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Am Hinrichtungstag Jaime Miros versammelten sich die ersten sensationslüsternen Neugierigen schon um fünf Uhr morgens vor dem Madrider Zentralgefängnis. Von der Guardia Civil errichtete Absperrungen drängten die wachsende Menge vom Haupteingang des Gefängnisses ab und über die breite Straße zurück. Soldaten mit Panzern blockierten das mächtige eiserne Gefängnistor.

Im Gefängnis selbst fand im Dienstzimmer des Direktors Gomez de la Fuente eine ungewöhnliche Besprechung statt. Anwesend waren Ministerpräsident Leopoldo Martinez, der neue GOE-Kommandeur Alonzo Sebastian und Fuentes Assistenten Juanito Molinas und Pedro Arrango.

Direktor de la Fuente war ein stämmiger, bärbeißiger Mittfünfziger, dessen ganzer Lebenszweck die Disziplinierung der ihm vom Staat anvertrauten Missetäter war. Molinas und Arrango, seine eisenharten Assistenten, waren ihm seit fast zwanzig Jahren unterstellt.

Ministerpräsident Martinez hatte das Wort ergriffen. »Erläutern Sie mir bitte, welche Vorkehrungen Sie getroffen haben, damit die Hinrichtung Miros glatt über die Bühne gehen kann.«

»Wir sind auf alles vorbereitet, Exzellenz«, versicherte Direktor de la Fuente ihm. »Wie Sie bei Ihrer Ankunft gesehen haben, ist vor dem Gefängnis eine Kompanie Soldaten mit Panzern aufmarschiert. Um Miro zu befreien, müsste jemand eine ganze Privatarmee aufbieten können.«

»Und hier im Gefängnisgebäude?«

»Unsere internen Sicherheitsvorkehrungen sind noch strenger. Jaime Miro sitzt im Hochsicherheitstrakt im zweiten Stock. Die übrigen Häftlinge dieses Trakts sind für heute in andere Zellen verlegt worden. Zwei Wärter halten vor Miros Zelle Wache; je zwei weitere sind an beiden Enden des Zellenblocks stationiert. Ich habe angeordnet, dass alle Häftlinge bis nach der Hinrichtung in ihren Zellen eingesperrt bleiben.«

»Für wann ist seine Hinrichtung vorgesehen?«

»Für zwölf Uhr, Exzellenz. Das Mittagessen wird deshalb erst um halb eins ausgegeben. Auf diese Weise haben wir genügend Zeit, Miros Leiche abzutransportieren.«

»Was soll mit der Leiche geschehen?«

»Wir halten uns an Ihren Vorschlag, Exzellenz. Eine Beisetzung in Spanien könnte unerwünschte Konsequenzen haben, wenn die Basken zu seinem Grab wallfahren würden. Wir haben Verbindung zu seiner Tante aufgenommen, die in Frankreich in einem Dorf bei Bayonne lebt. Sie ist bereit, ihn dort beisetzen zu lassen.«

Der Ministerpräsident stand auf. »Ausgezeichnet!« Er seufzte. »Ich finde noch immer, dass eine öffentliche Hinrichtung angemessener gewesen wäre.«

»Gewiss, Exzellenz. Aber in diesem Fall könnte ich keine Verantwortung dafür übernehmen, dass der Mob dort draußen unter Kontrolle bleibt.«

»Wahrscheinlich haben Sie recht. Es wäre zwecklos, mehr Emotionen zu schüren als unbedingt notwendig. Die Garrotte ist langsamer und schmerzhafter. Und wenn einer sie verdient hat, dann Jaime Miro!«

»Entschuldigen Sie, Exzellenz«, sagte Direktor de la Fuente, »aber soviel ich gehört habe, tritt heute eine Richterkommission zusammen, um über ein von Miros Anwälten eingereichtes Gnadengesuch zu entscheiden.

Was sollen wir tun, falls.?«

Der Ministerpräsident unterbrach ihn. »Dem Gnadengesuch wird nicht stattgegeben. Die Hinrichtung findet wie vorgesehen statt.«

Damit war die Besprechung zu Ende.

Um 7.30 Uhr hielt der Lieferwagen einer Bäckerei vor dem Gefängnisportal.

