Am nächsten Vormittag erreichten sie Astorga, ein Dorf westlich von Leon, und kamen an einer Tankstelle mit Reparaturwerkstatt vorbei, in der ein Mechaniker an einem Auto arbeitete. Jaime hielt vor der Werkstatt.
»Buenos dias«, sagte der Automechaniker. »Was ist mit Ihrem Wagen?«
»Wenn ich das wüsste«, antwortete Jaime, »würde ich ihn selbst reparieren und mir einen Haufen Geld sparen. Der Motor läuft nicht rund, setzt manchmal aus und hat keine Leistung.«
Der Mechaniker wiegte bedächtig den Kopf. »Zündung oder Vergaser, Senor«, meinte er dann.
Jaime zuckte mit den Schultern. »Ich verstehe nichts von Autos. Ich weiß nur, dass ich morgen einen wichtigen Termin in Madrid habe. Können Sie die Sache bis heute Nachmittag in Ordnung bringen?«
»Eigentlich kämen zwei angemeldete Kunden vor Ihnen dran, Senor, aber.« Der Mechaniker ließ den Rest seines Satzes in der Luft hängen.
»Ich zahle Ihnen gern den doppelten Stundenlohn.«
Das Gesicht des anderen hellte sich auf. »Können Sie den Wagen bis vierzehn Uhr entbehren?«
»Ohne weiteres. Wir essen eine Kleinigkeit und kommen um vierzehn Uhr zurück.«
Jaime wandte sich an die anderen, die sein Gespräch mit dem Mechaniker erstaunt verfolgt hatten. »Glück gehabt!« erklärte er ihnen. »Dieser Mann repariert uns den Wagen. Kommt, wir gehen essen.«
Sie stiegen aus und folgten Jaime die Straße entlang.
»Vierzehn Uhr!« rief der Mechaniker ihnen nach.
»Vierzehn Uhr«, bestätigte Jaime.
»Spinnst du eigentlich?« fragte Felix, sobald sie außer Hörweite waren. »Der Wagen ist völlig in Ordnung!«
Aber die Polizei fahndet inzwischen nach ihm, überlegte sich Megan. Allerdings sucht sie ihn auf der Straße, nicht in einer Werkstatt. Das ist ein raffinierter Trick, um ihn loszuwerden.
»Bis vierzehn Uhr sind wir längst weg, stimmt’ s?« fragte Megan.
Jaime nickte grinsend. »Ich gehe telefonieren. Ihr wartet hier.«
Amparo hängte sich bei ihm ein. »Ich begleite dich.«
Megan und Felix sahen den Davongehenden nach.
Felix warf Megan einen prüfenden Blick zu. »Du kommst mit Jaime gut aus, nicht wahr?«
»Ja.« Sie war plötzlich verlegen.
»Er ist kein anspruchsloser Freund. Aber er ist ein sehr ehrenhafter und sehr tapferer Mann. Und ein fürsorglicher Freund. Ich wüsste niemanden, der ihm gleicht. Hab’ ich dir schon erzählt, wie er mir das Leben gerettet hat?«
»Nein. Ich würd’s gern hören.«
»Vor ein paar Monaten hat der Staat sechs Freiheitskämpfer hingerichtet. Um sie zu rächen, wollte Jaime den Staudamm bei Puenta la Reina südlich von Pamplona sprengen. In der Stadt darunter befinden sich zahlreiche militärische Einrichtungen. Wir sind nachts gekommen, aber irgend jemand hatte unseren Plan der GEO verraten, und Acocas Männer haben drei von uns gefangen genommen.
Wir sind zum Tod verurteilt worden. Niemand hätte unser Gefängnis stürmen können, aber Jaime hat einen Weg gefunden. Er hat die Stiere in Pamplona freigelassen und in der entstehenden Verwirrung zwei von uns befreit. Den dritten hatten Acocas Männer leider tot geprügelt. Ja, Megan, Jaime Miro ist ein ganz besonderer Mann.«
»Was passiert jetzt?« wollte Felix wissen, als Jaime und Amparo zurückkamen.
