»Bewahre mich, Gott, denn ich traue auf dich. Herzlich lieb habe ich dich, Herr, meine Stärke! Herr, mein Fels, meine Burg, mein Erretter, mein Gott, mein Hort, auf den ich traue, mein Schild und Horn meines Heils und mein Schutz! Ich rufe an den Herrn, den Hochgelobten, so werde ich von meinen Feinden erlöst.«
Schwester Megan sah auf und stellte fest, dass Felix Carpio sie mit besorgter Miene beobachtete.
Sie hat wirklich Angst, dachte er.
Seitdem ihr langer Marsch begonnen hatte, war ihm Schwester Megans tiefe Besorgnis aufgefallen. Dass sie die empfindet, ist ganz natürlich. Sie ist so lange hinter Klostermauern eingesperrt gewesen - und jetzt muss sie sich plötzlich in einer erschreckend fremdartigen Welt zurechtfinden. Wir müssen sehr behutsam mit dem armen Mädchen umgehen.
Schwester Megan hatte tatsächlich Angst. Seitdem sie das Kloster verlassen hatte, betete sie jeden Tag eifrig.
Vergib mir, o Herr, denn ich liebe die aufregenden neuen Erlebnisse und weiß, dass das schlecht von mir ist.
Das Bewusstsein, dass dies das aufregendste Abenteuer ihres Lebens war, ließ sich jedoch nicht unterdrücken, so eifrig Schwester Megan auch betete. Im Waisenhaus hatte sie oft von tollkühnen Fluchtunternehmen geträumt, aber das waren Kinderspiele gewesen. Dies war die Wirklichkeit. Sie befand sich in der Gewalt von Terroristen, und sie wurden von Polizei und Militär gejagt. Anstatt in tausend Ängsten zu schweben, fühlte Schwester Megan sich seltsam angeregt.
Sie waren die ganze Nacht unterwegs gewesen und rasteten bei Tagesanbruch. Megan und Amparo standen hinter Jaime und Felix, die anhand einer ausgebreiteten Karte über die weitere Route berieten.
»Nach Salamanca sind’s acht Kilometer«, sagte Jaime Miro.
»Am besten umgehen wir die Stadt. Dort ist Militär stationiert. Wir biegen nach Nordwesten in Richtung Valladolid ab. Das müssten wir am frühen Nachmittag erreichen.«
Mühelos, dachte Schwester Megan zufrieden.
Hinter ihnen lag eine lange, anstrengende Nacht ohne Ruhepause, aber Megan fühlte sich wundervoll. Jaime hatte das Marschtempo der Gruppe absichtlich verschärft. Megan wusste, dass er sie damit auf die Probe stellen wollte, um zu sehen, wann sie schlappmachen würde. Er wird sein blaues Wunder erleben! dachte Megan.
Tatsächlich fand Jaime Miro sie unterdessen eigenartig interessant. Schwester Megan benahm sich ganz und gar nicht wie eine Nonne. Sie war weit von ihrem Kloster entfernt, zog durch unbekannte Gegenden, wurde von Bewaffneten verfolgt - und schien sogar Spaß daran zu haben. Was für eine Nonne ist sie bloß? fragte Jaime sich.
Amparo Jiron war weniger beeindruckt. Ich bin froh, wenn wir sie wieder vom Hals haben, dachte sie. Bis dahin blieb sie in Jaimes Nähe und ließ die Nonne neben Felix Carpio gehen.
Die Landschaft unter dem zart duftenden Hauch des Sommerwindes war wild und schön. Sie kamen an alten Dörfern vorbei, von denen einige unbewohnt und verlassen waren, und sahen hoch auf einem Hügel eine alte Burgruine.
Amparo erschien Megan wie ein Wildtier, das mühelos über Berg und Tal streifte und keine Ermattung zu kennen schien.
Als viele Stunden später Valladolid in der Ferne aufragte, machte Jaime halt.
Er wandte sich an Felix. »Ist alles vorbereitet?«
»Ja.«
Megan fragte sich, was vorbereitet sein sollte. Aber das erfuhr sie gleich.
