27

In Aranda de Duero blieb Lucia Carmine vor der Taverne stehen und holte tief Luft. Durchs Fenster sah sie Rubio Arzano an seinem Tisch sitzen und auf sie warten.

Er darf keinen Verdacht schöpfen, dachte Lucia. Um acht bekommst du einen neuen Reisepass und bist in die Schweiz unterwegs.

Sie setzte ein gekünsteltes Lächeln auf und betrat die Taverne. Rubio grinste erleichtert, als er sie kommen sah, und der Blick, mit dem er sie betrachtete, versetzte Lucia einen Stich ins Herz.

»Ich hab’ mir Sorgen um dich gemacht, Querida. Als du so lange fortgeblieben bist, hab’ ich schon befürchtet, dir sei was zugestoßen.«

Lucia legte ihre Hand auf seine. »Nichts ist passiert.« Außer dass du dir den Weg in die Freiheit erkauft hast. Morgen um diese Zeit bist du längst außer Landes.

Rubio saß ihr gegenüber, hielt ihre Hand, sah ihr in die Augen und strahlte so viel Liebe aus, dass es Lucia unbehaglich zumute wurde. Weiß er denn nicht, dass das nie funktionieren würde? Nein - weil du nicht den Mut hast, es ihm zu sagen. Er ist nicht in dich verliebt. Er liebt die Frau, für die er dich hält. Ohne dich ist er weit besser dran.

Sie drehte den Kopf zur Seite und sah sich erstmals bewusst in dem Lokal um. An der Theke drängten sich inzwischen zehn, zwölf Einheimische, von denen die meisten die beiden Fremden neugierig anstarrten.

Einer der jungen Männer begann zu singen, und andere Gäste fielen ein. Ein Mann trat an den Tisch, an dem Lucia und Rubio saßen.

»Wollen Sie nicht mitsingen, Senor?«

Rubio schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Warum nicht, Amigo?«

»Das ist euer Lied.« Auf Lucias fragenden Blick erklärte Rubio ihr: »Eines der alten Kampflieder, in denen Franco bejubelt wird.«

Weitere Gäste traten an den Tisch der beiden. Alle hatten offenbar schon viel getrunken.

»Sie sind gegen Franco, Senor?«

Lucia sah, dass Rubios Hände sich zu Fäusten ballten. Großer Gott, nicht ausgerechnet jetzt! Er darf nichts tun, was Aufmerksamkeit erregen könnte.

»Rubio.«, sagte sie warnend.

Zum Glück verstand er sofort.

Er sah zu den jungen Männern auf und antwortete freundlich: »Ich habe nichts gegen Franco. Ich kenne nur den Text nicht.«

»Aha! Dann summen wir das Lied jetzt alle gemeinsam.«

Sie standen da und warteten darauf, dass Rubio sich weigern würde.

Rubio wechselte einen Blick mit Lucia. »Bueno.«

Die Männer begannen wieder zu singen, und Rubio summte die Melodie laut mit. Lucia glaubte, seine mühsam beherrschte Spannung fast körperlich zu spüren. Das tut er deinetwegen.

Als das Lied zu Ende war, klopfte der junge Mann Rubio auf die Schulter. »Nicht schlecht, Alter. Gar nicht übel!«

Rubio saß schweigend da und versuchte, sie durch bloße Willensanstrengung zum Verschwinden zu bewegen.

Einer der Männer sah das Päckchen auf Lucias Schoß.

»Was hältst du dort versteckt, Querida?« »Wetten, dass sie unter dem Rock noch was Besseres hat?« fragte einer seiner Freunde.

Die Männer lachten.

»Warum ziehst du nicht deine Unterhose aus und zeigst uns, was darunter steckt?«

Rubio sprang auf, bekam einen der Männer an der Kehle zu fassen und stieß ihn so heftig zurück, dass er gegen einen Tisch flog, der polternd umkippte.

»Nein!« kreischte Lucia. »Aufhören!«

Aber es war bereits zu spät. Im nächsten Augenblick war eine allgemeine Schlägerei im Gange. Eine Weinflasche krachte in die Gläser hinter der Bar. Fluchend aufeinander einprügelnde Männer machten Kleinholz aus Stühlen und Tischen. Rubio schlug zwei Angreifer bewusstlos, aber ein dritter unterlief seine Deckung und traf ihn im Magen, so dass er aufschrie.

»Rubio, wir müssen hier raus!« kreischte Lucia.