»Ein Freund holt uns ab und bringt uns nach Leon.«
Eine halbe Stunde später fuhr ein Zwölftonner mit Plane und Spriegel vor.
»Willkommen«, sagte der Fahrer fröhlich. »Steigt auf!«
»Danke, Amigo.«
»Ich freue mich, euch helfen zu können. Nur gut, dass du angerufen hast, Jaime. Hier wimmelt’s überall von verdammten Soldaten. Ein gefährliches Pflaster für dich und deine Freunde.«
Sie kletterten auf die Ladefläche, und das riesige Fahrzeug brummte nach Nordosten davon.
»Wo bleibt ihr in Leon?« hatte der Fahrer noch gefragt, bevor er Gas gegeben hatte.
»Bei Freunden«, hatte Jaime ausweichend geantwortet.
Er traut keinem, dachte Megan. Nicht einmal den Leuten, die ihm helfen. Aber wie kann er auch? Sein Leben ist in Gefahr. Und sie überlegte, wie schrecklich es für Jaime sein musste, ständig auf der Flucht vor Polizei und Militär zu sein. Alles wegen eines Ideals, für das er sein Leben zu opfern bereit war. Was hatte er gleich wieder gesagt? Der Unterschied zwischen einem Patrioten und einem Rebellen hängt davon ab, wer gerade an der Macht ist.
Die Fahrt war angenehm. Auf paradoxe Weise vermittelte die dünne Plane ihnen ein Gefühl der Sicherheit, das Megan erkennen ließ, unter welcher nervlichen Anspannung sie im Freien als Gejagte gestanden hatte. Und Jaime lebt ständig mit dieser Anspannung. Wie stark er ist!
Sie unterhielt sich mit Jaime, und ihr Dialog floss so mühelos, als seien sie alte Freunde. Amparo Jiron, die ihnen gegenübersaß, hörte zu und schwieg mit ausdrucksloser Miene.
»Als Junge wäre ich am liebsten Astronaut geworden«, erzählte Jaime.
Das interessierte Megan. »Wie bist du darauf gekommen?«
»Ich hatte miterlebt, wie meine Eltern, meine Schwestern und viele meiner Freunde erschossen worden waren, und konnte das Elend auf dieser blutdurchtränkten Erde nicht mehr ertragen. Die Sterne schienen mir einen Ausweg zu bieten. Sie sind Millionen von Lichtjahren entfernt, und ich habe oft davon geträumt, eines Tages zu ihnen zu reisen und diesen schrecklichen Planeten hinter mir zu lassen.«
Sie beobachtete ihn wortlos.
»Aber es gibt keine Flucht vor der Wirklichkeit, nicht wahr? Letztlich müssen wir uns alle zu unserer Verantwortung bekennen, deshalb bin ich auf die Erde zurückgekehrt. Früher habe ich geglaubt, ein einzelner Mensch könne nichts ausrichten. Aber jetzt weiß ich, dass das nicht stimmt. Jesus hat etwas bewirkt - Mohammed und Gandhi, Einstein und Churchill ebenfalls.« Er lächelte schief. »Versteh mich bitte nicht falsch, Megan. Ich will mich nicht mit einem von ihnen vergleichen, aber ich tue, was ich kann. Wir müssen alle tun, was in unseren Kräften steht, glaube ich.«
Und Megan fragte sich, ob seine Worte eine besondere Bedeutung für sie haben sollten.
»Nachdem ich mir die Sterne aus dem Kopf geschlagen hatte, habe ich Hochbau studiert und bin Ingenieur geworden. Ich habe gelernt, Häuser zu bauen. Jetzt jage ich sie in die Luft. Und eine Ironie des Schicksals hat es gewollt, dass ich auch schon von mir miterbaute Gebäude gesprengt habe.«
In der Abenddämmerung erreichten sie Leon.
»Wohin soll ich euch bringen?« fragte der LKW-Fahrer.
