Eze, Südfrankreich 1924
Schon als Achtjährige verdankte Teresa de Fosse der Kirche den größten Teil ihres Glücks.
Der Glaube glich einer heiligen Flamme, von deren Wärme die Kleine sich angezogen fühlte. Sie betete in der Chapelle des Penitents Blancs, der Kathedrale von Monaco und der Kirche Notre Dame Bon Voyage in Nizza, aber meistens besuchte sie die Gottesdienste in der Kirche in Eze.
Teresa lebte in einem Schloss auf einem Hügel über dem mittelalterlichen Dorf Eze, das bei Monte Carlo hoch über dem Mittelmeer lag.
Eze war auf einer Felsklippe erbaut, und Teresa hatte manchmal das Gefühl, von dort aus die ganze Welt überblicken zu können. Am höchsten Punkt des Dorfes stand ein Mönchskloster, von dem aus die Häuserzeilen sich hangabwärts bis hinunter ans blaue Mittelmeer ergossen.
Monique - ein Jahr jünger als Teresa - war die Schönheit der Familie. Schon als Kind war ihr anzusehen, dass sie eines Tages eine sehr attraktive Frau werden würde. Sie hatte ein fein geschnittenes Gesicht mit strahlendblauen Augen und besaß die zu ihrem Aussehen passende ungezwungene Selbstsicherheit.
Teresa war das hässliche Entlein der Familie. Tatsächlich genierten die de Fosses sich wegen ihrer älteren Tochter. Wäre Teresa im herkömmlichen Sinn hässlich gewesen, hätten ihre Eltern sie vielleicht zu einem Schönheitschirurgen geschickt, um ihre Nase verkleinern, das Kinn vergrößern oder die Lider korrigieren zu lassen.
Das Problem bestand jedoch daraus, dass sämtliche Gesichtszüge Teresas ein bisschen aus dem Lot geraten zu sein schienen. Nichts war am richtigen Platz - als sei sie eine ständig lachende Komödiantin.
Wie als Ausgleich dafür hatte Gott Teresa mit einer engelsgleichen Stimme gesegnet, mit der sie zum ersten Mal aufgefallen war, als sie im Kirchenchor gesungen hatte. Die Gemeindemitglieder hatten staunend vernommen, wie rein und klar dieses kleine Mädchen sang. Und Teresas Stimme wurde mit zunehmendem Alter noch besser. Sie durfte in der Kirche alle Solopartien singen und fühlte sich deshalb dort gut aufgehoben. Außerhalb der Kirche war Teresa jedoch wegen ihres Aussehens ungewöhnlich schüchtern.
In der Schule hatte nur Monique Freunde. Jungen wie Mädchen umringten sie ständig. Sie wollten mit ihr spielen, mit ihr gesehen werden. Monique wurde auf alle Partys eingeladen. Auch Teresa erhielt Einladungen -aber erst im nachhinein, als gesellschaftliche Pflichtübung, wie ihr schmerzhaft bewusst war.
»Nein, Renee, du kannst die De-Fosse-Mädchen nur gemeinsam einladen. Alles andere wäre unhöflich.«
Monique schämte sich wegen ihrer hässlichen Schwester. Sie hatte das Gefühl, dadurch irgendwie herabgesetzt zu werden.
Teresas Eltern behandelten ihre ältere Tochter stets anständig. Sie erfüllten ihre elterlichen Pflichten sorgsam -aber sie ließen zugleich deutlich erkennen, dass Monique ihr Liebling war. Etwas, wonach Teresa sich sehnte, blieb ihr immer versagt: Liebe.
Sie war ein braves Kind, willig und anpassungsfähig und eine gute, fleißige Schülerin, deren Lieblingsfächer Musik, Geschichte und Fremdsprachen waren.
Ihren Lehrern, dem Hauspersonal und den meisten Bürgern von Eze tat sie leid. Wie ein Kaufmann eines Tages sagte, als Teresa seinen Laden verließ: »Als Gott sie erschaffen hat, hat er gerade mal nicht aufgepasst.«
Liebe fand Teresa jedoch in der Kirche. Der Pfarrer liebte sie, und Jesus liebte sie. Sie ging jeden Morgen zur Messe und betete vor den vierzehn Kreuzwegstationen. Wenn sie in der kühlen Kirche mit ihren hohen Gewölben kniete, glaubte sie, Gottes Gegenwart zu spüren. Und wenn sie dort sang, erfüllte sie ein Gefühl der Hoffnung, von freudiger Vorahnung. Teresa hatte das Gefühl, ihr stehe irgendetwas Wundervolles bevor. Nur diese Hoffnung machte ihr das Leben überhaupt erträglich.
Um ihre Eltern und ihre Schwester nicht zu belasten, erzählte Teresa ihnen nie, wie unglücklich sie war, sondern tröstete sich mit dem geheimen Bewusstsein, wie sehr Gott sie liebte - und wie sehr sie Gott liebte.
Teresa betete ihre Schwester an. Die beiden Mädchen spielten im Park des elterlichen Schlosses, und sie ließ Monique bei jedem Spiel gewinnen. Gemeinsam erforschten sie die nähere Umgebung, stiegen die lange Steintreppe nach Eze hinab, streiften durch die schmalen Dorfgassen und beobachteten, wie die dort lebenden Künstler ihre Bilder vor ihren Ateliers anboten.
Als die Mädchen ins Backfischalter kamen, bewahrheiteten sich die Vorhersagen der Dorfbewohner. Monique wuchs zu einer Schönheit heran. Sie war der Schwarm aller Jungen, während Teresa in ihrem Zimmer blieb, um zu lesen oder zu nähen, oder im Dorf Einkäufe machte.
Als Teresa eines Tages am Salon vorbeiging, hörte sie ihre Eltern diskutieren.