»Lieferung.«

Einer der am Tor postierten Gefängniswärter musterte den Fahrer prüfend. »Du bist neu, was?«

»Ja.«

»Wo ist Julio?«

»Der ist krank und liegt im Bett.«

»Warum legst du dich nicht zu ihm, Amigo?«

»Was soll das heißen?«

»Heute morgen wird nichts angeliefert. Du kannst nachmittags zurückkommen.«

»Aber unser Brot wird doch jeden Morgen.«

»Niemand kommt rein, und nur einer kommt raus. Stoß zurück, dreh um und hau lieber ab, bevor meine Kameraden nervös werden.«

Der Fahrer betrachtete die Soldaten, die ihn misstrauisch anstarrten. »Ja, ja, schon gut.«

Die Bewaffneten sahen ihm nach, als er wendete und davonfuhr. Der Wachführer meldete den Vorfall dem Gefängnisdirektor. Als die Aussage des Lieferwagenfahrers überprüft wurde, stellte sich heraus, dass der reguläre Fahrer nach einem Verkehrsunfall, bei dem der Schuldige Fahrerflucht verübt hatte, im Krankenhaus lag.

Kurz nach 8 Uhr detonierte auf der Straße gegenüber dem Zentralgefängnis eine Autobombe, die ein halbes Dutzend Neugierige verletzte. Unter normalen Umständen hätten die Wachen ihre Posten verlassen, um den Tatort abzuriegeln und die Verletzten zu versorgen. Diesmal hatten sie jedoch strikte Anweisungen. Sie blieben auf ihren Posten und alarmierten lediglich die Guardia Civil.

Auch dieser Vorfall wurde Direktor de la Fuente prompt gemeldet.

»Ihre Verzweiflung wächst«, stellte er fest. »Seid auf alles gefasst!«

Um 9.15 Uhr erschien ein Hubschrauber über den Gefängnisgebäuden. Sein Rumpf trug auf beiden Seiten Werbung für LA PRENSA - Spaniens große Tageszeitung.

Auf dem Gefängnisdach waren zwei Fla-MGs in Stellung gebracht worden. Der verantwortliche Leutnant schoss eine rote Leuchtkugel, um den Hubschrauber zu vertreiben. Aber die Maschine schwebte weiter über dem Gefängnis. Der Offizier nahm den Hörer seines Feldtelefons ab. »Direktor, über uns schwebt ein Hubschrauber.«

»Irgendwelche Hinweise auf seine Absichten?«

»Auf dem Rumpf steht LA PRENSA, aber die Werbung scheint frisch angebracht zu sein.«

»Geben Sie zur Warnung einen Feuerstoß ab. Verschwindet er daraufhin nicht, holen Sie ihn runter.«

»Wird gemacht.« Der Leutnant nickte der Fla-Bedienung zu. »Einen Feuerstoß vor den Bug.«

Die Leuchtspurgarbe zischte fünf Meter vor dem Hubschrauber vorbei. Sein Pilot reagierte sofort. Er zog seine Maschine hoch und verschwand über Madrid hinweg in der Ferne.

Was fällt ihnen als nächstes ein? fragte sich der Leutnant.

Um 11 Uhr erschien Megan Scott im Wachlokal am Haupteingang des Gefängnisses. Sie war blass und übernächtigt. »Ich möchte Direktor de la Fuente sprechen.«

»Haben Sie einen Termin bei ihm?«

»Nein, aber.«

»Bedaure, der Direktor ist heute Vormittag nicht zu sprechen. Wenn Sie nachmittags anrufen.«

»Sagen Sie ihm, dass Megan Scott hier ist.«

Der Wachführer betrachtete sie genauer. Das ist also die reiche Amerikanerin, die Jaime Miro zu retten versucht. Mit der würd’ ich mich gern mal ein paar Nächte vergnügen. »Gut, ich sage ihm, dass Sie da sind.«

Fünf Minuten später saß Megan im Dienstzimmer des Gefängnisdirektors. Ebenfalls anwesend waren die sieben Mitglieder des Gefängnisausschusses.

»Was kann ich für Sie tun, Miss Scott?«

»Ich möchte Jaime Miro besuchen.«

De la Fuente seufzte. »Das ist leider nicht möglich, fürchte ich.«

»Aber ich bin.«

»Miss Scott, wir alle wissen, wer Sie sind. Wäre es möglich, Ihnen diesen Wunsch zu erfüllen, würden wir’s nur allzu gern tun.« Er lächelte. »Wir Spanier sind verständnisvolle Menschen. Darüber hinaus sind wir sentimental - und gelegentlich bereit, uns über Vorschriften hinwegzusetzen.« Sein Lächeln verschwand. »Aber nicht heute, Miss Scott. Heute ist ein besonderer Tag. Wir haben Jahre gebraucht, um den Mann zu fassen, den Sie besuchen wollen. Deshalb geht heute alles streng nach Vorschrift. Als nächstes tritt Jaime Miro vor seinen Gott - falls er einen hat.«

Megan starrte ihn mit Verzweiflung im Blick an.