»Tomas hat Anweisung, in der Stierkampfarena mit uns Verbindung aufzunehmen.«
»Wann schließt die Bank?«
»Um siebzehn Uhr. Wir haben reichlich Zeit.«
Jaime nickte. »Und heute dürfte der Kassenbestand ziemlich hoch sein.«
Großer Gott, sie wollen eine Bank überfallen! dachte Megan. Das versprach mehr Aufregung, als sie sich gewünscht hatte.
»Wie steht’s mit einem Wagen?« erkundigte Amparo sich.
»Kein Problem«, versicherte Jaime ihr.
Sie wollen ein Auto stehlen, dachte Megan. Das wird Gott nicht gefallen.
»Wir tauchen in der Menge unter«, sagte Jaime, als die Gruppe die Außenbezirke von Valladolid erreichte. »Heute ist Stierkampftag, da sind Tausende unterwegs. Aber passt auf, dass wir nicht getrennt werden.«
Was die Menschenmassen betraf, behielt Jaime Miro recht. Megan hatte noch nie so viele Menschen auf einmal gesehen. Auf den Straßen drängten sich Autos, Fußgänger und Motorradfahrer, denn der Stierkampf zog nicht nur Touristen, sondern auch die Einwohner umliegender Städte an. Selbst die Kinder auf der Straße spielten Stierkampf.
Megan fand das Gedränge, den Lärm und das bunte Treiben um sie herum faszinierend. Sie blickte in die Gesichter von Passanten und fragte sich, wie ihr Leben verlaufen mochte. Ich bin bald genug wieder im Kloster, wo ich niemanden ansehen darf. Deshalb muss ich diese Gelegenheit nutzen, solange ich kann.
Die Gehsteige, über denen Öldunst aus zahlreichen Ständen lag, die frittierte Obstschnitten verkauften, füllten sich mit Straßenhändlern, die Andenken, geweihte Medaillen und Kreuzchen an Silberketten anboten.
Megan merkte plötzlich, wie hungrig sie war.
»Jaime, wir sind alle hungrig«, sagte Felix wenig später. »Wenn ihr einen Augenblick wartet, hole ich uns was.«
Felix kaufte vier frittierte Obstschnitten und gab eine davon Megan. »Versuchen Sie die mal, Schwester. Die wird Ihnen schmecken.«
Und sie schmeckte köstlich! Die karge Klosterkost war nie ein Genuss, sondern stets nur Mittel zum Zweck gewesen, um die Nonnen zum Ruhme Gottes bei Kräften zu halten. Das ist endlich das Richtige für mich, dachte Me-gan respektlos.
»Dort vorn geht’s zur Arena«, sagte Jaime.
Sie ließen sich von der Menge am Park in der Stadtmitte vorbei zur Plaza Pinente schieben, die in die Plaza de Toros überging. Die Stierkampfarena selbst befand sich in einem riesigen dreigeschossigen Bau aus luftgetrockneten Ziegeln. Auf beiden Seiten des Eingangs waren je zwei Kassenschalter geöffnet. Über den linken stand Sol, über den rechten Sombra - Sonne oder Schatten. Vor den Kassen warteten Hunderte von Zuschauern, um Eintrittskarten zu kaufen.
»Ihr bleibt hier«, wies Jaime die anderen an.
Sie beobachteten, wie er zu den fünf oder sechs Schwarzhändlern hinüberging, die ebenfalls Karten anboten.
Megan wandte sich an Felix. »Sehen wir uns einen Stierkampf an?«
»Ja, aber Sie brauchen sich deswegen keine Sorgen zu machen, Schwester«, versicherte Felix ihr. »Sie werden sehen, wie aufregend er ist.«
Sorgen? Megan fand diesen Gedanken aufregend! Im Waisenhaus hatte sie manchmal davon geträumt, ihr Vater sei ein berühmter Torero, und sämtliche Stierkampfbücher verschlungen, die ihr in die Hände gefallen waren.