»Du wirst sehen, dass sie eine alte Jungfer wird! Dann haben wir sie unser Leben lang am Hals.« »Teresa findet bestimmt jemand. Sie ist sehr lieb und charakterfest.«
»Das sind aber nicht die Eigenschaften, auf die junge Männer heutzutage Wert legen. Sie wollen eine Frau, mit der es Spaß macht, ins Bett zu gehen.«
Teresa flüchtete entsetzt.
Dass Teresa sonntags weiter in der Kirche sang, führte zu einem Ereignis, das beinahe ihr Leben verändert hätte. Zu den Gemeindemitgliedern gehörte eine Madame Go-dard, deren Neffe Direktor des Rundfunksenders Nizza war.
Eines Sonntagmorgens hielt sie Teresa nach dem Gottesdienst an. »Sie vergeuden hier Ihr Talent, meine Liebe. Sie haben eine außergewöhnliche Stimme, die Sie benützen sollten.«
»Aber ich benütze sie doch! Ich.«
»Ich spreche nicht von dem hier.« Ihre Handbewegung umfasste die Kirche. »Ich meine, dass Sie professionell singen sollten. Ich verstehe genug von Musik, um zu wissen, dass Sie außergewöhnlich begabt sind, und möchte, dass Sie meinem Neffen vorsingen. Er kann Ihnen Engagements beim Rundfunk vermitteln. Sind Sie daran interessiert?«
»Ich. ich weiß nicht recht.« Allein der Gedanke daran erschreckte Teresa.
»Reden Sie mit Ihrer Familie darüber, mein Kind.«
»Eine wunderbare Idee, finde ich«, meinte Teresas Mutter.
»Das würde dir bestimmt nützen«, stimmte ihr Vater zu.
Nur Monique erhob Einwände dagegen. »Du bist keine ausgebildete Sängerin«, sagte sie. »Du könntest dich unsterblich blamieren.«
Dabei hatte Monique in Wirklichkeit andere Gründe für ihren Wunsch, Teresa zu entmutigen. Sie fürchtete eigentlich, ihre Schwester könnte erfolgreich sein. Bisher hatte stets Monique im Rampenlicht gestanden. Es ist nicht gerecht, dachte sie, dass Gott Teresa diese Stimme geschenkt hat. Was ist, wenn sie damit berühmt wird? Dann werde ich zur unbeachteten Randfigur.
Deshalb versuchte Monique, ihre Schwester davon abzubringen, zum Probesingen zu gehen.
Am nächsten Sonntag hielt Madame Godard Teresa jedoch nach der Kirche an. »Ich habe mit meinem Neffen gesprochen«, sagte sie. »Er ist bereit, Sie Probe singen zu lassen. Er erwartet Sie am Mittwoch um fünfzehn Uhr.«
Und so kam es, dass die sehr nervöse Teresa am nächsten Mittwoch beim Sender Nizza erschien und den Direktor kennen lernte.
»Ich bin Louis Bonnet«, stellte er sich knapp vor. »Ich habe fünf Minuten Zeit für Sie.«
Teresas Aussehen bestätigte lediglich seine schlimmsten Befürchtungen. Seine Tante hatte ihm schon früher »Talente« geschickt.
Ich sollte ihr raten, in der Küche zu bleiben, dachte er. Aber er wusste, dass er das nicht tun würde, denn seine Tante war sehr reich - und er ihr einziger Erbe.
Teresa folgte Louis Bonnet durch einen engen Korridor in ein kleines Tonstudio.
»Haben Sie jemals professionell gesungen?«
»Nein, Monsieur.« Ihre Bluse war bereits durchgeschwitzt. Weshalb habe ich mich nur zu diesem Wahnsinn beschwatzen lassen? fragte Teresa sich. Sie hätte am liebsten kehrtgemacht und wäre weggelaufen.
Bonnet stellte sie vor ein Mikrofon. »Ich habe heute keinen Klavierspieler, der Sie begleiten könnte, deshalb müssen Sie a capella singen. Wissen Sie, was a capella bedeutet?«
»Ja, Monsieur.«
»Wunderbar.« Er fragte sich - übrigens nicht zum ersten Mal -, ob seine Tante so reich war, dass all diese dämlichen Proben sich letzten Endes lohnen würden.
»Ich bin nebenan im Aufnahmeraum. Sie haben Zeit für ein Lied - nicht mehr.«
»Monsieur, was soll ich.?«
Bonnet war bereits fort. Teresa war allein und starrte ratlos das Mikrofon an. Sie wusste nicht, was sie singen sollte. »Gehen Sie einfach hin und reden Sie mit ihm«, hatte seine Tante gesagt. »Der Sender bringt jeden Samstagabend ein Musikprogramm, in dem Sie.«
Ich muss hier raus!
»Ich habe nicht den ganzen Nachmittag lang Zeit, Mademoiselle«, sagte die Stimme des Direktors von irgendwoher.
»Tut mir leid, ich kann nicht.«
Aber Bonnet war entschlossen, ihr heimzuzahlen, dass sie seine Zeit vergeudet hatte.
»Nur ein paar Noten«, verlangte er deshalb. Genug, damit er seiner Tante berichten konnte, wie sehr die Kleine sich blamiert hatte. Vielleicht hörte sie dann endlich auf, ihm ihre Schützlinge zu schicken.
»Ich warte«, sagte Bonnet.
Er lehnte sich in seinen Sessel zurück und zündete sich eine Gitane an. Noch vier Stunden bis Dienstschluss -danach erwartete ihn Yvette. Er würde sie in ihrem Appartement besuchen, bevor er zu seiner Frau heimfuhr. Vielleicht reichte die Zeit sogar für.
