Das erste Gespräch hatte in dem eleganten Salon von Ellen Scotts Patriziervilla stattgefunden. Sie war unruhig auf und ab gegangen, während sie darauf gewartet hatte, dass Alan Tucker mit dem Mädchen eintraf. Nein, nicht mit einem Mädchen. Mit einer erwachsenen Frau. Einer Klosterschwester. Wie würde sie sein? Was hatte das Leben ihr angetan? Was habe ich ihr angetan?
Der Butler war hereingekommen. »Ihre Gäste sind eingetroffen, Madam.«
Sie hatte tief Luft geholt. »Ich lasse bitten.«
Sekunden später hatte Megan vor Alan Tucker den Salon betreten.
Sie ist schön, dachte Ellen Scott.
Tucker lächelte. »Mrs. Scott, das hier ist Megan.«
Ellen Scott erwiderte seinen Blick. »Danke, ich brauche Sie nicht mehr«, sagte sie ruhig. Ihre Worte klangen endgültig.
Sein Lächeln verschwand schlagartig.
»Leben Sie wohl, Tucker.«
Er zögerte noch einen Augenblick, nickte dann und ging. Irgendwie wurde er das Gefühl nicht los, etwas übersehen zu haben. Etwas sehr Wichtiges. Zu spät, dachte er resigniert. Viel zu spät.
Ellen Scott betrachtete Megan. »Nehmen Sie bitte Platz.«
Megan ließ sich in dem angebotenen Sessel nieder und musterte ihrerseits die ältere Frau.
Sie sieht ihrer Mutter sehr ähnlich, dachte Ellen Scott. Sie ist zu einer Schönheit herangewachsen. Sie erinnerte sich an die Schreckensnacht des Flugzeugabsturzes, an das Gewitter und die brennende Maschine.
Du hast gesagt, sie sei tot... Aber wir können etwas unternehmen... Der Pilot hat gesagt, wir seien in der Nähe von Avila. Dort sind immer viele Touristen. Niemand hätte Anlass, ein ausgesetztes Kleinkind mit dem Flugzeugabsturz in Verbindung zu bringen... Wir setzen sie auf irgendeinem Bauernhof außerhalb der Stadt aus. Dort wird sie adoptiert und wächst glücklich und zufrieden auf. Du musst dich entscheiden, Milo. Du kannst mich haben - oder für den Rest deines Lebens für deine Nichte schuften.
Und nun hatte die Vergangenheit sie eingeholt. Wo sollte sie beginnen?
»Ich bin Ellen Scott, die Präsidentin der Firma Scott Industries. Ist Ihnen dieser Name ein Begriff?«
»Nein.«
Natürlich hat sie im Kloster nie davon gehört! schalt Ellen sich.
Diese Sache würde schwieriger werden, als sie vorausgesehen hatte. Sie hatte sich eine Geschichte über einen alten Freund der Familie zurechtgelegt, dem sie auf dem Totenbett versprochen hatte, sich um seine Tochter zu kümmern. Aber ein Blick hatte genügt, um Ellen Scott zu zeigen, dass Megan sich nicht hinters Licht führen lassen würde.
Ihr blieb keine andere Wahl, als darauf zu vertrauen, dass Patricia - Megan - sie nicht alle ins Unglück stürzen würde. Ellen Scotts Augen füllten sich mit Tränen, als sie daran dachte, was sie der ihr Gegenübersitzenden alles angetan hatte. Aber für Tränen ist’s zu spät. Jetzt ist tätige Reue angesagt. Jetzt muss die Wahrheit auf den Tisch!
Ellen Scott beugte sich zu Megan hinüber und ergriff ihre Hand. »Ich muss Ihnen eine Geschichte erzählen, meine Liebe«, sagte sie ruhig.
Das war vor drei Jahren gewesen. Bis Ellen Scotts Zustand sich nach einem Jahr dramatisch verschlechtert hatte, hatte sie Megan unter ihre Fittiche genommen. Megan war in die Geschäftsführung der Firma Scott In-dustries eingetreten, und ihre Begabung und Intelligenz hatten ihre Tante begeistert.
»Du wirst schwer arbeiten müssen«, hatte Ellen Scott gesagt. »Du wirst lernen, wie ich gelernt habe. Anfangs wird es schwierig sein, aber zuletzt wird die Firma dein Lebensinhalt werden.«
Und das war sie geworden.
Megan bewältigte ein Arbeitspensum, das keiner ihrer Angestellten auch nur annähernd erreichte.
»Du bist schon um vier Uhr morgens im Büro und arbeitest den ganzen Tag lang. Wie schaffst du das nur?«
Megan lächelte und dachte: Hätte ich im Kloster bis vier Uhr geschlafen, hätte Schwester Betina mich ausgescholten.
Ellen Scott lebte nicht mehr, aber Megan hatte weitergelernt und zugesehen, wie der Konzern - ihre Firma -wuchs. Ellen Scott hatte sie adoptiert. »Damit wir nicht erklären müssen, weshalb du eine Scott bist«, hatte sie mit einem Anflug von Stolz in der Stimme gesagt.
Eigentlich eine Ironie des Schicksals, hatte Megan sich überlegt. In all den Jahren im Waisenhaus hat mich niemand adoptieren wollen. Und jetzt werde ich von meiner eigenen Familie adoptiert.
Gott hat einen wunderbaren Sinn für Humor.