Er nickte. Er hielt sich mit beiden Händen den Unterleib. Sie drängten sich durchs Gewühl und verschwanden nach draußen.

»Wir müssen weg von hier«, sagte Lucia.

Ihren Pass bekommen Sie heute Abend. Kommen Sie nach acht Uhr wieder.

Sie musste ein Versteck finden, in dem sie bis dahin bleiben konnten. Der Teufel soll ihn holen! Warum hat er sich nicht beherrschen können?

Sie folgten der Calle Santa Maria und ließen den Lärm der Prügelei allmählich hinter sich. An der übernächsten Straßenecke ragte die große Kirche Santa Maria vor ihnen auf. Lucia lief die Treppe hinauf, riss die Eingangstür auf und warf einen Blick ins Kircheninnere. Die Kirche war menschenleer.

»Hier sind wir sicher«, stellte sie fest.

Sie betraten die halbdunkle Kirche. Rubio hielt sich noch immer den Unterleib.

»Hier können wir eine Weile ausruhen.«

»Ja.«

Als Rubio die Hände sinken ließ, quoll Blut zwischen seinen Fingern hervor.

Lucia starrte ihn entsetzt an. »Mein Gott, was ist denn passiert?«

»Ein Messer«, flüsterte Rubio. »Ein Messerstich.« Er sackte zusammen.

Lucia kniete aufgeregt neben ihm nieder. »Du darfst dich nicht bewegen, hörst du?«

Sie zog ihm das Hemd aus und drückte es gegen die Wunde, um die Blutung vielleicht dadurch zum Stehen zu bringen. Rubios Gesicht war wächsern blass.

»Du hättest dich nicht mit ihnen prügeln dürfen, Idiot!« fauchte Lucia aufgebracht.

Seine Stimme war ein undeutliches Flüstern. »Ich konnte nicht zulassen, dass sie so mit dir reden.«

Ich konnte nicht zulassen, dass sie so mit dir reden.

Lucia war gerührt wie nie zuvor. Wie oft hat dieser Mann schon sein Leben für dich aufs Spiel gesetzt? überlegte sie, während sie ihn anstarrte.

»Ich lasse dich nicht sterben!« sagte sie entschlossen. »Ich lasse dich nicht sterben!« Sie stand abrupt auf. »Ich bin sofort wieder da.«

In der Sakristei, deren Tür sich leicht aufdrücken ließ, fand Lucia Wasser und Handtücher, um Rubios Wunde zu versorgen. Sein Gesicht fühlte sich heiß an, und sein Körper war in Schweiß gebadet. Lucia legte nasse Handtücher als kalte Kompressen auf seine Stirn. Rubios Augen waren geschlossen, als schlafe er. Lucra hielt seinen Kopf in ihren Armen und sprach mit ihm. Was sie sagte, war nicht weiter wichtig. Sie redete mit ihm, um ihn am Leben zu erhalten und ihn zu zwingen, sich an seinen dünnen Lebensfaden zu klammern. Sie plapperte unaufhörlich weiter, weil sie sich davor fürchtete, auch nur eine Sekunde lang zu schweigen.

»Wir bestellen deinen Hof gemeinsam, Rubio. Ich möchte deine Mutter und deine Schwestern kennen lernen. Glaubst du, dass sie mich mögen werden? Daran liegt mir sehr, sehr viel. Und ich bin eine gute Arbeiterin, Caro. Du wirst sehen, wie fleißig ich bin. Ich habe noch nie auf einem Bauernhof gearbeitet, aber ich kann alles lernen. Wir machen den besten Hof Spaniens daraus.«

Sie verbrachte den Nachmittag damit, mit Rubio zu reden, seine fieberheiße Stirn zu kühlen und den Notverband mehrmals zu wechseln. Die Blutung war inzwischen fast zum Stehen gekommen.

»Siehst du, Caro? Du erholst dich bereits. Bald geht’s dir wieder ganz gut. Ich hab’s dir doch gesagt! Du wirst sehen, wie wunderbar unser Leben miteinander wird, Rubio. Aber du darfst bitte nicht sterben. Bitte nicht!«

Sie merkte, dass sie weinte.