Dann hörte Bonnet etwas Unglaubliches: einen Sopran, der so rein und süß war, dass ihm kalte Schauder über den Rücken liefen. Eine Stimme, aus der Träume und Sehnsucht sprachen, die so eindringlich von Einsamkeit und Verzweiflung, von enttäuschter Liebe und zerstörten Hoffnungen sang, dass ihm die Tränen kamen. Sie weckte längst erstorben geglaubte Gefühle in Bonnet, so dass er sich nur fragen konnte: »Mein Gott, wo hat sie bisher bloß gesteckt?«
Ein Tontechniker, der zufällig hereingekommen war, hörte ebenfalls gebannt zu. Die Tür stand offen, und weiteres Senderpersonal, das durch die Stimme angelockt wurde, strömte zusammen. Alle standen ergriffen schweigend da und hörten zu, wie ein Herz verzweifelt nach Liebe rief.
Als der letzte Ton verklungen war, herrschte sekundenlang Schweigen, bevor eine der Frauen sagte: »Die dürfen wir auf keinen Fall weglassen!«
Louis Bonnet hastete aus dem Aufnahmeraum ins Tonstudio hinüber. Teresa wollte eben gehen.
»Entschuldigen Sie, dass ich Sie so lange aufgehalten habe, Monsieur. Wissen Sie, ich habe noch nie.«
»Nehmen Sie bitte Platz, Maria.«
»Teresa.«
»Verzeihung.« Bonnet holte tief Luft. »Wir strahlen jeden Samstagabend eine große Musikrevue aus.«
»Ja, ich weiß. Ich höre sie regelmäßig.«
»Wie würde es Ihnen gefallen, dabei mitzuwirken?«
Sie starrte ihn an, als traue sie ihren Ohren nicht recht. »Sie meinen. Sie wollen mich einstellen?«
»Ja, ab sofort. Sie fangen natürlich mit dem Mindestgehalt an. Aber das ist Ihre große Chance, bekannt zu werden.«
Das war fast zu schön, um wahr zu sein. Sie wollen mich fürs Singen bezahlen!
»Du bekommst Geld dafür?« fragte Monique. »Wie viel?«
»Keine Ahnung. Das ist mir auch gleichgültig.« Wichtig ist nur, dass jemand mich will, hätte Teresa beinahe gesagt. Aber sie schwieg noch rechtzeitig.
»Donnerwetter, du trittst also im Rundfunk auf?« fragte ihr Vater. »Alle Achtung, Teresa!«
Ihre Mutter schmiedete bereits Pläne. »Wir sorgen dafür, dass alle unsere Freunde zuhören und dann Hörerbriefe schreiben, wie gut du gewesen bist.«
Teresa sah zu Monique hinüber und wartete darauf, dass ihre Schwester sagen würde: Das braucht ihr nicht zu tun. Teresa ist wirklich gut.
Aber Monique schwieg. Das gibt sich rasch wieder, dachte sie.
Sie täuschte sich.
Am Samstag Abend im Sendegebäude war Teresa einer Panik nahe.
»Glauben Sie mir, das ist völlig normal«, versicherte Louis Bonnet ihr. »Alle Künstler haben gewaltiges Lampenfieber.«
Die beiden saßen in einer der kleinen grünen Künstlergarderoben.
»Sie sind bestimmt eine Sensation«, versicherte der Direktor ihr.
»Mir wird bestimmt schlecht.«
»Dazu haben Sie keine Zeit mehr. Sie treten in zwei Minuten auf.«
Nachmittags hatte Teresa mit dem kleinen Orchester geprobt, das sie begleiten würde. Diese Probe war ein außergewöhnliches Ereignis gewesen. Der große Sendesaal war voller Rundfunkmitarbeiter gewesen, die das Mädchen mit der unglaublichen Stimme hören wollten. Sie hatten ehrfürchtig schweigend zugehört, wie Teresa ihr Abendprogramm probte. Keiner von ihnen zweifelte daran, dass sie die Geburt eines bedeutenden Stars miterlebten.
»Schade, dass sie nicht besser aussieht«, meinte ein Orchestermusiker, »aber wer merkt das im Rundfunk schon?«
Teresas Auftritt an diesem Abend war ein voller Erfolg. Sie wusste selbst, dass sie niemals besser gesungen hatte. Und wohin das alles noch führen konnte! Vielleicht wurde sie berühmt und hatte Männer, die um ihre Hand anhielten, ihr zu Füßen lagen, wie dies Monique gewohnt war.
»Ich freue mich wirklich für dich, Schwesterchen«, sagte Monique, als habe sie ihre Gedanken gelesen, »aber lass dir die Sache nicht zu Kopf steigen. Solche Erfolge halten nie lange an.«
Dieser schon! dachte Teresa zufrieden. Ich bin endlich jemand!
Am Montagmorgen kam ein Ferngespräch für Teresa.
»Möglicherweise will sich nur jemand einen üblen Scherz mit dir erlauben«, warnte ihr Vater sie. »Er behauptet, Jacques Raimu zu sein.« Der wichtigste Bühnenregisseur Frankreichs.
Teresa griff misstrauisch nach dem Hörer, »Hallo?«
»Mademoiselle de Fosse?«
»Ja.«
»Teresa de Fosse?« »Ja.«
»Hier ist Jacques Raimu. Ich habe Sie am Samstagabend im Radio gehört. Sie sind genau, was ich suche!«
»Ich. das verstehe ich nicht.«
»Ich inszeniere ein Stück an der Comedie Francaise -ein Musical. Die Proben beginnen nächste Woche. Ich habe eine Sängerin mit Ihrer Stimme gesucht. Oder um es ganz ehrlich zu sagen: Es gibt keine, die eine Stimme wie Sie hätte. Wer ist Ihr Agent?«
»Agent? Ich. ich habe keinen.«
»Dann komme ich selbst zu Ihnen, und wir einigen uns auch ohne Agenten.«
»Monsieur Raimu, ich. ich. bin nicht hübsch.« Dieses Eingeständnis schmerzte, aber Teresa wusste, dass es notwenig war. Er darf nicht mit falschen Hoffnungen hier anreisen.
