16

Der Pilot der Lockheed Lodestar machte sich Sorgen.

»Die Gewitterfront vor uns sieht schlimm aus. Das gefällt mir nicht.« Er nickte seinem Kopiloten zu. »Übernehmen Sie das Steuer.« Er verließ das Cockpit, um nach hinten in die Kabine zu gehen.

Außer den beiden Piloten waren fünf Passagiere an Bord: Byron Scott, der brillante, dynamische Gründer und Präsident der Firma Scott Industries, seine attraktive Frau Susan, ihre einjährige Tochter Patricia, Byron Scotts jüngerer Bruder Milo und seine Frau Ellen. Sie waren in einem Firmenflugzeug von Paris nach Madrid unterwegs. Dass auch die kleine Patricia mit flog, war auf eine in letzter Minute getroffene impulsive Entscheidung Susan Scotts zurückzuführen.

»Ich kann’s nicht ertragen, so lange von ihr getrennt zu sein«, hatte sie ihrem Mann erklärt.

»Hast du Angst, sie könnte uns vergessen?« hatte er sie geneckt. »Okay, wir nehmen sie also mit.«

Nachdem der Zweite Weltkrieg nun vorüber war; investierte der Konzern Scott Industries verstärkt in Europa. In Madrid wollte Byron Scott Verhandlungen wegen des Baus eines neuen Stahlwerks führen.

Jetzt blieb der Pilot vor ihm stehen.

»Entschuldigen Sie, Sir, aber vor uns steht eine Gewitterfront. Sie sieht ziemlich schlimm aus. Möchten Sie lieber umkehren?«

Byron Scott sah aus seinem kleinen Fenster. Die Maschine flog durch bis zum Horizont reichende graue Kumulustürme, die alle paar Sekunden von noch entfernten Blitzen erhellt wurden. »Ich habe heute Abend in Madrid eine Besprechung. Können Sie das Gewitter nicht umfliegen?«

»Ich kann’s versuchen. Falls das nicht gelingt, muss ich umkehren.«

Byron Scott nickte. »Einverstanden.«

»Schnallen Sie sich bitte an.«

Der Pilot hastete nach vorn ins Cockpit zurück.

Susan Scott hatte das Gespräch mitgehört. Sie nahm ihre kleine Tochter vom Sitz, hielt sie in den Armen und wünschte sich plötzlich, sie hätte sie nicht mitgenommen. Ich muss Byron sagen, er soll den Piloten anweisen, gleich umzukehren, dachte sie.

»Byron.«

Im nächsten Augenblick wurden sie vom Sturm erfasst, und das Flugzeug begann in heftigen Böen auf und ab zu tanzen. Das Bocken und Rütteln wurde immer schlimmer. Regen trommelte gegen die Fenster. In den Wolken war die Sicht auf Null zurückgegangen. Die Passagiere hatten das Gefühl, sich in einer tanzenden Nussschale auf einem Meer aus Watte zu befinden.

Byron Scott schaltete die Bordsprechanlage ein. »Wo sind wir, Blake?«

»Hundert Kilometer nordwestlich von Madrid - ziemlich genau über Avila.«

Scott warf erneut einen Blick aus dem Fenster. »Ich muss heute Abend nicht mehr nach Madrid. Wir kehren um und sehen zu, dass wir hier rauskommen.«

»Verstanden.«

Dieser Entschluss war eine Minute zu spät gekommen. Als der Pilot die Maschine in eine Linkskurve legte, ragte plötzlich ein Berggipfel vor ihm auf. Der Aufprall war nicht mehr zu vermeiden. Metall kreischte auf, als das Flugzeug gegen den Berg krachte und auseinanderbrach, so dass seine Teile über ein Hochplateau verstreut wurden.

Danach schien eine Ewigkeit lang unnatürliche Stille zu herrschen, die erst durch das Knistern und Prasseln der Flammen unterbrochen wurde, die den Flugzeugrumpf zu verzehren begannen.

»Ellen.«

Ellen Scott schlug die Augen auf. Sie lag unter einem Baum. Ihr Mann beugte sich über sie und rüttelte sie an den Schultern. Als er sah, dass sie wieder zu sich gekommen war, atmete er erleichtert auf. »Gott sei Dank -du lebst!«

Ellen Scott setzte sich benommen auf. Sie hatte pochende Kopfschmerzen, und jeder Muskel ihres Körpers schmerzte. Sie betrachtete die zerfetzten Wrackteile, die einst ein Flugzeug gewesen waren, und fuhr zusammen.