»Die richtigen Stierkämpfe finden in Madrid oder Barcelona statt«, fuhr Felix fort. »Hier treten keine Profis, sondern Novilleros an. Das sind Amateure, die’s noch weit zur Alternativa haben.«
Megan wusste, dass die Alternativa eine den berühmtesten Matadoren vorbehaltene Auszeichnung war.
»Die Toreros, die wir heute sehen, kämpfen in Mietkostümen gegen Stiere mit zu gefeilten, gefährlichen Hörnern, gegen die kein Profi antreten würde.«
»Weshalb tun sie das?«
Felix Carpio zuckte mit den Schultern. »Mas cornadas da el hambre. Hunger ist schmerzlicher als die Hörner.«
Jaime Miro kam mit vier Eintrittskarten zurück. »Kommt, wir gehen gleich rein«, sagte er.
Megan spürte, wie wachsende Erregung von ihr Besitz ergriff.
Auf dem Weg zu ihrem Eingang kamen sie an einem an die Außenwand der riesigen Stierkampfarena geklebten Plakat vorbei. Megan blieb stehen und starrte es an.
»Seht nur!«
Das Fahndungsplakat zeigte Jaime Miro und enthielt außer seiner Personenbeschreibung folgenden Text: Wegen mehrfachen Mordes gesucht: Jaime Miro - 500000 Ptas. Belohnung für Hinweise, die zu seiner Ergreifung führen! Als Megan das las, wurde ihr plötzlich wieder ernüchternd klar, dass sie mit einem Terroristen unterwegs war, der ihr Leben in seinen Händen hielt.
Jaime musterte sein Bild kritisch. »Nicht schlecht getroffen.« Er riss das Fahndungsplakat ab, faltete es zusammen und steckte es ein.
»Was hast du davon?« fragte Amparo ihn. »Wahrscheinlich sind Hunderte solcher Plakate aufgehängt worden.«
Jaime grinste. »Aber das hier bringt uns ein Vermögen ein, Querida.«
Welch seltsame Antwort! dachte Megan. Sie musste seine Gelassenheit widerstrebend anerkennen. Jaime Miro wirkte in jeder Lage unerschütterlich kompetent. Polizei und Militär werden ihn nie schnappen, sagte sie sich.
»Kommt, wir gehen rein.«
Zwölf in großen Abständen angeordnete Eingänge, deren nummerierte rote Eisentüren weit geöffnet worden waren, führten in die Arena. Unmittelbar dahinter befanden sich Puestos, an denen Coca-Cola und Bier verkauft wurde, und kleine Toiletten. Die steinernen Tribünen, auf denen alle Reihen und Sitze nummeriert waren, bildeten einen vollständigen Kreis um die mit Sand bestreute große Arena. Über all standen Werbetafeln: Banco Central... Boutique Calzados... Schweppes... Radio Popu-lar...
Jaime hatte Karten für Sitze im Schatten gekauft. Während sie auf den Steinsitzen Platz nahmen, sah Megan sich verwundert um. Diese Stierkampfarena entsprach ganz und gar nicht ihren Vorstellungen. Als Mädchen hatte sie romantische Farbfotos der riesigen, prunkvollen Madrider Arena gesehen. Im Gegensatz dazu wirkte die Arena in Valladolid eher primitiv. Sie füllte sich jetzt rasch mit Zuschauern.
Ein Trompetensignal erklang. Der Stierkampf begann.
Megan beugte sich mit weit aufgerissenen Augen nach vorn. Ein riesiger Stier stürmte in die Arena, und ein Matador trat hinter der seitlichen kleinen Holzbarriere hervor und begann, das Tier zu reizen.
»Als nächstes kommen die Pikadore«, sagte Megan aufgeregt.
Jaime Miro starrte sie verwundert an. Er hatte befürchtet, ihr werde beim Stierkampf übel werden, was unerwünschte Aufmerksamkeit erregen konnte. Stattdessen schien Megan Gefallen daran zu finden. Merkwürdig.