Raimu lachte nur. »Doch, das sind Sie, wenn wir mit Ihnen fertig sind. Theater ist eine einzige große Täuschung. Schminke kann zauberhafte Veränderungen bewirken.«
»Aber.«
»Ich komme Sie morgen Nachmittag besuchen.«
Teresa war im siebten Himmel. Eine Hauptrolle in einem von Raimu inszenierten Musical!
»Die Vertragsverhandlungen mit ihm überlässt du am besten mir«, schlug ihr Vater vor, »bei diesen Theaterleuten muss man vorsichtig sein.«
»Wir müssen dir ein neues Kleid kaufen«, sagte ihre Mutter. »Und ich lade ihn zum Abendessen ein.«
Monique schwieg dazu. Diese Entwicklung war für sie unerträglich. Ihre Schwester sollte ein Star werden? Vielleicht ließ sich das doch verhindern.
Als Jacques Raimu am nächsten Nachmittag im Schloss der Familie de Fosse eintraf, hatte Monique dafür gesorgt, dass sie ihn als einzige im Salon erwartete. Er wurde von einer jungen Frau begrüßt, die so schön war, dass er das Gefühl hatte, sein Herz setze einen Schlag aus. Sie trug ein schlichtes weißes Leinenkleid, das ihre Figur perfekt modellierte.
Mein Gott, dachte er, mit ihrer Stimme und diesem Aussehen ist sie unschlagbar! Damit wird sie ein ganz großer Star!
»Ich kann Ihnen nicht sagen, wie sehr ich mich freue, Sie kennen zu lernen«, sagte der Regisseur.
Monique lächelte strahlend. »Und ich Sie, Monsieur Raimu. Ich bin eine große Verehrerin Ihrer Regiekunst.«
»Gut, dann arbeiten wir bestimmt ausgezeichnet zusammen. Ich habe Ihnen das Stück mitgebracht. Es handelt sich um eine schöne Liebesgeschichte, bei der.«
Teresa betrat den Salon. Sie trug ein neues Kleid, das sie aber nicht hübscher machte. Sie blieb stehen, als sie Jacques Raimu im Gespräch mit ihrer Schwester sah.
»Oh. guten Tag. Ich hab’ nicht gewusst, dass Sie schon da sind. Ich meine. Sie sind früher gekommen, als ich erwartet hatte.«
Er warf Monique einen fragenden Blick zu.
»Das ist meine Schwester«, sagte sie. »Teresa.«
Beide beobachteten, wie Raimus Gesichtsausdruck sich veränderte. Sein anfänglicher Schock wurde zu Enttäuschung, die sich in Ablehnung verwandelte.
»Sie sind die Sängerin?«
»Ja, Monsieur.«
Er wandte sich an Monique. »Und Sie sind.?«
Monique lächelte unschuldig. »Ich bin Teresas Schwester.«
Der Regisseur musterte Teresa erneut und schüttelte dann den Kopf. »Tut mir leid«, erklärte er ihr. »Sie sind zu.« Er suchte nach dem passenden Wort. »Sie sind zu jung. Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen wollen -ich muss nach Paris zurück.«
Die beiden Schwestern sahen ihm nach, als er aus dem Salon hastete.
Es hat geklappt! dachte Monique triumphierend. Es hat geklappt!
Teresa sang nie mehr im Rundfunk. Louis Bonnet bat sie wiederholt, ihre Entscheidung zu überdenken, aber der Stachel saß zu tief.
Wie könnte jemand, der meine Schwester gesehen hat, noch mich wollen? dachte Teresa. Ich bin so hässlich.
Den Ausdruck auf Jacques’ Gesicht würde sie nicht mehr vergessen, solange sie lebte.
Alles ist meine Schuld, weil ich so dumme Träume gehabt habe, sagte Teresa sich. Auf diese Weise straft Gott mich.
Danach sang Teresa nur mehr in der Kirche und wurde eine größere Einsiedlerin als je zuvor.
Im folgenden Jahrzehnt lehnte die schöne Monique über ein Dutzend Heiratsanträge der Söhne des Bürgermeisters, des Bankiers, des Arztes und der Geschäftsleute von Eze ab. Zu ihren Verehrern gehörten junge Männer, die eben erst ihr Studium beendet hatten, ebenso wie erfolgreiche Vierziger und Fünfziger. Sie waren arm und reich, hässlich und gut aussehend, gebildet und ungebildet. Und Monique sagte zu allen non.
»Was für einen Mann suchst du eigentlich?« fragte ihr Vater entgeistert.
»Papa, hier sind alle so langweilig. Eze ist solch ein schreckliches Nest. Mein Märchenprinz lebt in Paris.«
Und so schickte ihr Vater sie pflichtbewusst nach Paris. Damit sie nicht allein reisen musste, wurde sie von Teresa begleitet. Die jungen Frauen wohnten in einem kleinen Hotel am Bois de Boulogne.
Beide Schwestern sahen ein völlig unterschiedliches Paris. Monique ging auf Wohltätigkeitsfeste, wurde zu Galadiners eingeladen und soupierte mit reichen jungen Adligen. Teresa besichtigte den Louvre und den Invalidendom. Monique fuhr zum Rennen nach Longchamps und zu Galavorstellungen in Malmaison. Teresa betete in der Kathedrale Notre Dame und spazierte unter Bäumen den Kanal St. Martin entlang. Monique amüsierte sich im Maxim und im Moulin Rouge, während Teresa über die Seinekais schlenderte, im Angebot der Boutquinisten blätterte, bei Straßenhändlern Blumen kaufte und die Basilika St. Denis besuchte. Teresa genoss Paris, aber aus Moniques Sicht war diese Reise ein glatter Fehlschlag.
»Ich finde einfach keinen Mann, den ich heiraten möchte«, sagte sie nach ihrer Rückkehr.