»Die anderen?« fragte sie heiser.

»Tot, alle tot.«

Sie starrte ihren Mann an. »Großer Gott, das darf nicht wahr sein!«

Milo nickte, sichtlich geschockt. »Byron, Susan, Patricia, die Piloten - alle tot!«

Ellen Scott schloss erneut die Augen und schickte ein stummes Dankgebet gen Himmel. Warum sind Milo und ich verschont geblieben? fragte sie sich. Es fiel ihr schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Wir müssen ins Tal und Hilfe holen. Aber die käme zu spät. Sie sind alle tot. Das war unmöglich zu begreifen. Noch vor wenigen Minuten waren alle noch so voller Leben gewesen.

»Kannst du aufstehen?«

»Ich. ich glaube schon.«

Milo Scott zog seine Frau hoch. Sie erlitt einen starken Schwindelanfall und blieb hilflos stehen, während sie darauf wartete, dass er abklang.

Milo sah sich nach dem Flugzeug um. Die Flammen schlugen bereits höher. »Los, wir müssen weg!« drängte er. »Das verdammte Ding kann jeden Augenblick explodieren.«

Die beiden hasteten davon und machten in sicherer Entfernung erneut halt, um den Brand zu beobachten. Sekunden später explodierten die Treibstofftanks und hüllten das Wrack in Flammen.

»Ein Wunder, dass wir noch leben«, stellte Milo fest.

Ein Wunder - aber nicht für die anderen.

Ellen starrte das brennende Flugzeugwrack an. Irgendetwas versuchte, sich am Rande ihres Bewusstseins bemerkbar zu machen, aber sie hatte Mühe, es zu erfassen. Irgendetwas mit Scott Industries. Aber dann wusste sie’s plötzlich.

»Milo?«

»Ja?« Er hörte gar nicht richtig zu.

»Dies ist ein Wink des Schicksals.«

Die Inbrunst in ihrer Stimme brachte ihn dazu, sich ruckartig umzudrehen. »Wie meinst du das?«

»Scott Industries. jetzt gehört alles dir!«

»Ich verstehe nicht, was.«

»Milo, Gott hat sie dir geschenkt«, behauptete Ellen mit vor Erregung heiserer Stimme. »Du hast dein Leben lang im Schatten deines großen Bruders gestanden. Du hast zwanzig Jahre lang für Byron geschuftet und die Firma mit ihm aufgebaut. Dass sie erfolgreich gewesen ist, ist ebenso dein Verdienst gewesen - aber hat Byron das jemals anerkannt? Nein! Es ist immer seine Firma, sein Erfolg und sein Gewinn gewesen. Aber jetzt hast du endlich eine Chance, dich selbst zu beweisen.«

Er starrte sie entsetzt an. »Ellen.. sie sind noch keine. Wie kannst du nur an so was.?«

»Ich weiß, was du sagen willst. Aber wir haben sie nicht umgebracht. Jetzt sind wir an der Reihe, Milo! Wir haben’s endlich geschafft. Außer uns kann niemand Anspruch auf die Firma erheben. Sie gehört uns! Dir!«

Im nächsten Augenblick hörten sie ein Kleinkind schreien. Ellen und Milo Scott starrten sich ungläubig an.

»Das ist Patricia. Großer Gott, sie lebt!«

Sie fanden die Kleine in der Nähe einer Buschgruppe. Wie durch ein Wunder war sie unverletzt.

Milo hob sie auf und drückte sie sanft an sich. »Pst! Alles ist wieder gut, mein Schatz«, flüsterte er. »Alles wird wieder gut.«

Ellen, die neben ihm stand, war sichtlich schockiert. »Du. du hast gesagt, sie sei tot.«

»Sie muss zunächst bewusstlos gewesen sein.«

Ellen starrte die kleine Patricia lange an. »Sie hätte mit den anderen umkommen sollen«, sagte sie mit erstickter Stimme.

Er starrte sie entsetzt an. »Was soll das heißen?«

»Byron hat Patricia in seinem Testament als Alleinerbin eingesetzt. Du kannst dich darauf einstellen, die nächsten zwanzig Jahre als ihr Statthalter zu fungieren, damit sie dich als Volljährige ebenso schäbig behandeln kann, wie’s ihr Vater getan hat. Willst du das wirklich?«

Milo Scott schwieg.