»Du kannst uns hier an der Ecke absetzen, Amigo.«
Der Fahrer nickte. »Wird gemacht. Kämpft so tapfer weiter wie bisher.«
Jaime half Megan beim Aussteigen. Amparo beobachtete die beiden mit funkelnden Augen. Ihr Mann durfte keine andere Frau berühren! Sie ist eine Schlampe, dachte Amparo. Und Jaime ist scharf auf das Nönnchen. Aber das wird nicht lange anhalten. Er wird bald merken, dass sie nicht die Frau ist, für die er sie hält. Er braucht ein Vollblutweib.
Die kleine Gruppe bewegte sich wachsam durch Leon und benützte möglichst nur Seitenstraßen. Zwanzig Minuten später erreichte sie ein von einem hohen Zaun umgebenes einstöckiges kleines Haus am Stadtrand.
»Das ist unser Quartier«, sagte Jaime. »Wir übernachten hier und fahren morgen bei Einbruch der Dunkelheit weiter.«
Zu Megans Überraschung fanden sie das Gartentor und die Haustür unversperrt vor.
»Wem gehört dieses Haus?« erkundigte sie sich.
»Du fragst zuviel«, wies Amparo sie zurecht. »Sei lieber froh, dass wir dich bisher mitgeschleppt haben.«
Jaime musterte Amparo kritisch. »Sie hat sich das Recht verdient, Fragen zu stellen.« Er wandte sich an Megan. »Das Haus gehört einem Freund. Wir sind jetzt im Baskenland. Ab hier kommen wir leichter voran. Hier leben überall Genossen, die schützend ihre Hand über uns halten. Übermorgen bist du wieder im Kloster.«
Und Megan empfand leichtes Bedauern, das fast Trauer war. Was ist nur in mich gefahren? fragte sie sich. Natürlich will ich dorthin zurück. Herr, vergib mir. Ich habe dein sicheres Geleit erfleht, und du gewährst es mir.
»Ich verhungere!« behauptete Felix. »Mal sehen, was sich in der Küche tut.«
Die Vorräte waren überreichlich.
»Er hat gut für uns gesorgt«, stellte Jaime fest. »Ich koche uns ein gutes Abendessen.« Er lächelte Megan zu. »Das haben wir uns ehrlich verdient, findest du nicht auch?«
»Ich hab’ nicht gewusst, dass Männer kochen können«, gab Megan zu.
Felix lachte. »Baskische Männer sind stolz auf ihre Kochkünste. Jaime kocht sogar besser als die meisten. Wart’s nur ab!«
Sie reichten Jaime die Zutaten, die er verlangte, und beobachteten, wie er ein Pfefferomelette mit geröstetem grünem Pfeffer, Zwiebelscheiben, Tomaten, Eiern und Schinken zubereitete.
»Mmmm, das riecht köstlich!« sagte Megan anerkennend.
»Ah, das ist nur die Vorspeise. Ich koche dir eine baskische Spezialität - pollo al chilindron.«
Er hat nicht »euch« gesagt, stellte Amparo fest. Er hat »dir« gesagt. Für die Schlampe.
Jaime tranchierte ein Huhn, würzte die Scheiben mit Salz und Pfeffer und briet sie in Öl, während er in einer weiteren Pfanne Zwiebeln, Knoblauch und Tomaten dünstete. »Jetzt lassen wir alles eine halbe Stunde lang auf kleiner Flamme garen.«
Felix hatte eine Flasche Rotwein entdeckt. Er schenkte ein und reichte die gefüllten Gläser herum. »Roter aus Rioja. Der schmeckt!« Er bot Megan ein Glas an. »Du auch?«
Den letzten Wein hatte Megan bei ihrer Kommunion getrunken. »Ja, bitte«, sagte sie.
Megan hob langsam das Glas an die Lippen und trank einen kleinen Schluck Wein. Er schmeckte köstlich. Sie nahm einen weiteren Schluck und glaubte zu spüren, wie ein Wärmegefühl sich durch ihren Körper ausbreitete. Ein wunderbares Gefühl! Ich muss alles genießen, solange ich kann, dachte sie. Es ist bald genug vorbei.