»Bist du keinem begegnet, der dich interessiert hätte?« fragte ihr Vater erstaunt.
»Nicht wirklich. Ein junger Mann hat mich ein paar Mal ins Maxim eingeladen. Sein Vater ist ein großer Bergwerksbesitzer.«
»Wie ist er gewesen?« wollte ihre Mutter gespannt wissen.
»Oh, reich, gut aussehend und wohlerzogen. Und er hat mich angebetet.«
»Hat er um deine Hand angehalten?«
»Alle zehn Minuten. Ich hab’s schließlich abgelehnt, mich weiter mit ihm zu treffen.«
Moniques Mutter starrte ihre Tochter erstaunt an. »Aber warum nur?«
»Weil er ständig nur über Kohle geredet hat: Braunkohle, Steinkohle, Pechkohle, Anthrazitkohle, Kokskohle. Langweilig, langweilig, langweilig.«
Im Jahr darauf gab Monique ihren Entschluss bekannt, nach Paris zurückzukehren.
»Ich packe meine Sachen«, sagte Teresa.
Monique schüttelte den Kopf. »Nein. Ich glaube, diesmal fahre ich allein.«
Während Monique also nach Paris reiste, blieb Teresa daheim und betete jeden Morgen in der Kirche darum, dass ihre Schwester einen gutaussehenden Märchenprinzen finden möge. Und eines Tages geschah das Wunder. Deshalb ein Wunder, weil es Teresa zustieß. Der Prinz, der erst vor kurzem nach Eze gezogen war, hieß Raoul Giradot.
Er war sonntags in der Messe gewesen und hatte Teresa singen hören. Eine so herrliche Stimme hatte er sich nicht einmal vorstellen können. Ich muss sie kennen lernen, schwor er sich.
Am Montagmorgen kam Teresa ganz früh in den Gemischtwarenladen des Dorfs, um Stoff für ein Kleid zu kaufen, das sie sich nähen wollte. Raoul Giradot stand dort hinter dem Ladentisch.
Er sah auf, als Teresa hereinkam, und lächelte strahlend. »Ah, die Stimme!«
Sie starrte ihn verständnislos an. »Wie. was soll das heißen?«
»Ich habe Sie gestern in der Kirche singen hören. Herrlich, sage ich Ihnen!«
Er war groß, sah sehr gut aus und hatte kluge dunkle Augen und volle, sinnliche Lippen. Mit Anfang Dreißig war er ein, zwei Jahre älter als Teresa. Teresa war so beeindruckt, dass sie kaum ein Wort herausbrachte. Ihr Puls jagte, während sie Raoul anstarrte. »D-d-danke«, stieß sie hervor. »Drei Meter Musselin, bitte.«
Raoul Giradot lächelte. »Gern, Mademoiselle. Wenn Sie bitte mitkommen wollen.«
Teresa fiel es plötzlich schwer, sich auf ihren Einkauf zu konzentrieren. Sie war sich der Gegenwart des jungen Mannes, seines guten Aussehens, seines atemberaubenden Charmes und der ihn umgebenden maskulinen Aura in jeder Sekunde bewusst.
»Sie sind. Sie sind neu hier, stimmt’s?« wagte Teresa zu fragen, als Raoul ihr den ausgesuchten Stoff einpackte.
Er sah lächelnd auf, und sein Lächeln jagte Teresa einen Schauder über den Rücken.
»Ja, Mademoiselle. Ich bin erst seit ein paar Tagen in Eze. Dieses Geschäft gehört meiner Tante, deshalb wollte ich einige Zeit hier arbeiten.«
Wie lange ist einige Zeit? fragte Teresa sich im stillen.
»Sie sollten als Sängerin auftreten«, erklärte Raoul ihr.
Teresa erinnerte sich an Raimus Gesichtsausdruck bei ihrem Anblick. Nein, sie würde keine öffentliche Bloßstellung mehr riskieren. »Danke«, murmelte sie.
Ihre Schüchternheit und Verlegenheit rührten ihn. Er versuchte, sie in ein Gespräch zu verwickeln.
»Ich bin zum ersten Mal in Eze. Hier gefällt es mir sehr gut. Es ist eine hübsche kleine Stadt.«
»Ja«, sagte Teresa nur.
»Sind Sie hier geboren?«
»Ja.«
»Leben Sie gern hier?«
»Ja.«
Teresa riss ihr Päckchen an sich und flüchtete.
Schon am Tag darauf fand sie eine Ausrede, um wieder in das Geschäft gehen zu müssen. Sie hatte die halbe Nacht wach gelegen und sich überlegt, was sie zu Raoul Giradot sagen würde.
Ich freue mich, dass es Ihnen in Eze gefällt...
Das Kloster ist aus dem vierzehnten Jahrhundert, wissen Sie...
Sind Sie schon in Saint Paul-de-Vence gewesen? Dort steht eine wunderhübsche Kapelle...
Gefällt Ihnen Monte Carlo auch so gut? Ich find’s wunderbar, so etwas in der Nähe zu haben. Meine Schwester und ich fahren manchmal zur Grande Corni-che hinunter und gehen ins Theater Fort Antoine. Kennen Sie dieses Theater? Es ist die große Freiluftbühne...
Haben Sie gewusst, dass Nizza früher Nkaia geheißen hat? Oh, das haben Sie nicht gewusst? Es stimmt aber. Die alten Griechen sind lange dort gewesen. In Nizza gibt ’s ein Museum mit Funden von Höhlenmenschen, die hier vor Tausenden von Jahren gelebt haben. Ist das nicht interessant?
Teresa hatte sich Dutzende von solchen Gesprächseröffnungen zurechtgelegt. Aber als sie den Laden betrat und Raoul wieder sah, waren leider alle mit einem Schlag vergessen. Sie starrte ihn nur an, ohne ein Wort herausbringen zu können.