Ein Pikador auf einem durch eine schwere gepolsterte Decke geschützten Pferd ritt an den Stier heran. Der Stier griff mit gesenktem Kopf an, und als er seine Hörner in die Decke bohrte, stieß der Pikador ihm seine Zweimeterlanze in die Schulter.
Megan verfolgte die Vorgänge in der Arena sichtlich fasziniert. »Das tut er, um die Nackenmuskeln des Stiers zu schwächen«, erklärte sie dem neben ihr sitzenden Felix, indem sie sich an all die Bücher erinnerte, die sie vor vielen Jahren verschlungen hatte.
Felix Carpio nickte erstaunt. »Richtig, Schwester«, bestätigte er.
Megan beobachtete, wie mit farbigen Bändern geschmückte Banderillas paarweise in die Schultern des Stiers gestoßen wurden.
Nun war der Matador an der Reihe. Er trat mit einem um seinen Degen gewickelten roten Cape in die Arena. Der Stier warf sich herum und griff an.
Megan wurde noch aufgeregter. »Jetzt führt er seine Figuren vor«, sagte sie. »Zuerst die Pase veronica, dann die Media veronica und zuletzt die Rebolera.«
Jaime konnte seine Neugier nicht länger im Zaum halten. »Schwester, woher wissen Sie das alles?«
»Mein Vater ist Stierkämpfer gewesen«, behauptete Megan impulsiv. »Seht nur!«
Der Kampf entwickelte sich so rasch, dass Megan kaum mitkam. Der gereizte Stier stürmte immer wieder auf den Matador los, der jedes Mal sein rotes Cape zur Seite schwenkte und ihn damit von sich ablenkte.
Megan runzelte besorgt die Stirn. »Was ist, wenn der Matador verletzt wird?«
Jaime zuckte mit den Schultern. »In einem Nest wie diesem wird er wahrscheinlich zum Stadtbarbier gebracht, der ihn wieder zusammenflickt.«
Beim nächsten Angriff brachte der Matador sich durch einen Sprung zur Seite in Sicherheit, was von den Zuschauern mit Buhrufen quittiert wurde.
»Schade, dass Sie keinen besseren Kampf sehen, Schwester«, sagte Felix entschuldigend. »Sie sollten einen der Großen erleben! Ich habe Manolete, el Cordobez und Ordonez gesehen. Sie haben den Stierkampf zu einem unvergesslichen Schauspiel gemacht.«
»Ich habe von ihnen gelesen«, bestätigte Megan.
»Kennen Sie die verrückte Geschichte, die über Mano-lete erzählt wird?« fragte Felix.
»Welche Geschichte?«
»Anfangs, so wird erzählt, ist Manolete nur ein gewöhnlicher Stierkämpfer gewesen - nicht besser und nicht schlechter als hundert andere auch. Er war mit einem schönen Mädchen verlobt, aber eines Tages hat ihm ein Stier die Hörner in den Unterleib gebohrt, und sein Arzt hat ihm erklärt, er könne nun keine Kinder mehr zeugen. Manolete hat seine Verlobte so geliebt, dass er ihr diesen Befund verschwiegen hat, weil er fürchtete, sie würde ihn dann nicht mehr wollen. Die beiden haben geheiratet, und nach ein paar Monaten hat sie Manolete stolz mitgeteilt, sie erwarte ein Baby. Nun, er hat natürlich gewusst, dass das nicht sein Kind sein konnte, und sie deshalb verlassen. Die Ärmste hat daraufhin Selbstmord begangen.
Manolete hat wie ein Verrückter reagiert. Er wollte nicht mehr weiterleben, deshalb hat er in der Arena Dinge gewagt wie noch kein Matador vor ihm. Er hat sein Leben aufs Spiel gesetzt, weil er den Tod gesucht hat, und ist der größte Matador der Welt geworden. Zwei Jahre danach hat er sich wieder verliebt und das Mädchen geheiratet. Wenige Monate später hat sie ihm stolz mitgeteilt, sie erwarte ein Baby. Und bei dieser Gelegenheit hat Manolete dann entdeckt, dass sein Arzt sich geirrt hatte.«
»Wie schrecklich!« rief Megan aus.