»So eine Chance bekommen wir nie wieder!« Ellen starrte die Kleine mit einem Blick an, den Milo noch nie bei ihr gesehen hatte. Man hätte glauben können, sie spiele mit dem Gedanken.

Sie ist nicht bei klarem Verstand. Sie muss eine Gehirnerschütterung haben. »Um Himmels willen, woran denkst du, Ellen?«

Sie erwiderte Milos Blick sekundenlang, dann erlosch das wilde Feuer in ihren Augen. »Das weiß ich selbst nicht«, antwortete sie ruhig. Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: »Aber wir können etwas unternehmen. Wir können sie irgendwo aussetzen, Milo. Der Pilot hat gesagt, wir seien in der Nähe von Avila. Dort sind immer viele Touristen. Niemand hätte Anlass, ein ausgesetztes Kleinkind mit dem Flugzeugabsturz in Verbindung zu bringen.«

Er schüttelte den Kopf. »Byrons und Susans Freunde wissen, dass sie Patricia mitgenommen haben.«

Ellen starrte das brennende Flugzeugwrack an. »Das wäre kein Problem. Außer uns sind alle beim Absturz verbrannt. Wir halten hier oben einen privaten Gedenkgottesdienst ab.«

»Das ist unmöglich, Ellen!« protestierte er. »Damit kämen wir niemals durch!«

»Gott hat uns diese Chance gegeben. Wir werden damit durchkommen.«

Milo drückte seien kleine Nichte an sich. »Aber sie ist so.«

»Hier fehlt ihr nichts«, beruhigte Ellen ihn. »Wir setzen sie auf irgendeinem Bauernhof außerhalb der Stadt aus. Dort wird sie adoptiert und wächst glücklich und zufrieden auf.«

Er schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht. Ich bring’s nicht über mich. Nein, Ellen!«

»Wenn du mich liebst, tust du’s für uns. Du musst dich entscheiden, Milo. Du kannst mich haben - oder für den Rest deines Lebens für deine Nichte schuften.«

»Bitte, ich.«

»Liebst du mich?« »Mehr als mein Leben«, sagte er einfach.

»Dann musst du’s jetzt beweisen.«

Ellen und Milo, der Patricia trug, stiegen vorsichtig durch die sturmgepeitschte Dunkelheit ab. Da die Absturzstelle hoch in bewaldeten Bergen lag, waren das Krachen und die Explosionsgeräusche nicht bis ins Tal gedrungen, so dass die Einwohner Avilas noch nichts von dem Absturz wussten.

Es war noch nicht Mitternacht, als sie nach vierstündigem Abstieg ein kleines Bauernhaus unweit von Avila erreichten.

»Hier lassen wir sie zurück«, flüsterte Ellen.

Er unternahm einen letzten Versuch. »Ellen, könnten wir sie nicht.?«

»Los!« fauchte sie aufgebracht.

Milo machte wortlos kehrt und trüg seine schlafende Nichte zur Tür des Bauernhauses. Patricia trug nur ein zerfetztes rosa Hemdchen und war in eine Wolldecke gewickelt.

Milo Scott hatte Tränen in den Augen, als er die Kleine zum letzten Mal anstarrte, bevor er sie sanft niederlegte.

»Ich wünsche dir ein schönes Leben, Schatz«, flüsterte er dabei.

Das Weinen weckte Asuncion Moras auf. Im Halbschlaf dachte sie zunächst, sie habe eine Ziege meckern oder ein Schaf blöken hören. Wie war es aus dem Pferch herausgekommen?

Sie stand brummelnd aus ihrem warmen Bett auf, schlüpfte in einen aus gebleichten Morgenrock und ging zur Tür.

»Madre de Dios!« rief sie aus, als sie das kleine Kind strampelnd und schreiend auf der Erde liegen sah, und rief nach ihrem Mann.

Sie holten das Kind herein und starrten es an. Die Kleine wollte nicht zu schreien aufhören und schien allmählich blau anzulaufen.

»Wir müssen sie ins Krankenhaus bringen.«

Sie wickelten das kleine Mädchen hastig in eine weitere Decke, trugen sie zu ihrem Pritschenwagen und fuhren sie ins Krankenhaus. Dort saßen sie fast eine halbe Stunde lang unbeachtet auf einer Bank im Korridor, bis ein Arzt kam und ihnen die Kleine abnahm, um sie zu untersuchen.