»Bonjour!« begrüßte Raoul sie fröhlich. »Ich freue mich, Sie wiederzusehen, Mademoiselle de Fosse.«
»D-d-danke.« Sie kam sich wie eine Idiotin vor. Ich bin dreißig Jahre alt, sagte sie sich, und benehme mich wie ein dummes kleines Schulmädchen. Das muss sofort aufhören!
Aber sie konnte nichts dagegen tun.
»Und was kann ich heute für Sie tun, Mademoiselle?«
»Ich. ich brauche noch etwas Musselin.«
‘Nichts brauchte Teresa in Wirklichkeit weniger.
Sie beobachtete Raoul, während er den Stoffballen aus dem Regal holte. Er legte ihn auf den Ladentisch und machte sich daran, den Musselin abzumessen.
»Wie viele Meter möchten Sie?«
Zwei, wollte Teresa sagen, aber statt dessen platzte sie mit einer Frage heraus: »Sind Sie verheiratet?«
Raoul Giradot schüttelte lächelnd den Kopf. »Nein«, sagte er, »das Glück habe ich noch nicht gehabt.«
Aber du wirst es haben, dachte Teresa. Sobald Monique aus Paris zurückkommt.
Monique würde sich Hals über Kopf in diesen Mann verlieben. Die beiden waren geradezu füreinander bestimmt. Der Gedanke an Moniques Reaktion, wenn sie Raoul kennen lernte, machte Teresa glücklich. Es würde schön sein, Raoul Giradot als Schwager zu bekommen.
Als Teresa am nächsten Tag am Laden vorbeikam, sah Raoul sie zufällig und hastete hinaus.
»Guten Tag, Mademoiselle. Ich wollte eben meine Mittagspause machen. Haben Sie vielleicht etwas Zeit? Dann würde ich Sie gern zu einer Tasse Kaffee einladen.«
»Ich. ich. ja, vielen Dank.«
Teresa brachte in seiner Gegenwart kaum ein Wort heraus, aber Raoul hätte nicht höflicher und zuvorkommender sein können. Er gab sich größte Mühe, ihr die Befangenheit zu nehmen, und Teresa merkte zu ihrem Erstaunen, dass sie diesem Fremden Dinge erzählte, die sie noch niemand erzählt hatte. Sie sprachen über Einsamkeit.
»Menschenansammlungen können einen einsam machen«, sagte Teresa, »in einem Meer von Menschen fühle ich mich stets wie eine Insel.«
Raoul lächelte zustimmend. »Das verstehe ich gut.«
»Oh, aber Sie müssen doch viele Freunde haben!«
»Bekannte. Wie viele Freunde hat man letzten Endes tatsächlich?«
Teresa hatte das Gefühl, mit einem Spiegelbild zu sprechen. Die Stunde verging so rasch, und Raoul musste viel zu früh in den Laden zurück.
»Wollen Sie mir das Vergnügen machen, morgen Mittag mit mir zu essen?« fragte Raoul, als sie aufstanden.
Er war natürlich nur höflich. Teresa wusste recht gut, dass kein Mann sich zu ihr hingezogen fühlen konnte. Vor allem kein so wundervoller Mann wie Raoul Gira-dot. Sie konnte sich denken, dass er zu allen Frauen so höflich war.
»Danke, gern«, antwortete Teresa.
»Ich habe mir den Nachmittag frei genommen«, sagte Raoul jungenhaft lächelnd, als sie sich am nächsten Tag trafen. »Wenn Sie nicht allzu beschäftigt sind, könnten wir doch nach Nizza hinunterfahren?«
Sie fuhren mit zurück geklapptem Cabrioverdeck die mittlere Corniche entlang und sahen die Stadt wie einen kostbaren Teppich unter sich ausgebreitet liegen. Teresa lehnte sich auf dem Beifahrersitz zurück und dachte: Ich bin glücklicher als je zuvor in meinem Leben. Und dann schuldbewusst: Ich bin für Monique glücklich.
Monique sollte am nächsten Tag aus Paris zurückkommen. Raoul würde Teresas Geschenk für ihre Schwester sein. Teresa war Realistin genug, um zu wissen, dass die Raouls dieser Welt nicht für sie bestimmt waren. Sie hatte schon genug gelitten und längst begriffen, was möglich und was irreal war. Der gutaussehende Mann am Steuer neben ihr verkörperte einen Traum, an den sie nicht einmal zu denken wagte.
In Nizza aßen sie im Restaurant Le Chantecler im Hotel Negresco. Das Essen war köstlich, aber Teresa hätte später nicht einmal sagen können, was sie eigentlich gegessen hatte. Sie hatte das Gefühl, Raoul und sie hätten sich ständig nur unterhalten. Sie hatten einander so vieles zu erzählen. Er war charmant und geistreich und schien Teresa interessant zu finden - wirklich interessant. Er fragte sie nach ihrer Meinung über viele Dinge und hörte aufmerksam zu, wenn sie antwortete. Sie waren sich über fast alle Themen einig. Man hätte glauben können, sie seien verwandte Seelen. Falls Teresa die bevorstehende Entwicklung bedauerte, verdrängte sie ihr Bedauern resolut.
»Hätten Sie Lust, morgen Abend zum Diner ins Schloss zu kommen? Meine Schwester kehrt von einem längeren Parisaufenthalt zurück. Ich möchte Sie ihr vorstellen.«
»Mit Vergnügen, Teresa.«
Als Monique am nächsten Tag nach Hause kam, beeilte Teresa sich, sie schon an der Tür zu begrüßen.
Obwohl Teresa sich vorgenommen hatte, dieses Thema nicht anzuschneiden, musste sie doch fragen: »Hast du in Paris irgendeinen interessanten Mann kennen gelernt?« Und sie hielt den Atem an, während sie auf die Antwort ihrer Schwester wartete.
»Dieselben langweiligen Kerle«, sagte Monique.