Beim Abendessen wirkte Jaime ungewohnt geistesabwesend.
»Hast du Sorgen, Amigo?« erkundigte Felix sich.
Jaime zögerte. »In unserer Bewegung gibt’s einen Verräter«, sagte er dann.
Am Tisch herrschte schockiertes Schweigen.
»Wie. wie kommst du darauf?« wollte Felix wissen.
»Acoca hat mich darauf gebracht. Er ist uns in letzter Zeit zu dicht auf den Fersen.«
Felix zuckte mit den Schultern. »Er ist der Fuchs, und wir sind die Hühner.«
»Nein, die Sache ist ernster.«
»Wie meinst du das?« fragte Amparo.
»Als wir den Staudamm bei Puenta la Reina sprengen wollten, hat Acoca einen Tip bekommen.« Jaime sah zu Felix hinüber. »Er hat uns eine Falle gestellt und Ricardo, Zamora und dich gefangen genommen. Hätte ich mich nicht verspätet, wäre ich mit euch geschnappt worden. Und du weißt selbst, was im Parador passiert ist.« »Du hast gehört, wie der Geschäftsführer mit der Polizei telefoniert hat«, stellte Amparo fest.
Jaime nickte. »Richtig - weil ich das Gefühl gehabt habe, irgendwas sei nicht in Ordnung.«
Amparos Miene war ernst. »Hast du schon einen bestimmten Verdacht?«
Jaime schüttelte den Kopf. »Jedenfalls jemand, der unseren Plan kennt.«
»Dann ändern wir ihn einfach ab!« schlug Amparo vor. »Wir treffen uns mit den anderen in Logrono und verzichten auf den Abstecher nach Mendavia.«
Jaime sah zu Megan hinüber. »Das können wir nicht. Wir müssen die Schwestern nach Mendavia bringen.«
Megan erwiderte seinen Blick und dachte: Er hat schon mehr als genug für mich getan. Ich darf ihn nicht in noch größere Gefahr bringen.
»Jaime, ich kann.«
Aber er wusste, was sie sagen wollte. »Mach dir keine Sorgen, Megan. Wir alle bringen dich sicher hin.«
Er hat sich verändert, dachte Amparo. Ursprünglich hat er nichts mit den Nonnen zu tun haben wollen. Jetzt ist er bereit, für sie sein Leben zu riskieren.
Jaime sprach weiter. »Übrigens kennen unseren Plan mindestens fünfzehn Leute.«
»Wir müssen rauskriegen, wer ihn verraten hat!« forderte Amparo hartnäckig.
»Wie sollen wir das anstellen?« fragte Felix. Er spielte nervös mit einem Zipfel des Tischtuchs.
»Paco ist in Madrid und stellt dort Ermittlungen für mich an«, sagte Jaime. »Er hat den Auftrag, mich hier anzurufen.« Er blickte kurz zu Felix hinüber und sah wieder weg.
Was Jaime nicht erwähnt hatte, war die Tatsache, dass nur ein halbes Dutzend seiner Leute die genaue Route der drei Gruppen kannte. Es stimmte, dass Felix Carpio von Acoca gefangen genommen worden war. Es stimmte aber auch, dass diese Gefangennahme ein perfektes Alibi für Felix gewesen wäre. Im richtigen Augenblick hätte Acoca ihm dann die Flucht ermöglichen können.
Aber ich bin ihm zuvorgekommen, dachte Jaime. Paco überprüft die näheren Umstände des Falls. Hoffentlich ruft er bald an.
Amparo stand auf und wandte sich an Megan. »Komm, hilf mir abwaschen.«
Während die beiden Frauen das Geschirr abräumten, gingen die Männer ins Wohnzimmer hinüber.
»Die Nonne hält sich gut, was?« meinte Felix.
»Ja.«
»Du magst sie, stimmt’s?«
Jaime fand es schwierig, seinen Blick zu erwidern. »Ja, ich mag sie.« Und du würdest sie wie uns alle verraten.