»Sie hat eine Lungenentzündung«, sagte er, als er zurückkam.

»Kommt sie durch?«

Der Arzt zuckte mit den Schultern.

Milo und Ellen Scott kamen ins Polizeirevier Avila gestolpert.

Der Wachhabende zog die Augenbrauen hoch, als er die beiden erschöpften Touristen sah. »Guten Abend. Was kann ich für Sie tun?«

»Es hat einen schrecklichen Unfall gegeben«, berichtete Milo. »Unser Flugzeug ist in den Bergen abgestürzt und.«

Eine Stunde später war eine Rettungsmannschaft zur Absturzstelle in den Bergen unterwegs. Als sie den Unfallort endlich erreichte, fand sie lediglich die noch rauchenden, verkohlten Überreste eines Flugzeugs und seiner Passagiere.

Die Untersuchung der Unfallursache durch die spanischen Behörden war oberflächlich.

»Der Pilot hätte nicht versuchen dürfen, ein so heftiges Gewitter zu durchfliegen«, lautete die Zusammenfassung des Untersuchungsergebnisses. »So ist der Unfall letztlich auf menschliches Versagen zurückzuführen.«

In Avila hatte niemand Anlass, eine Verbindung zwischen dem Flugzeugabsturz und dem vor einem Bauernhaus ausgesetzten kleinen Mädchen herzustellen.

Es war geschafft.

Es fing damit erst an.

Milo und Ellen Scott hielten in Avila einen privaten Gedenkgottesdienst für Byron Scott, seine Frau Susan und ihre Tochter Patricia ab.

Nach ihrer Rückkehr nach New York fand ein zweiter Gedenkgottesdienst statt, an dem die erschütterten Freunde der Scotts teilnahmen.

»Was für eine schreckliche Tragödie! Und die arme kleine Patricia!«

»Ja«, bestätigte Ellen Scott mit Trauermiene. »Der einzige Trost ist, dass alles so schnell passiert ist, dass keiner von ihnen hat leiden müssen.«

Byron Scotts Unfalltod ließ die amerikanische Wirtschaft erbeben.

Der Kurs der Aktien von Scott Industries fiel ins Bodenlose. Aber das beunruhigte Ellen Scott keineswegs.

»Das braucht dir kein Kopfzerbrechen zu machen«, versicherte sie ihrem Mann. »Der Kurs steigt auch wieder. Du bist besser, als Byron jemals gewesen ist. Er hat die Firma eher gebremst, Milo. Du wirst dafür sorgen, dass sie sich weiterentwickelt.«

Milo schloss sie in die Arme. »Ich weiß nicht, wie ich ohne dich zurechtkäme.«

Sie lächelte. »Das brauchst du nie mehr. In Zukunft werden wir alles bekommen, was wir uns je erträumt haben.«

Sie hielt ihn an sich gedrückt und dachte: Wer hätte geglaubt, dass Ellen Dudash aus einer armen polnischen Familie in Gary, Indiana, eines Tages würde sagen können: »In Zukunft werden wir alles bekommen, was wir uns je erträumt haben?«

Und dass das ihr Ernst sein würde.

Das kleine Mädchen lag zehn Tage auf Leben und Tod im Krankenhaus, und als die Krise vorüber war, besuchte Pater Berrendo Jose Moras und seine Frau.

»Ich habe frohe Nachrichten für Sie«, verkündete er heiter. »Die Kleine ist bald wieder ganz gesund.«

Das Ehepaar Moras wechselte einen unbehaglichen Blick.

»Freut mich für sie«, antwortete der Bauer ausweichend.

Pater Berrendo strahlte. »Sie ist ein Geschenk Gottes.«

»Gewiss, Pater. Aber meine Frau und ich haben die Sache durchgesprochen und eingesehen, dass Gott es allzu gut mit uns gemeint hat. Sein Geschenk muss ernährt werden. Wir können es uns nicht leisten, die Kleine aufzuziehen.«

»Aber sie ist ein so hübsches Kind«, stellte Pater Ber-rendo fest. »Und.«

»Ganz recht. Aber meine Frau und ich sind alt und krank und können nicht die Verantwortung für ein kleines Kind übernehmen. Gott wird sein Geschenk zurücknehmen müssen.«

Und so geschah es, dass das kleine Mädchen, das niemand haben wollte, ins Waisenhaus Avila kam.