»Könnte ich. könnte ich ihn nicht wenigstens kurz sehen?«

Eines der Mitglieder des Gefängnisausschusses, das ihre Verzweiflung rührte, hätte sich am liebsten für sie verwendet. Aber es hielt den Mund.

»Tut mir leid«, sagte Direktor de la Fuente. »Nein.«

»Könnte ich ihm eine Nachricht zukommen lassen?« fragte Megan mit gepresster Stimme.

»Sie würden einem Toten schreiben.« Er sah auf seine Uhr. »Er hat keine Stunde mehr zu leben.«

»Aber er hat ein Gnadengesuch eingereicht! Tritt nicht eine Richterkommission zusammen, um.«

»Sie hat sich gegen einen Gnadenerweis ausgesprochen. Das ist mir vor einer Viertelstunde gemeldet worden. Miros Gesuch ist verworfen worden. Die Hinrichtung findet statt. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen wollen.«

Er stand auf, und die anderen folgten seinem Beispiel. Megan betrachtete ihre kalten Gesichter und fuhr zusammen.

»Gott sei Ihnen allen gnädig«, sagte sie.

Die Männer sahen ihr stumm nach, als sie aus dem Dienstzimmer flüchtete.

Um 11.50 Uhr wurde Jaime Miros Zellentür aufgesperrt. Direktor de la Fuente erschien mit Molinas und Arrango, seinen beiden Assistenten, und Dr. Miguel A-nuncion, dem Gefängnisarzt. Auf dem Korridor standen vier bewaffnete Wärter.

Der Gefängnisdirektor betrat die Zelle. »Es ist soweit.«

Jaime stand von seinem Klappbett auf. Er trug Handschellen und Fußfesseln. »Ich hatte gehofft, Sie würden sich verspäten.« Seine würdevolle Haltung imponierte Direktor de la Fuente.

Zu anderer Zeit, unter anderen Umständen hätten wir freunde sein können.

Jaime, der sich wegen der Fußfesseln unbeholfen bewegte, trat in den menschenleeren Korridor hinaus. Mo-linas, Arrango und die bewaffneten Wärter nahmen ihn in ihre Mitte. »Die Garrotte?« fragte Jaime.

Der Direktor nickte. »Die Garrotte.« Ein barbarisches, inhumanes Tötungswerkzeug. Nur gut, dass die Hinrichtung unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfindet, dachte de la Fuente.

Die acht Männer bewegten sich langsam den Korridor hinunter. Von der Straße drangen die Sprechchöre der Menge herein: »Jaime. Jaime. Jaime.« Tausende von Kehlen skandierten seinen Namen lauter und lauter.

»Sie rufen nach Ihnen«, sagte Pedros Arrango.

»Nein, sie rufen für sich selbst. Sie fordern Freiheit. Morgen haben sie einen anderen Namen. Ich sterbe -aber es wird immer einen Namen geben.«

Sie durchschritten zwei Absperrungen und machten vor einer kleinen Kammer mit grüner Eisentür am Ende des Korridors halt. In diesem Augenblick bog ein katholischer Geistlicher in schwarzem Ornat um die Ecke.

»Gott sei Dank, dass ich noch rechtzeitig komme! Ich soll dem Verurteilten geistlichen Beistand leisten.«

Als er sich Miro nähern wollte, vertraten zwei Wärter ihm den Weg.

»Tut mir leid, Pater«, sagte Direktor de la Fuente, »aber zu ihm darf niemand.«

»Aber ich soll.«

»Wenn Sie ihm beistehen wollen, müssen Sie’s durch die geschlossene Tür hindurch tun. Machen Sie jetzt bitte Platz.«

Einer der Wärter öffnete die grüne Tür. In der kleinen Kammer stand ein Riese, der eine Halbmaske trug, hinter einem am Fußboden festgeschraubten Lehnstuhl mit breiten Armriemen. In seinen Händen hielt er die Garrotte.

Der Direktor nickte Molinas, Arrango und dem Arzt zu. Die vier Männer betraten nach Jaime den Raum. Die Wärter blieben draußen. Die grüne Tür wurde abgesperrt und verriegelt.

In der Kammer führten de la Fuentes Assistenten Jaime zu dem Lehnstuhl. Sie schließten seine Handschellen auf, ließen ihn sich setzen und zogen die breiten Armriemen straff, während der Direktor und Dr. Anuncion zusahen. Hinter der massiven Türe waren die lauten Gebete des Geistlichen kaum zu hören.