»Was ist mit dir und Amparo?«
»Wir sind aus demselben Holz geschnitzt. Sie ist von unserer gerechten Sache so überzeugt wie ich. Francos Falangisten haben ihre ganze Familie umgebracht.« Jaime stand auf und reckte sich. »Wird langsam Zeit, ins Bett zu gehen.«
»Ich tue bestimmt die ganze Nacht kein Auge zu. Weißt du bestimmt, dass es einen Verräter gibt?«
Jaime erwiderte seinen Blick. »Ganz bestimmt!«
Als Jaime am nächsten Morgen zum Frühstück herunterkam, erkannte Megan ihn nicht. Sein Teint war dunkler, und er trug eine Perücke und einen angeklebten Schnurrbart. Seine schäbige Kleidung war nicht allzu sauber. In dieser Aufmachung sah er zehn Jahre älter aus.
»Guten Morgen«, sagte er. Und seine vertraute Stimme, die aus dieser fremden Gestalt kam, erschreckte sie fast.
»Woher hast du.?«
»Dieses Haus ist einer meiner gelegentlichen Zufluchtsorte. Ich bewahre hier alle möglichen Dinge auf, die ich benötigen könnte.«
Das sagte er ganz beiläufig, aber Megan erhielt dadurch plötzlich Einblick in das Leben, das Jaime führte. Wie viele weitere Häuser und Verkleidungen brauchte er, um überleben zu können? Wie oft mochte er dem Tod nur mit knapper Not entgangen sein? Sie erinnerte sich an die Brutalität der Männer, die das Kloster überfallen hatten, und dachte: Wenn sie Jaime fangen, hat er keine Gnade zu erwarten. Ich wollte, ich könnte ihn beschützen.
Durch Megans Kopf schwirrten Gedanken, die sie auf keinen Fall haben durfte.
»Wie lange bleiben wir hier?« erkundigte Felix sich während des von Amparo zubereiteten Frühstücks.
»Wir brechen auf, wenn’s dunkel wird«, antwortete Jaime ganz beiläufig.
Aber er hatte nicht die Absicht, Felix diese Information weitergeben zu lassen.
»Ich habe einiges zu erledigen«, erklärte er Felix. »Dabei brauche ich deine Hilfe.«
»Wird gemacht.«
Jaime rief Amparo nach draußen. »Sollte Paco anrufen, sagst du ihm, dass ich bald zurückkomme. Vielleicht kannst du mir was ausrichten.«
Sie nickte. »Sei vorsichtig!«
»Mach dir keine Sorgen.« Er wandte sich an Megan. »Dein letzter Tag. Morgen bist du wieder im Kloster. Du hast’s bestimmt eilig, dorthin zu kommen.«
Sie sah ihn lange an. »Ja.« Ich hab ’s nicht wirklich eilig, dachte sie. Eher im Gegenteil. Ich wollte, ich hätte es eilig. Ich werde mich wieder hinter Klostermauern verkriechen, aber mich mein Leben lang fragen, was aus Jaime und Felix und den anderen geworden sein mag.
Megan beobachtete, wie Jaime und Felix das Haus verließen. Zwischen den beiden Männern herrschte eine ihr unerklärliche Spannung.
Amparo musterte sie prüfend, und Megan erinnerte sich an ihre Behauptung: ]aime ist viel zuviel Mann für dich.
»Du machst die Betten«, wies Amparo sie kurz an. »Ich bereite das Mittagessen vor.«
»Einverstanden.«
Megan ging in die Schlafzimmer hinauf. Amparo starrte ihr nach, bevor sie selbst in der Küche verschwand.
Die nächste Stunde verbrachte Megan damit, sich auf Putzen, Bettenmachen und Staubwischen zu konzentrieren, um möglichst wenig an das Thema denken zu müssen, das sie nicht mehr losließ.
Ich muss ihn aus meinen Gedanken verbannen, dachte sie.
Aber das war unmöglich. Er glich einer Naturgewalt, die sich über alles ihr im Weg Stehende hinwegsetzte.
Sie schrubbte energischer.