Sie saßen zur Testamentseröffnung in der Kanzlei von Byron Scotts Rechtsanwalt. Ellen war von fast unerträglicher Spannung erfüllt. Einige wenige Sätze würden Milo und sie steinreich machen.

Wir kaufen alte Meister und eine Villa in Südengland und ein Schloss in Frankreich. Und das ist erst der Anfang.

Der Anwalt begann zu sprechen, und Ellen konzentrierte sich auf ihn. Sie hatte vor einigen Monaten eine Abschrift von Byrons Testament gelesen und erinnerte sich genau an den Wortlaut der entscheidenden Passage:

Sollten meine Frau und ich sterben, vermache ich meine sämtlichen Anteile an der Firma Scott Industries meinem einzigen Kind Patricia und ernenne meinen Bruder Milo zum Testamentsvollstrecker, bis sie volljährig ist und die Führung des Konzerns übernehmen kann.

Nun, das hat sich jetzt alles geändert! dachte Ellen aufgeregt.

»Für uns alle ist das ein grausiger Schock gewesen«, sagte Lawrence Gray, der Rechtsanwalt. »Ich weiß, wie sehr Sie an Ihrem Bruder gehangen haben, Milo, und was die niedliche Kleine betrifft.« Er schüttelte den Kopf. »Na ja, das Leben geht weiter. Sie wissen vielleicht nicht, dass Ihr Bruder sein Testament geändert hat. Ich will Sie nicht mit juristischen Floskeln langweilen, sondern Ihnen nur die entscheidende Bestimmung vorlesen.«

Gray blätterte in dem Testament, bis er den gesuchten Absatz gefunden hatte.

»Ich ändere mein Testament dahingehend ab, dass meine Tochter fünf Millionen Dollar in bar sowie lebenslänglich eine Apanage von einer Million Dollar pro Jahr erhält. Alle meine Anteile an Scott Industries vermache ich meinem Bruder Milo als Anerkennung für die treuen und wertvollen Dienste, die er der Firma im Laufe der Jahre erwiesen hat.«

Milo Scott hatte das Gefühl, der Raum drehe sich um ihn.

Der Anwalt sah auf. »Fühlen Sie sich nicht wohl?«

Milo rang nach Luft. Großer Gott, was haben wir getan? Wir haben sie um ihr Geburtsrecht betrogen - und jetzt zeigt sich, dass das überflüssig gewesen ist! jetzt können wir’s ihr zurückgeben.

Er wollte etwas zu Ellen sagen, aber ihr Blick brachte ihn zum Schweigen.

»Es muss irgendwas geben, das wir tun können, Ellen. Wir können Patricia nicht einfach dort lassen. Jetzt nicht mehr.«

Sie waren in ihrem Apartment in der Fifth Avenue und zogen sich für ein Wohltätigkeitsdinner um.

»Genau das müssen wir aber tun«, stellte Ellen fest. »Es sei denn, du möchtest sie hierher holen und zu erklären versuchen, weshalb wir behauptet haben, sie sei nach dem Absturz mit den anderen verbrannt.«

Darauf wusste Milo keine Antwort. Er überlegte kurz. »Gut, dann schicken wir ihr jeden Monat Geld, damit sie.«

»Red keinen Unsinn, Milo!« schnitt Ellen ihm das Wort ab. »Wir sollen ihr Geld schicken? Damit die Polizei sich dafür interessiert, weshalb ihr jemand Geld schickt, und uns als Absender identifiziert? Kommt nicht in Frage! Wenn du Gewissensbisse hast, können wir Geld für wohltätige Zwecke spenden. Denk nicht mehr an die Kleine, Milo. Sie ist tot - oder hast du das vergessen?«

Während Ellen Scott im Waldorf-Astoria ihre Rede zu Ende brachte, glaubte sie das Echo dieser Worte zu hören. Ihre Zuhörer brachten ihr erneut stehende Ovationen dar.

Ihr steht für eine Tote auf, dachte sie.

In dieser Nacht kamen die Geister zurück, die Ellen längst ausgetrieben zu haben glaubte. In der ersten Zeit nach den Gedenkgottesdiensten für ihren Schwager, ihre Schwägerin und Patricia waren diese nächtlichen Besucher häufig gekommen. Blässlich wabernde Nebel hatten ihr Bett eingehüllt, und geisterhafte Stimmen hatten zu ihr gesprochen. Sie war jedes Mal mit hämmerndem Puls hochgefahren, ohne dann irgendetwas zu sehen.