Jaime lachte laut. »Eine interessante Geschichte! Ob was Wahres dran ist?«
»Warum nicht?« fragte Felix.
Amparo hörte mit ausdrucksloser Miene zu. Sie hatte Jaimes wachsendes Interesse an der Nonne verärgert registriert. Die Schwester soll sich lieber vorsehen.
Essenverkäufer mit vorgebundenen Schürzen stiegen die Tribüne hinauf und hinunter und riefen ihre Ware aus. Einer von ihnen näherte sich der Reihe, in der Jaime Miro und die anderen saßen.
»Empanadas!« rief er laut. »Heiße Empanadas!«
Jaime hob eine Hand. »Aqui!«
Der Verkäufer warf ihm das in Papier gewickelte Päckchen geschickt über die Köpfe der Menge zu. Jaime gab seinem Nachbarn zehn Peseten, um sie an den Verkäufer weiterreichen zu lassen. Megan beobachtete, wie Jaime sich die eingewickelte Empenada auf die Knie legte und sie langsam auspackte. Unter dem Einwickelpapier steckte ein Zettel. Jaime las ihn zweimal, und Megan sah, wie sein Gesichtsausdruck sich dabei verhärtete.
Jaime steckte den Zettel ein. »Wir gehen«, sagte er knapp.
»Einer nach dem anderen.« Er nickte Amparo zu. »Du als erste. Wir treffen uns am Ausgang.«
Amparo Jiron stand wortlos auf und machte sich auf den Weg die Sitzreihe entlang.
Jaime gab Felix ein Zeichen. Felix stand auf und folgte Amparo.
»Was ist los?« wollte Megan wissen. Stimmt was nicht?
»Wir müssen nach Logrono.« Er stand auf. »Beobachten Sie mich, Schwester. Werde ich nicht angehalten, kommen Sie uns zum Ausgang nach.«
Megan verfolgte mit angehaltenem Atem, wie Jaime den Abgang erreichte und in Richtung Ausgang verschwand. Niemand schien auf ihn zu achten. Sobald er außer Sicht war, stand sie ebenfalls auf und machte sich auf den Weg. In diesem Augenblick schrie die Menge auf, und sie drehte sich nach der Arena um. Ein junger Matador lag, von den Hörnern des blindwütigen Stiers durchbohrt, blutend im Sand. Megan schloss die Augen und schickte ein stummes Stoßgebet gen Himmel: Jesus, meine Zuversicht, erbarme dich dieses Ärmsten! Er soll nicht sterben, sondern leben. Der Herr hat ihn hart gestraft, aber nicht dem Tod überantwortet. Amen.
Sie öffnete die Augen, wandte sich ab und hastete weiter.
Jaime, Amparo und Felix erwarteten sie am Ausgang.
»Los, wir haben’s eilig!« drängte Jaime.
Sie setzten sich in Bewegung.
»Was ist passiert?« erkundigte Felix sich.
»Tomas ist von Soldaten erschossen worden«, antwortete Jaime hörbar betroffen. »Und die Polizei hat Rubio geschnappt - nachdem er in einer Bar bei einer Messerstecherei Verletzt worden ist.«
Megan bekreuzigte sich. »Was ist mit Schwester Lucia und Schwester Teresa?« fragte sie besorgt.
»Keine Ahnung.« Jaime wandte sich an die anderen. »Wir müssen uns beeilen.« Er sah auf seine Armbanduhr. »In der Bank dürfte jetzt ziemlich viel Betrieb sein.«
»Vielleicht sollten wir lieber noch warten, Jaime«, meinte Felix »Zu zweit ist ein Überfall um diese Zeit verdammt gefährlich.«
Das wird ihn nicht daran hindern, dachte Megan. Und sie behielt recht.
Die drei anderen hasteten auf den riesigen Parkplatz hinter der Stierkampfarena voraus. Als Megan sie einholte, begutachtete Felix dort eine blaue Seat-Limousine.
»Das ist der richtige Wagen für uns«, meinte er.