Als Jaime und Felix zurückkamen, erwartete Amparo die beiden an der Haustür. Felix wirkte blass und angespannt.
»Mir geht’s nicht allzu gut. Ich lege mich ein bisschen hin, glaube ich.«
Sie beobachteten, wie er in einem der Schlafzimmer verschwand.
»Paco hat angerufen!« berichtete Amparo aufgeregt.
»Was hat er gesagt?«
»Er hat Informationen für dich, über die er am Telefon allerdings nicht reden wollte. Statt dessen schickt er einen seiner Männer her, mit dem du dich um zwölf Uhr auf dem Stadtplatz treffen sollst.«
Jaime runzelte nachdenklich die Stirn. »Er hat nicht gesagt, wen er schickt?«
»Nein - nur, dass es dringend ist.«
»Verdammt noch mal! Ich. schon gut, ich gehe hin. Du behältst inzwischen Felix im Auge.«
Amparo warf ihm einen erstaunten Blick zu. »Wie soll ich das verstehen?«
»Ich will nicht, dass er telefoniert.«
Sie nickte verständnisvoll. »Du hältst Felix also für den.?«
»Bitte! Tu einfach, worum ich dich gebeten habe.« Jaime sah auf seine Uhr. »Zwanzig vor zwölf. Ich muss gleich wieder fort. In ungefähr einer Stunde bin ich zurück. Pass gut auf dich auf, Querida.«
»Um mich brauchst du dir keine Sorgen zu machen.«
Megan hatte ihre Stimmen gehört.
Ich will nicht, dass er telefoniert.
Du hältst Felix also für den...?
Bitte! Tu einfach, worum ich dich gebeten habe.
Also ist Felix der Verräter, dachte Megan. Sie hatte gesehen, wie er in sein Schlafzimmer gegangen war und die Tür hinter sich geschlossen hatte. Sie hörte, wie Jaime das Haus verließ, und betrat das Wohnzimmer.
Amparo drehte sich nach ihr um. »Bist du fertig?«
»Noch nicht ganz. Ich.« Sie hätte am liebsten gefragt, wohin Jaime gegangen war, was sie mit Felix vorhatten und was als nächstes geschehen würde. Aber sie hatte keine Lust, darüber mit dieser Frau zu sprechen. Ich warte einfach, bis Jaime zurückkommt.
»Dann mach gefälligst weiter«, wies Amparo sie an.
Megan wandte sich ab und ging nach oben zurück. Sie dachte über Felix nach. Er wirkte so freundlich, so warmherzig. Er hatte ihr viele Fragen gestellt, aber jetzt sah sie seine scheinbare Freundlichkeit in einem anderen Licht. Der Bärtige hatte Informationen sammeln wollen, um sie an Oberst Acoca weiterzugeben. Deshalb schwebten sie nun alle in Lebensgefahr.
Vielleicht braucht Amparo Hilfe, dachte Megan. Sie machte sich auf den Weg nach unten, blieb aber dann am Fuß der Treppe stehen.
»Jaime ist eben weggegangen«, sagte eine Stimme. »Er will auf einer Bank auf dem Hauptplatz warten. Ihre Leute müssten ihn ohne weiteres festnehmen können.«
Megan stand wie erstarrt da.
»Er geht zu Fuß, deshalb dürfte er eine Viertelstunde unterwegs sein.«
Megan hörte mit wachsendem Entsetzen zu.
»Denken Sie an unsere Vereinbarung, Oberst«, sagte Amparo ins Telefon. »Sie haben versprochen, ihn am Leben zu lassen.«
Megan schlich an der nur angelehnten Wohnzimmertür vorbei. Ihre Gedanken befanden sich in wildem Aufruhr. Amparo war also die Verräterin! Und sie hatte Jaime in einen Hinterhalt geschickt.
Auf Zehenspitzen gehend erreichte Megan den Hinterausgang und verließ das Haus. Sie hatte keine Vorstellung davon, wie sie Jaime helfen könnte. Sie wusste nur, dass sie irgendetwas tun musste. Sobald sie auf der Straße war, hastete sie so rasch wie, ohne Aufsehen zu erregen, möglich in Richtung Innenstadt weiter.