Milo hatte sie nie davon erzählt. Er war schwach und hätte sich vielleicht aus Angst zu einer Dummheit hinreißen lassen, die der Firma hätte schaden können. Wäre die Wahrheit ans Tageslicht gekommen, hätte der Skandal das Ende des Konzerns bedeutet, und Ellen Scott war entschlossen, es niemals dazu kommen zu lassen. Deshalb ertrug sie die Geister schweigend, bis sie endlich verschwanden und sie in Ruhe ließen.

Aber jetzt - in der Nacht nach dem Bankett - kehrten sie zurück. Ellen Scott setzte sich in ihrem Bett auf und sah sich um. Der Raum war leer und still, aber sie wusste, dass sie da gewesen waren. Was hatten sie ihr zu sagen versucht? Wussten sie, dass sie sich bald zu ihnen gesellen würde?

Ellen Scott stand auf und ging in den geräumigen, mit Antiquitäten möblierten Salon des schönen Stadthauses hinüber, das sie nach Milos Tod gekauft hatte. Sie sah sich in dem geschmackvollen Raum um und dachte: Armer Milo! Er hatte kaum Gelegenheit gehabt, den ihm in den Schoß gefallenen Reichtum zu genießen. Ein Jahr nach dem Flugzeugabsturz war er einem Herzinfarkt erlegen, und Ellen hatte die Leitung des Konzerns übernommen und Scott Industries energisch und tatkräftig zu einem weltumspannenden Imperium ausgebaut.

Das Unternehmen gehört der Familie Scott, dachte sie. Ich habe nicht die Absicht, es gesichtslosen Fremden zu überlassen.

Diese Überlegung ließ sie an Byrons und Susans Tochter denken - an die rechtmäßige Thronerbin, die sie um ihr Erbe betrogen hatte. Bestimmte Angst ihre Gedanken? Hatte sie den Wunsch nach Wiedergutmachung vor ihrem Tode?

Ellen Scott saß die ganze Nacht lang in ihrem luxuriösen Salon, starrte ins Leere, dachte nach und plante. Wie lange war alles schon her? Achtundzwanzig Jahre. Falls Patricia noch lebte, war sie inzwischen längst eine erwachsene Frau. Wie hatte sich ihr Leben entwickelt? Hatte sie einen Bauern oder einen kleinen Geschäftsmann aus der Stadt geheiratet? Hatte sie Kinder? Lebte sie noch in Avila, oder war sie irgendwohin umgezogen?

Ich muss sie finden, dachte Ellen Scott. Und das so schnell wie möglich! Falls Patricia noch lebt, muss ich sie sehen, mit ihr sprechen. Ich muss mein Schuldkonto endlich bereinigen. Geld kann Lügen in Wahrheit verwandeln. Ich finde irgendeine Lösung, ohne sie jemals wissen zu lassen, was wirklich passiert ist.

Am nächsten Morgen ließ sie Alan Tucker, den Chef des Sicherheitsdienstes der Scott Industries, zu sich kommen. Er war ein ehemaliger Kriminalbeamter, ein hagerer, blässlicher, cleverer, eminent fleißiger Vierziger mit Stirnglatze.

»Ich möchte, dass Sie einen Auftrag für mich übernehmen.« »Ja, Mrs. Scott.«

Sie betrachtete ihn nachdenklich, während sie sich fragte, wie viel sie ihm erzählen durfte. Nichts, gar nichts, entschied sie. Solange ich lebe, will ich weder mich noch das Unternehmen gefährden. Er soll erst Patricia finden; danach überlege ich mir, wie ich mit ihm umgehe.

Sie beugte sich nach vorn. »Vor achtundzwanzig Jahren ist ein Waisenkind, ein einjähriges Mädchen, vor einem Bauernhaus in der Nähe der spanischen Stadt Avila ausgesetzt worden. Ich möchte, dass Sie ihren gegenwärtigen Aufenthaltsort feststellen und sie so rasch wie möglich zu mir bringen.«

Alan Tuckers Gesicht blieb ausdruckslos. Mrs. Scott hatte es nicht gern, wenn ihre Angestellten Emotionen erkennen ließen.

»Ja, Ma’am. Wissen Sie zufällig, wie sie heißt?«

»Patricia. Sie heißt Patricia.«

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