Damit stand Gottes endgültige Entscheidung fest.
»Ich habe für heute Abend jemand zum Diner eingeladen«, fuhr Teresa fort. »Er wird dir gefallen, glaube ich.«
Ich darf mir niemals anmerken lassen, wie viel er mir bedeutet, dachte Teresa.
An diesem Abend führte der Butler Raoul Giradot in den Salon, wo Teresa, Monique und ihre Eltern ihn erwarteten.
»Raoul Giradot - meine Eltern.«
»Guten Abend, Madame. Guten Abend, Monsieur.«
Teresa holte tief Luft. »Und meine Schwester Moni-que.«
»Guten Abend, Monsieur Giradot.« Moniques Lächeln war nur höflich.
Teresa beobachtete Raoul, weil sie fest damit rechnete, dass die Schönheit ihrer Schwester ihn wie ein Blitz treffen würde.
»Ich bin entzückt, Mademoiselle.« Auch Raoul war lediglich höflich.
Teresa stand mit angehaltenem Atem da und wartete auf die Funken, die zwischen den beiden überspringen mussten. Aber Raoul sah zu ihr herüber.
»Hübsch sehen Sie heute Abend aus, Teresa.«
»D-d-danke«, stotterte sie errötend.
An diesem Abend schien die ganze Welt Kopf zu stehen. Teresas Plan, Monique und Raoul zusammenzubringen, damit sie heirateten und Raoul ihr Schwager würde, kam seiner Verwirklichung keinen Schritt näher. Raoul konzentrierte seine Aufmerksamkeit unglaublicherweise ganz auf Teresa, die das Gefühl hatte, die Verwirklichung eines unmöglichen Traums zu erleben. Sie kam sich wie Aschenbrödel vor - jedoch mit dem Unterschied, dass sie die hässliche Schwester war und der Märchenprinz sich für sie entschieden hatte.
Das war irreal, aber es geschah tatsächlich, und Teresa merkte, dass sie sich gegen Raoul und seinen Charme zur Wehr setzte, weil sie wusste, dass alles zu schön war, um wahr zu sein, und sich davor fürchtete, erneut verletzt zu werden. In all diesen Jahren hatte sie ihre Gefühle verborgen, um vor dem Schmerz, den jede Zurückweisung brachte, sicher zu sein. Jetzt versuchte sie instinktiv, in dieser Haltung zu verharren. Aber Raoul Giradot war unwiderstehlich.
»Ich habe Ihre Tochter singen hören«, erklärte er ihren Eltern. »Sie ist ein Wunder!«
Teresa fühlte, dass sie errötete.
»Alle bewundern Teresas Stimme«, stellte Monique süß lächelnd fest.
Es war ein berauschender Abend. Aber das Beste stand Teresa erst noch bevor.
»Ihr Park ist wirklich prächtig«, sagte Raoul nach dem Diner. Er wandte sich an Teresa. »Hätten Sie Lust, ihn mir zu zeigen?«
Teresa sah rasch zu ihrer Schwester hinüber und versuchte ihre Reaktion zu erraten, aber Monique wirkte völlig indifferent.
Sie muss blind, taub und stumm sein, dachte Teresa.
Und dann erinnerte sie sich an die vielen Reisen Moni-ques nach Paris und Cannes und St. Tropez, wo sie ihren Märchenprinzen gesucht, aber nie gefunden hatte.
Es hat also nicht an den Männern gelegen. Schuld daran ist meine Schwester, die nicht weiß, was sie will. Teresa nickte Raoul zu. »Sehr gern.«
Als sie draußen waren, musste Teresa das Thema erneut ansprechen.
»Wie hat Ihnen Monique gefallen?«
»Sie scheint sehr nett zu sein«, antwortete Raoul. »Aber fragen Sie mich doch, wie mir ihre Schwester gefällt.«
Und er schloss Teresa in die Arme und küsste sie.
So etwas hatte Teresa noch nie erlebt. Sie zitterte in seinen Armen und dachte: Lieber Gott, ich danke dir. Oh, wie ich dir danke! »Gehen Sie morgen Abend mit mir essen?« fragte Raoul. »Ja«, flüsterte Teresa. »O ja!«
»Er scheint dich wirklich zu mögen«, sagte Monique, als die beiden Schwestern allein waren.
»Anscheinend«, antwortete Teresa schüchtern.
»Magst du ihn?«
»Ja.«
»Na, dann sei lieber vorsichtig, große Schwester«, riet Monique ihr lachend. »Sieh dich vor, damit du dich nicht Hals über Kopf in ihn verknallst!«
Zu spät, dachte Teresa hilflos. Zu spät.
Danach waren Raoul und Teresa tagtäglich zusammen. Im Allgemeinen begleitete Monique sie als Anstandsdame. In Nizza schlenderten sie zu dritt über die Strande und Promenaden und lachten über die Hotels im Zuckerbäckerstil. Sie aßen in Cap d’Antibes im Hotel du Cap zu Mittag und besuchten die Matisse-Kapelle in Vence. Sie dinierten im Chateau de la Chevre d’Or und in der berühmten Ferme St. Michel. Eines Morgens fuhren sie schon um fünf Uhr auf den Bauernmarkt in Monte Carlo und kauften frisches Brot, Obst und Gemüse.
Sang Teresa sonntags in der Kirche, kamen Raoul und Monique, um ihr zuzuhören. »Du bist wirklich ein Wunder«, sagte Raoul danach und umarmte sie. »Wenn du singst, könnte ich bis ans Ende meiner Tage zuhören.«
Vier Wochen nach ihrer ersten Begegnung hielt Raoul Giradot um Teresa de Fosses Hand an.