»Bitte, lieber Gott, lass mich rechtzeitig kommen«, betete Megan unterwegs.
Der Spaziergang durch Leons schattige Alleen zum Hauptplatz war angenehm, aber Jaime Miro nahm seine Umgebung kaum wahr. Er dachte über Felix nach. Er hatte Felix wie einen Bruder behandelt und ihm sein volles Vertrauen geschenkt. Weshalb war Felix zum Verräter geworden, der bereit war, sie alle in höchste Gefahr zu bringen? Vielleicht konnte Pacos Bote ihn darüber aufklären. Weshalb hat Paco nicht am Telefon darüber sprechen können? fragte er sich.
Jaime erreichte den Hauptplatz mit seinem Springbrunnen und den Bänken unter schattenspendenden Bäumen. Fröhlich lärmende Kinder spielten Fangen. Einige alte Männer vertrieben sich die Zeit mit Boule. Auf einigen Parkbänken saßen einzelne Männer, die sich sonnten, dösten, Zeitung lasen oder die Tauben fütterten. Jaime überquerte die Straße, schlenderte auf eine freie Bank zu und nahm Platz. Als er auf seine Uhr sah, begann die Turmuhr eben, zwölfmal zu schlagen. Pacos Bote musste jeden Augenblick eintreffen.
Aus dem Augenwinkel heraus beobachtete Jaime, wie am anderen Ende des Platzes ein Streifenwagen vorfuhr. Er sah in die entgegen gesetzte Richtung. Dort hielt ein weiterer Streifenwagen. Polizeibeamte stiegen aus und kamen auf die Anlage zu. Sein Puls begann zu jagen. Dies war eine Falle! Aber wer hatte sie ihm gestellt? Paco, der die Nachricht übermittelt, oder Amparo, die sie aufgenommen hatte? Amparo hatte ihn hierher geschickt. Aber weshalb? Weshalb nur?
Jaime wusste, dass er sich jetzt nicht mit Schuldzuweisungen aufhalten durfte. Er musste irgendwie entkommen. Aber er war sich darüber im klaren, dass er niedergeschossen werden würde, sobald er zu flüchten versuchte. Er konnte versuchen, die Uniformierten zu bluffen, aber sie wussten offenbar, dass er hier war.
Lass dir was einfallen! Schnell!
Als Megan um die letzte Ecke bog, hatte sie die kleine Anlage vor sich. Sie erfasste die Situation mit einem einzigen raschen Blick. Sie sah Jaime, der auf einer Bank saß, und die Polizeibeamten, die von zwei Seiten auf ihn zukamen.
Megan überlegte angestrengt. Aber diesmal schien es für Jaime kein Entkommen zu geben.
Sie kam an einem Lebensmittelgeschäft vorbei. Der Gehsteig vor ihr wurde von einer jungen Mutter versperrt, die einen Kinderwagen schob. Jetzt stellte sie ihn seitlich neben der Ladentür ab und betrat das Geschäft, um einzukaufen. Ohne einen Augenblick zu zögern, packte Megan den Griff des Kinderwagens und schob ihn über die Straße in die Anlage.
Die Polizeibeamten gingen jetzt von Bank zu Bank und kontrollierten die dort sitzenden Männer. Megan drängte sich mit dem Kinderwagen an einem Uniformierten vorbei und schoss förmlich auf Jaime zu.
»Madre de Dios, hier bist du also, Manuel!« kreischte sie. »Jetzt reicht’s mir aber! Du hast versprochen, heute Vormittag die Wohnung zu streichen - und stattdessen flegelst du wie ein Millionär auf einer Parkbank rum! Meine Mutter hat doch recht gehabt: Du bist ein nichtsnutziger Strolch, den ich nie hätte heiraten sollen!«
Jaime brauchte nur Bruchteile von Sekunden, um zu erfassen, welche Komödie Megan spielte. Er stand langsam auf. »Deine Mutter versteht was von Strolchen. Schließlich hat sie selbst einen geheiratet. Wenn sie.« »Du hast gut reden! Unser Baby müsste hungern, wenn meine Mutter nicht wäre. Du tust jedenfalls nichts, um uns zu ernähren, und.«
Die Polizeibeamten waren stehen geblieben, um den Ehekrach zu verfolgen.