Felix knackte das Schloss mit einigen geübten Handgriffen und öffnete die Autotür. Sein Kopf verschwand unter dem Lenkrad.
Sekunden später sprang der Motor an.
»Steigt ein«, forderte Jaime die beiden Frauen auf.
Megan blieb unschlüssig stehen. »Sie stehlen diesen Wagen?«
»Verdammt noch mal«, fauchte Amparo, »hör auf, dich wie ‘ne Nonne zu benehmen, und steig ein!«
Die beiden Männer - Jaime am Steuer - saßen bereits vorn.
Amparo stieg rasch hinten ein.
»Kommen Sie nun mit oder nicht?« fragte Jaime.
Megan holte tief Luft und setzte sich neben Amparo. Das Auto fuhr an. Sie schloss die Augen. O Herr, wohin führst du mich?
»Damit Ihnen wohler ist, Schwester«, sagte Jaime, »können Sie sich ja vorstellen, dass wir dieses Auto nicht gestohlen, sondern für die baskische Armee beschlagnahmt haben.«
Megan wollte etwas sagen, schwieg dann aber, weil sie wusste, dass es ihr nicht gelingen würde, Jaime Miro umzustimmen. Sie saß schweigend auf dem Rücksitz, während Jaime in Richtung Stadtmitte fuhr.
Er will eine Bank überlallen, dachte Megan, und ich bin in den Augen Gottes ebenso schuldig wie er. Sie bekreuzigte sich und begann stumm zu beten.
Die Banco de Bilbao hat ihre Geschäftsräume im Erdgeschoß eines achtstöckigen Wohngebäudes in der Calle de Cervantes an der Plaza de Cinular.
»Du lässt den Motor laufen«, wies Jaime Felix an, als ihr Wagen vor dem Gebäude hielt. »Sollte es Schwierigkeiten geben, fährst du los und triefst dich wie vereinbart mit den anderen in Logrono.«
Felix starrte ihn verblüfft an. »He, wovon redest du überhaupt? Willst du etwa allein reingehen? Das darfst du nicht! Allein hast du keine Chance, Jaime. Das ist viel zu gefährlich!«
Jaime schlug ihm auf die Schulter. »Wird schon schief gehen«, meinte er grinsend und stieg aus.
Sie beobachteten, wie Jaime ein Ledergeschäft neben der Bank betrat. Kurze Zeit später kam er mit einem Aktenkoffer in der Hand heraus, nickte ihnen zu und verschwand im Bankgebäude.
Megan konnte kaum atmen. Sie begann zu beten:
Beten ist ein Rufen.
Beten ist ein Hören.
Beten ist ein Bleiben.
Beten ist eine Gegenwart.
Beten ist eine Lampe,
die mit dem Feuer Jesu brennt.
Ich bin ruhig und voller Frieden.
Sie war nicht ruhig und voller Frieden.
Jaime Miro betrat die mit Marmor ausgekleidete Schalterhalle hinter den beiden gläsernen Flügeltüren. An der Wand darüber fiel ihm eine Überwachungskamera auf. Nach einem kurzen Blick in die Kamera inspizierte er gelassen die Halle. Hinter den Schaltern führte eine Treppe in den ersten Stock, in dem Bankangestellte an Schreibtischen arbeiteten. Kurz vor Schalterschluss war die Halle voller Kunden, die noch rasch ihre Geschäfte abwickeln wollten. Vor den drei Kassenschaltern hatten sich Schlangen gebildet.
Jaime reihte sich in eine der Schlangen ein und wartete geduldig, bis er an die Reihe kam.
»Buenas tardes«, sagte er freundlich lächelnd, als er den Kassenschalter erreichte.
»Buenas tardes, Senor. Was können wir heute für Sie tun?«
Jaime lehnte sich an den Schalter und zog das zusammengefaltete Fahndungsplakat aus der Tasche. Er hielt es dem Kassierer hin. »Sehen Sie sich das bitte mal an.«
Der Kassierer lächelte. »Gern, Senor.«
Er faltete das Plakat auseinander. Als er merkte, worum es sich handelte, riss er erschrocken die Augen auf. Aus dem Blick, den er Jaime Miro zuwarf, sprach nackte Angst.