»Du könntest bestimmt jeden Mann haben, den du möchtest, Teresa«, sagte Raoul, »aber ich würde es mir als Ehre anrechnen, wenn du mich nehmen würdest.«
Einen schrecklichen Augenblick lang fürchtete Teresa, er wolle sie verspotten, aber bevor sie sprechen konnte, fuhr er bereits fort: »Mein Liebling, ich gestehe, dass ich schon viele Frauen gekannt habe, aber du bist die begabteste, die empfindsamste, die warmherzigste.«
Seine Worte waren Musik in ihren Ohren. Ihr war nach Lachen und Weinen zugleich zumute. Wie glücklich ich bin, dachte sie, lieben und geliebt zu werden!
»Willst du mich heiraten?«
Und ihr Blick war Antwort genug.
Als Raoul weggefahren war, lief Teresa, so schnell sie konnte, in die Bibliothek, in der ihre Eltern und ihre Schwester Kaffee tranken.
»Raoul hat mir einen Heiratsantrag gemacht!« Ihr Gesicht war rosig angehaucht und so verklärt, dass es beinahe hübsch wirkte.
Ihre Eltern starrten sie sprachlos erstaunt an. Monique ergriff als erste das Wort.
»Teresa, weißt du bestimmt, dass er nicht nur hinter unserem Geld her ist?«
Das war wie ein Schlag ins Gesicht.
»Du darfst mich bitte nicht falsch verstehen«, fuhr Mo-nique fort, »aber alles scheint so schnell zu gehen.«
Teresa war entschlossen, sich ihr Glück nicht zerstören zu lassen. »Ich weiß, dass du mich beschützen willst«, erklärte sie ihrer Schwester, »aber Raoul besitzt Geld. Sein Vater hat ihm ein kleines Vermögen hinterlassen, und er ist sich nicht zu schade, für seinen Lebensunterhalt zu arbeiten.« Sie ergriff die Hand ihrer Schwester und bat: »Bitte, freu dich mit mir, Monique! Ich hätte nie geglaubt, dass ich einmal so fühlen würde. Ich bin so glücklich, dass ich sterben könnte.«
Daraufhin umarmten die drei sie und versicherten ihr, wie froh sie um ihretwillen seien, und begannen aufgeregt, Pläne für die Hochzeit zu schmieden.
Am nächsten Morgen ging Teresa in aller Frühe in die Kirche und kniete nieder, um zu beten.
»Himmlischer Vater, ich danke dir. Ich danke dir, dass du mir solches Glück geschenkt hast. Ich werde alles in meiner Kraft Stehende tun, um mich deiner und Raouls Liebe würdig zu erweisen. Amen.«
Teresa, deren Füße den Boden kaum zu berühren schienen, betrat den Gemischtwarenladen und sagte: »Monsieur, ich möchte bitte Stoff für ein Brautkleid bestellen.«
Raoul umarmte sie lachend. »Du wirst bestimmt eine wunderhübsche Braut!«
Und Teresa wusste, dass das sein Ernst war. Das war das Wunder.
Die Hochzeit sollte einen Monat später in der Kirche in Eze stattfinden - selbstverständlich mit Monique als Brautjungfer.
Am Freitagnachmittag gegen 17 Uhr sprach Teresa zum letzten Mal mit Raoul Giradot. Als sie am Samstag Mittag um 12.30 Uhr in der Sakristei stand und auf Raoul wartete, der sich eine halbe Stunde verspätet hatte, kam der Pfarrer auf sie zu. Er nahm ihren Arm und führte sie beiseite, und sie wunderte sich darüber, wie aufgeregt er war. Ihr Puls begann zu jagen.
»Was ist los? Ist etwas passiert? Hat Raoul einen Unfall gehabt?«
»O mein Kind«, sagte der Geistliche. »Meine arme, liebe Teresa.«
Sie begann in Panik zu geraten. »Was ist passiert? Reden Sie doch endlich!«
»Ich. ich bin soeben benachrichtigt worden. Raoul.«
»Ist er verunglückt? Ist er verletzt?«
»Giradot ist heute morgen in aller Frühe abgereist.«
»Was ist er? Dann muss ein dringender Notfall vorgelegen haben, sonst.«
»Er ist mit Ihrer Schwester abgereist. Die beiden sind gesehen worden, als sie in den Schnellzug nach Paris gestiegen sind.«
Vor ihren Augen begann sich alles zu drehen. Nein, dachte Teresa, ich darf nicht ohnmächtig werden. Ich darf Gott nicht in Verlegenheit bringen.
An die danach folgenden Ereignisse konnte sie sich später nur dunkel erinnern. Wie aus weiter Ferne hörte sie den Geistlichen zu den Hochzeitsgästen sprechen, die ihrer Empörung lautstark Ausdruck verliehen.
»Meine arme Teresa«, sagte ihre Mutter und umarmte sie tröstend. »Dass deine eigene Schwester so grausam sein konnte! Das tut mir schrecklich leid.«
Aber Teresa war plötzlich ganz ruhig und gefasst. Sie wusste jetzt, wie sich alles in Ordnung bringen ließ.
»Mach dir keine Sorgen um mich, Mama. Ich bin Raoul nicht böse, dass er sich in Monique verliebt hat. Das hätte jeder andere Mann auch getan. Ich hätte wissen sollen, dass mich nie ein Mann lieben wird.«
»Du täuschst dich!« rief ihr Vater aus. »Du bist zehn Moniques wert!«
Aber sein Mitgefühl kam viele Jahre zu spät.
»Ich möchte jetzt bitte nach Hause.«
Sie bahnten sich einen Weg durch die Menge. Die Hochzeitsgäste traten beiseite, um sie hindurch zu lassen, und starrten schweigend hinter ihnen her.
»Macht euch bitte keine Sorgen um mich«, sagte Teresa nach ihrer Rückkehr ins Schloss gefasst. »Ich verspreche euch, dass alles in Ordnung kommt.«
Dann ging sie ins Bad ihres Vaters hinauf, nahm die Klinge aus seinem Rasierapparat und schnitt sich die Pulsadern auf.