Sie beobachtete, wie die nachmittäglichen Schatten länger wurden und zuletzt das ganze Kirchenschiff einhüllten. Die untergehende Sonne ließ den Himmel dunkler werden, bis es schließlich finster war. Lucia hatte Ru-bios Verband eben wieder gewechselt, als die Turmuhr scheinbar ganz in ihrer Nähe so laut zu schlagen begann, dass sie erschrak. Sie zählte mit angehaltenem Atem mit. Eins. drei. fünf. sieben. acht. Acht Uhr. Die Glocke rief sie, um sie daran zu erinnern, dass es Zeit war, ins Leihhaus zurückzugehen. Dass es Zeit wurde, diesem Alptraum zu entkommen und sich zu retten.

Sie kniete neben Rubio nieder und legte ihm erneut eine Hand auf die Stirn. Er hatte hohes Fieber. Sein Körper war schweißnass, und er atmete flach und keuchend. Sie sah kein frisches Blut mehr, aber das konnte bedeuten, dass er innere Blutungen hatte. Verdammt noch mal, du musst dich selbst retten, Lucia!

»Rubio. Liebster.«

Er schlug die Augen auf, war aber offenbar nur halb bei Bewusstsein.

»Ich muss für eine Weile fort«, sagte Lucia.

Er umklammerte ihre Hand. »Bitte.«

»Keine Angst«, flüsterte sie, »ich komme bald wieder.«

Lucia stand auf und warf ihm einen langen Abschiedsblick zu. Du kannst ihm nicht helfen, dachte sie.

Sie griff nach dem goldenen Kruzifix, wandte sich ab und hastete mit Tränen in den Augen aus der Kirche. Sie stolperte auf die Straße hinaus und ging rasch in Richtung Leihhaus davon. Dort warteten der Pfandleiher und sein Verwandter mit ihrem Reisepass in die Freiheit auf sie. Morgen vor der Frühmesse finden sie Rubio und holen einen Arzt. Er kommt ins Krankenhaus und wird wieder gesund. Allerdings überlebt er diese Nacht wahrscheinlich nicht, dachte Lucia. Aber das ist nicht dein Problem.

Vor ihr lag die Casa de Empenos. Lucia hatte sich nur ein paar Minuten verspätet. Sie sah, dass in dem kleinen Laden noch Licht brannte. Die beiden Männer warteten auf sie.

Sie begann, schneller zu gehen, sogar zu rennen. Sie überquerte die Straße und stürzte durch die offene Tür.

In der Polizeistation saß ein uniformierter Beamter hinter dem Schreibtisch des Wachhabenden. Er sah auf, als Lucia schweratmend vor ihm stehen blieb.

»Ich brauche Sie!« rief Lucia aus. »Bei einer Messerstecherei ist ein Mann verletzt worden! Er liegt vielleicht im Sterben!«

Der Polizeibeamte stellte keine Fragen. Er griff nach einem Telefonhörer, sprach kurz hinein und legte wieder auf. »Meine Kollegen kommen sofort«, versicherte er Lucia.

Sekunden später erschienen zwei Kriminalbeamte.

»Bei einer Messerstecherei ist ein Mann verletzt worden, Senorita?«

»Ja, kommen Sie bitte mit! Schnell!«

»Wir holen erst den Arzt«, schlug einer der Kriminalbeamten vor. »Danach können Sie uns zu Ihrem Freund bringen.«

Sie trafen den Arzt in seinem Haus an, nahmen ihn mit, und Lucia fuhr mit den drei Männern zur Kirche zurück.

In der Kirche kniete der Arzt neben der reglosen Gestalt auf dem Steinboden nieder und untersuchte Rubio im Licht einer Taschenlampe.

Einen Augenblick später sah er auf. »Er lebt noch, aber nur mit knapper Not. Ich lasse einen Krankenwagen kommen.«

Lucia sank auf die Knie und betete stumm: Gott, ich danke dir! Ich habe getan, was ich konnte. Lass mich jetzt noch entkommen, dann belästige ich dich nie wieder.

Einer der Kriminalbeamten hatte Lucia schon auf der Fahrt zur Kirche immer wieder gemustert. Sie kam ihm so bekannt vor. Und jetzt wusste er plötzlich, weshalb. Sie sah einem Fahndungsfoto auf der roten, der wichtigsten Interpol-Fahndungsliste verdammt ähnlich!

Der Beamte flüsterte seinem Kollegen etwas zu, worauf der zweite Mann sie ebenfalls anstarrte. Dann kamen die beiden Männer auf Lucia zu.

»Entschuldigung, Senorita, aber würden Sie uns zur Station zurück begleiten? Wir müssen Ihnen noch einige Fragen stellen.«

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