De la Fuente sah schulterzuckend zu Jaime hinüber. »Das macht nichts. Gott versteht, was er sagt.«

Der Riese mit der Garrotte trat hinter Jaime. »Wollen Sie eine Augenbinde?« fragte Direktor de la Fuente.

»Nein.«

Der Gefängnisdirektor nickte dem Riesen zu. Der Henker hob die Garrotte und beugte sich nach vorn.

Draußen hörten die vor der Tür Wache haltenden Wärter die Sprechchöre des Mobs auf der Straße.

»Wisst ihr was?« knurrte einer von ihnen. »Ich wollte, ich wäre bei denen dort draußen!«

Fünf Minuten später öffnete sich die grüne Tür.

»Bringt den Leichensack herein«, verlangte Dr. Anun-cion.

Den Anweisungen entsprechend wurde Miros Leichnam durch einen Hinterausgang aus dem Gefängnis gebracht. Der Leichensack wurde in den Laderaum eines neutralen Kastenwagens geworfen. Aber sobald das Fahrzeug den Gefängnishof verließ, drängte die auf der Straße versammelte Menge wie von einem geheimnisvollen Magneten angezogen heran.

»Jaime. Jaime.«

Aber die Sprechchöre klangen jetzt gemäßigter. Frauen und Männer weinten, und ihre Kinder starrten das Fahrzeug an, ohne recht zu begreifen, was es transportierte. Der Kastenwagen rollte langsam durch die Menge und erreichte schließlich eine der Ausfallstraßen der Hauptstadt.

»Jesus«, sagte der Fahrer, »das ist richtig unheimlich gewesen! Der Kerl muss was Besonderes an sich gehabt haben.«

»Allerdings«, bestätigte sein Beifahrer. »Und diese Leute haben’s alle gespürt.«

An diesem Nachmittag um 14 Uhr erschienen Gefängnisdirektor Gomez de la Fuente und seine beiden Assistenten Juanito Molinas und Pedros Arrango im Amtssitz von Ministerpräsident Martinez.

»Ich möchte Sie beglückwünschen«, sagte der Ministerpräsident. »Alles hat einwandfrei geklappt.«

Der Gefängnisdirektor ergriff das Wort. »Exzellenz, wir sind nicht gekommen, um uns beglückwünschen zu lassen«, stellte er richtig. »Wir sind hier, um unser Ausscheiden aus dem Staatsdienst zu erklären.«

Martinez starrte sie verwirrt an. »Ich. das verstehe ich nicht. Was.?«

»Das Ganze ist ein humanitäres Problem, Exzellenz. Wir haben heute einen Menschen sterben gesehen. Vielleicht hatte er den Tod verdient - aber nicht auf diese Weise. Seine Hinrichtung ist barbarisch gewesen. Mit dieser Art von Strafvollzug will ich nichts mehr zu schaffen haben, und meinen Kollegen geht es wie mir.«

»Vielleicht sollten Sie sich Ihr Ausscheiden noch einmal überlegen. Ihre Pensionen.«

»Wir müssen mit unserem Gewissen leben.« Direktor de la Fuente übergab dem Ministerpräsidenten drei gleich lautende Schreiben. »Hier sind unsere Rücktrittserklärungen.«

Am späten Abend passierte der Kastenwagen die französische Grenze und fuhr zu dem Dorf Bidache bei Bay-onne weiter. Dort hielt er vor einem hübschen Bauernhaus.

»Hier sind wir richtig. Komm, wir sehen zu, dass wir die Leiche loswerden, bevor sie zu stinken anfängt.«

Eine Mittfünfzigerin öffnete ihnen die Tür. »Sie haben ihn mitgebracht?«

»Ja, Senora. Wohin sollen wir sie. äh. ihn hinlegen?«

»Bringen Sie ihn bitte ins Wohnzimmer.«

»Wie Sie wünschen, Senora. An Ihrer Stelle würde ich mit der Beisetzung nicht allzu lange warten. Sie verstehen, was ich meine?«

Sie beobachtete, wie Fahrer und Beifahrer den Leichensack hereinschleppten und im Wohnzimmer auf den Fußboden legten.

»Ich danke Ihnen.«

»De nada.«

Sie sah den beiden nach, als sie mit dem Kastenwagen davonfuhren.

Eine weitere Frau kam ins Wohnzimmer gehastet und beugte sich über den Leichensack. Ihre Hand zitterte, als sie den Reißverschluss aufzog.

Jaime Miro blickte lächelnd zu ihnen auf. »Viel schlimmer als diese Fahrt hätte die Garrotte auch nicht sein können.«

»Rotwein oder Weißwein?« fragte Megan.

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