wieder aufs Kopfkissen zurück, fand jedoch keinen Schlaf mehr.

Betina, steh auf und geh nach draußen.

Das ist mein Unterbewusstsein, dachte sie. Weshalb sollte ich mitten in der Nacht nach draußen gehen wollen?

Sie knipste ihre Nachttischlampe aus und schaltete sie im nächsten Augenblick wieder ein. Das ist doch verrückt!

Aber sie zog Bademantel und Hausschuhe an und stieg die Treppe hinunter. Das ganze Haus schlief fest.

Sie öffnete die Küchentür. Dabei empfand sie plötzlich Angst, weil sie spürte, dass sie auf den Hof hinter dem Haus hinausgehen sollte. Sie sah sich dort um und wurde im Mondschein auf einen ausrangierten alten Kühlschrank aufmerksam, der als Werkzeugschrank diente.

Betina wusste plötzlich, weshalb sie hier war. Sie trat wie hypnotisiert an den Kühlschrank und öffnete die Tür. Im Schrank entdeckte sie ihren dreijährigen kleinen Bruder, der bereits bewusstlos war.

Dies war der erste unerklärliche Vorfall. Im Laufe der Zeit deutete Betina ihn jedoch als völlig normales Ereignis. Ich muss gehört haben, wie mein Bruder auf ge standen und auf den Hof gegangen ist, und weil ich gewusst habe, dass dort der alte Kühlschrank gestanden hat, und ich mir Sorgen um den Kleinen gemacht habe, bin ich hinausgegangen, um nach ihm zu sehen.

Der nächste Vorfall war weniger leicht zu erklären. Er passierte einen Monat später.

Betina hörte im Schlaf eine Stimme sagen: »Du musst das Feuer löschen.«

Sie setzte sich hellwach und mit jagendem Puls im Bett auf. Auch diesmal konnte sie nicht wieder einschlafen. Sie zog ihren Bademantel an und trat in den Flur hinaus. Kein Rauch. Kein Feuer. Sie öffnete die Tür des Elternschlafzimmers. Dort schien alles normal zu sein. Auch im Zimmer ihres Bruders brannte es nicht. Sie ging nach unten und kontrollierte sämtliche Räume im Erdgeschoß. Nirgends Rauch oder Brandgeruch.

Ich bin eine Idiotin, dachte Betina. Das ist nur ein Traum gewesen.

Als sie eben wieder im Bett lag, wurde das Haus durch eine Explosion erschüttert. Die Familie konnte sich retten, und die Feuerwehr hatte den Brand bald unter Kontrolle.

»Eine Gasexplosion im Keller«, stellte ein Feuerwehrmann fest. »Die Leitung muss undicht geworden sein.«

Der nächste Vorfall ereignete sich etwa drei Wochen später. Diesmal hing er nicht mit einem Traum zusammen.

Betina saß lesend auf der Veranda, als sie einen Fremden durch den Garten gehen sah. Er erwiderte ihren Blick, und sie nahm deutlich seine fast mit Händen greifbare bösartige Ausstrahlung wahr. Der Unbekannte wandte sich ab und war im nächsten Augenblick verschwunden.

Betina konnte ihn nicht aus ihrem Gedächtnis tilgen.

Drei Tage später wartete sie in einem Verwaltungsgebäude auf den Lift. Die Aufzugstür öffnete sich, und Betina wollte eben die Kabine betreten, als ihr Blick auf den Fahrstuhlführer fiel. Es war der Mann, den sie in ihrem Garten gesehen hatte. Betina trat erschrocken zurück. Die Tür schloss sich, und der Lift fuhr weiter nach oben. Sekunden später stürzte er in die Tiefe, wobei alle Fahrgäste den Tod fanden.

Am Sonntag danach ging Betina in die Kirche.

Lieber Gott, ich weiß nicht, was hier vorgeht, und habe Angst. Bitte, führe mich und sage mir, was du von mir erwartest.

Die Antwort kam in dieser Nacht, als Betina schlief. Die Stimme sagte nur ein Wort. Hingabe.

Sie dachte die ganze Nacht darüber nach und suchte am nächsten Morgen ihren Pfarrer auf.

Der Geistliche hörte ihr aufmerksam zu.

»Ah, Sie gehören zu den Glücklichen. Sie sind auserwählt worden.«

»Wozu auserwählt?«

»Sind Sie bereit, Ihr Leben Gott zu weihen, mein Kind?«

»Ich. ich weiß nicht. Ich habe Angst.«

Aber zuletzt war sie doch ins Kloster eingetreten.

Ich habe den rechten Pfad gewählt, dachte Ehrwürdige Mutter Betina, denn ich habe nie zuvor soviel Glück erfahren.

Und jetzt sagte dieses misshandelte Kind stockend: »Ich habe Angst.«

Die Ehrwürdige Mutter nahm Gracielas Hand in die ihre. »Lass dir Zeit, Graciela. Gott wartet auf dich. Wenn du darüber nachgedacht hast, kommst du zurück, und wir besprechen alles.«

Aber was gab es da nachzudenken? Ich wüsste nicht, wo ich sonst hingehen sollte, dachte Graciela. Und die Stille würde ihr willkommen sein. Ich habe zu viele schreckliche Laute gehört. Sie erwiderte den Blick der Ehrwürdigen Mutter und sagte: »Ich freue mich auf das Schweigen.«

Das war vor siebzehn Jahren gewesen, und in dieser Zeit hatte Graciela zum ersten Mal innerlichen Frieden gefunden. Ihr Leben war Gott geweiht. Ihre Vergangenheit bedrückte sie nicht mehr. Sie hatte Vergebung für die Schrecken erlangt, mit denen sie aufgewachsen war. Sie war eine Braut Christi, der sie nach ihrem Tode zu sich holen würde.

Trotz gelegentlicher Alpträume verstummten die schrecklichen Laute in ihrem Kopf allmählich, während die Jahre in tiefem Schweigen vergingen.

Schwester Graciela wurde für die Arbeit im Blumengarten eingeteilt, wo sie die winzigen Regenbogen von Gottes Wunder hegte, ohne sich an ihrer Pracht jemals satt sehen zu können. Die Mauern des Klosters umgaben sie auf allen Seiten wie hohe Felsklippen, aber Graciela fühlte sich niemals von ihnen eingeschlossen; sie schlossen die Welt aus - eine schreckliche Welt, die sie nie wieder sehen wollte.

Das Leben im Kloster war heiter und friedlich gewesen. Aber jetzt waren ihre schrecklichen Alpträume plötzlich real geworden. In ihre Welt waren Barbaren eingedrungen. Sie hatten sie aus ihrem Zufluchtsort in die Welt hinausgetrieben, der sie für immer entsagt hatte. Und ihre Sünden überfielen sie wieder und erfüllten sie mit Entsetzen. Der Maure war zurückgekehrt. Sie spürte seinen heißen Atem auf ihrem Gesicht. Während sie sich gegen ihn wehrte, öffnete sie die Augen und sah, dass der Frater in sie einzudringen versuchte. »Lass das Sträuben, Schwester!« keuchte er. »Du wirst sehen, dass es Spaß macht!«

»Mama!« rief Graciela laut. »Hilf mir, Mama!«

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