»Wenn das meine Frau wäre«, murmelte einer von ihnen, »würde ich sie zu ihrer Mutter zurückschicken.«
»Ich hab’ deine ewige Nörgelei satt, Alte!« brüllte Jai-me los. »Wer nicht hören will, muss fühlen! Wenn wir heimkommen, kannst du dich auf was gefasst machen!«
»Recht hat er«, meinte einer der Uniformierten.
Jaime und Megan, die den Kinderwagen vor sich her schoben, verließen streitend die Anlage. Die Polizeibeamten konzentrierten sich wieder auf die Männer auf den Parkbänken.
»Ihren Ausweis, bitte.«
»Was gibt’s denn? Was soll diese Kontrolle?«
»Das braucht Sie nicht zu interessieren. Zeigen Sie mir Ihren Ausweis.«
Überall in der kleinen Anlage zogen jetzt Männer Geldbörsen heraus, um ihre Ausweiskarten vorzuzeigen. Dann begann irgendwo ein Baby zu schreien. Einer der Polizeibeamten drehte sich danach um. Der Kinderwagen war am Ausgang der Anlage stehengelassen worden. Das streitende Ehepaar war spurlos verschwunden.
Eine halbe Stunde später betrat Megan das Haus durch den vorderen Eingang. Amparo ging nervös im Wohnzimmer auf und ab.
»Wo bist du gewesen?« fuhr sie Megan an. »Du hättest mir sagen müssen, dass du das Haus verlassen willst!«
»Ich hatte was Dringendes zu erledigen.«
»Was denn?« erkundigte Amparo sich misstrauisch.
»Du kennst hier doch keinen Menschen. Wenn du.«
Jaime kam herein. Amparo wurde leichenblass. Aber sie fing sich sofort wieder.
»Wie. was ist passiert?« fragte Amparo. »Bist du nicht in der Anlage gewesen?«
»Weshalb, Amparo?« wollte Jaime ruhig wissen.
Ein Blick in seine Augen genügte, um ihr zu zeigen, dass das Spiel aus war.
»Was hat dich so verändert?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich hab’ mich nicht verändert, sondern du, Jaime! Dieser dämliche Krieg, den du führst, hat mich alle Menschen gekostet, die ich geliebt habe. Ich hab’ dieses endlose Blutvergießen satt! Kannst du’s ertragen, die Wahrheit über dich zu hören, Jaime? Du bist so schlimm wie die Regierung, gegen die du kämpfst. Sogar noch schlimmer, denn sie ist friedensbereit -und du nicht. Glaubst du etwa, deinem Land zu helfen? In Wirklichkeit zerstörst du’s! Du überfällst Banken, jagst Autos in die Luft, ermordest Unschuldige. und hältst dich dabei für einen Helden. Ich habe dich geliebt und früher an dich geglaubt, aber.« Ihre Stimme brach. »Dieses Blutvergießen muss aufhören!«
Jaimes Blick glitzerte eisig, als er sich vor ihr aufbaute. »Ich sollte dich umbringen!«
»Nein«, protestierte Megan. »Bitte nicht! Du darfst ihr nichts tun.«
Felix war hereingekommen und hatte zugehört. »Verdammt noch mal, sie hat uns also verraten! Was machen wir mit dem Luder?«
»Wir müssen sie mitnehmen und dürfen sie keine Sekunde aus den Augen lassen«, entschied Jaime. Er packte Amparo an den Schultern und sagte eindringlich: »Noch ein übler Trick, dann bring’ ich dich um, das verspreche ich dir.« Er stieß sie von sich fort und wandte sich an Felix und Megan. »Los, wir müssen verschwinden, bevor ihre Freunde aufkreuzen.«