»Nicht übel getroffen, was?« fragte Jaime halblaut. »Wie Sie selbst sehen, habe ich schon viele Leute umgebracht, so dass einer mehr mich nicht weiter belasten würde. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?«
»V-v-völlig klar, Senor. V-v-völlig! Ich bin Familienvater, Senor, und flehe Sie an.«
»Ich achte Familien, deshalb will ich Ihnen sagen, was Sie tun müssen, um Ihren Kindern den Vater zu erhalten.« Jaime schob dem Kassierer den vorhin gekauften Aktenkoffer zu. »Ich möchte, dass Sie ihn mir voller Scheine packen. Und ich verlange, dass Sie’s leise und schnell tun. Sollten Sie jedoch wirklich glauben, dass das Geld wichtiger als Ihr Leben ist, können Sie ruhig die Alarmanlage betätigen.«
Der Kassierer schüttelte den Kopf. »Nein, nein, das tue ich bestimmt nicht!«
Er holte Geldscheinbündel aus seiner Schublade und packte sie mit zitternden Händen in den Aktenkoffer.
»Bitte sehr, Senor«, sagte der Kassierer, als der Aktenkoffer voll war. »Ich. ich verspreche Ihnen, keinen Alarm auszulösen.«
»Sehr klug von Ihnen«, bestätigte Jaime. »Ich will Ihnen auch sagen, weshalb, Amigo.« Er drehte sich um und nickte zu einer Mittvierzigerin hinüber, die mit einer Tragtüte in der Hand fast am Ende seiner Schlange stand. »Sehen Sie die Frau in dem blauen Kleid? Sie ist eine von uns. In der Tragtasche hat sie eine Bombe, die sie sofort zündet, falls Alarm gegeben wird.«
Der Kassierer wurde noch blasser. »Bitte nicht!«
»Nachdem sie die Bank verlassen hat, warten Sie noch zehn Minuten, bevor Sie auf Ihren Knopf drücken«, wies Jaime ihn an.
»Beim Leben meiner Kinder«, flüsterte der Mann hinter dem Schalter.
»Buenas tardes.«
Jaime griff nach dem Aktenkoffer und durchquerte damit die Schalterhalle in Richtung Ausgang. Da er den Blick des Kassierers zwischen seinen Schultern spürte, blieb er neben der Frau in Blau stehen.
»Ich muss Ihnen ein Kompliment machen«, sagte er charmant lächelnd. »Dieses Kleid steht Ihnen ausnehmend gut.«
Sie errötete leicht. »O Senor. vielen Dank!«
»Bitte, nichts zu danken.«
Jaime drehte sich um und nickte dem Kassierer zu, bevor er in aller Ruhe die Schalterhalle verließ. Bis die Frau erledigt hatte, was sie zu besorgen hatte, und ebenfalls ging, verstrich mindestens eine Viertelstunde. Bis dahin waren er und die anderen längst über alle Berge.
Als Jaime Miro aus der Bank trat und auf den Wagen zukam, wäre Megan vor Erleichterung fast ohnmächtig geworden.
Felix Carpio grinste. »Der Schweinehund hat’s geschafft!« Er drehte sich nach Megan um. »Entschuldigung, Schwester.«
Megan war überglücklich, Jaime zurückkommen zu sehen. Er hat ’s geschafft! dachte sie. Und ganz ohne fremde Hilfe! Die Schwestern werden staunen, wenn ich ihnen davon erzähle! Im nächsten Augenblick fiel ihr jedoch ein, dass sie niemandem davon würde erzählen können. Nach ihrer Rückkehr ins Kloster würde sie für den Rest ihres Lebens schweigen. Das war ein seltsames Gefühl.
»Rutsch rüber und lass mich fahren, Amigo«, sagte Jaime zu Felix. Er warf seinen Aktenkoffer auf den Rücksitz.
»Hat alles geklappt?« erkundigte Amparo sich.
Jaime lachte. »Problemlos. Ich muss daran denken, mich bei Oberst Acoca für seine Visitenkarte zu bedanken.«
Sie fuhren los. Gleich an der ersten Ecke bog Jaime nach links in die Calle de Tudela ab. Schon nach zehn Metern trat jedoch ein Polizeibeamter zwischen zwei parkenden Wagen auf die Fahrbahn und hob gebieterisch die Hand. Megans Herz begann zu jagen, als Jaime bremsen musste.
Der Uniformierte kam auf den Seat zu.
»Was gibt’s denn?« erkundigte Jaime sich gelassen.
»Wissen Sie eigentlich, dass Sie in Gegenrichtung durch eine Einbahnstraße fahren, Senor? Falls Sie nicht beweisen können, dass Sie blind sind, kommt Sie das teuer zu stehen.« Er deutete auf das Einbahnstraßenschild an der Ecke. »Diese Straße ist klar bezeichnet. Von Autofahrern wird erwartet, dass sie Verkehrszeichen beachten. Deshalb werden sie schließlich aufgestellt.«
»Ich bitte tausendmal um Entschuldigung«, antwortete Jaime. »Meine Freunde und ich haben so angeregt diskutiert, dass ich das Schild glatt übersehen habe.«
Der Polizeibeamte bückte sich, um durchs Fahrerfenster sehen zu können. Er kniff die Augen zusammen, während er Jaime Miro betrachtete.
»Ihren Zulassungsschein, Senor«, verlangte er dann.
»Sofort«, sagte Jaime.
Er griff in die Innentasche seiner Jacke, in der seine Pistole steckte. Auch Felix war zum Eingreifen bereit. Megan hielt den Atem an.
Jaime gab vor, seine Jackentaschen zu durchsuchen. »Ich weiß, dass ich ihn irgendwo habe.«
In diesem Augenblick ertönten hinter ihnen laute Schreie, und der Polizeibeamte drehte sich sofort nach ihnen um. An der Straßenecke schlug ein Mann auf eine kreischende Frau ein.
»Hilfe!« rief sie. »Helft mir doch! Er bringt mich um!«
Der Uniformierte zögerte nicht lange. »Sie warten hier, Senor!« wies er Jaime Miro an.
Dann trabte er die Straße entlang auf den Mann und die Frau zu.
Jaime legte den ersten Gang ein, ließ die Kupplung kommen und gab Gas. Der Seat schoss in falscher Richtung die Einbahnstraße hinunter, zwang entgegenkommende Fahrzeuge zum Ausweichen und wurde wütend angehupt. An der nächsten Ecke bog Jaime erneut ab und fuhr zu der Brücke weiter, die auf der Avenida Sanchez Arjona stadtauswärts führte.
Megan starrte Jaime an und bekreuzigte sich. Sie konnte kaum atmen.
»Hätten Sie. hätten Sie den Polizeibeamten erschossen, wenn dieser Mann nicht die Frau verprügelt hätte?«
Jaime würdigte sie keiner Antwort.
»Die Frau ist nicht wirklich angegriffen worden, Schwester«, erklärte Felix ihr. »Die beiden haben zu unseren Leuten gehört. Wir sind nicht allein. Wir haben viele Freunde.«
Jaime machte ein grimmiges Gesicht. »Wir müssen dieses Auto loswerden.«
Sie befanden sich in den Außenbezirken von Valladolid. Um nach Logrono zu kommen, bog Jaime auf die Straße N 620 nach Burgos ab. Er achtete darauf, die zulässige Höchstgeschwindigkeit nicht zu überschreiten.
»Irgendwo hinter Burgos besorgen wir uns einen anderen Wagen«, verkündete er.
Unglaublich, was ich alles erlebe! dachte Megan. Ich musste aus dem Kloster fliehen, bin auf der Flucht vor Polizei und Militär und fahre mit Terroristen, die vorhin eine Bank überfallen haben, in einem gestohlenen Wagen. Herr, was hast du noch mit mir vor?