28

Ricardo Mellado hatte die Höhle schon fast wieder erreicht, als er plötzlich einen großen grauen Wolf auf den Eingang zutrotten sah. Nach einem Augenblick, in dem er vor Schreck starr war, bewegte er sich schneller als je zuvor in seinem Leben. Während er zum Höhleneingang rannte, zog er bereits seine Pistole. Im nächsten Augenblick war er in der Höhle.

»Schwester!«

Im Dämmerlicht sah er, wie das riesige graue Tier Gra-ciela ansprang, riss seine Waffe hoch und schoss. Der Wolf heulte auf, ließ von seinem Opfer ab und stürzte sich auf Ricardo. Er spürte, wie die Fänge des angeschossenen Tiers seine Kleidung zerfetzten, und roch den Raubtieratem des Wolfs. Das Tier war stärker und schwerer, als er erwartet hatte, und sein Ansturm ließ ihn nicht mehr zum Schuss kommen.

Ricardo kämpfte mit schwindenden Kräften gegen das Raubtier an. »Weg!« keuchte er, als er undeutlich wahrnahm, dass Graciela näher kam.

Er sah Gracielas Hände über seinem Kopf, und als sie herab fielen, erkannte er, dass sie einen großen Felsbrocken in den Händen hielt, und dachte: Sie will mir den Schädel einschlagen.

Im nächsten Augenblick zertrümmerte der Felsbrocken jedoch den Schädel des Wolfs, der zuckend verendete. Ricardo blieb nach Atem ringend auf dem Höhlenboden liegen. Graciela kniete neben ihm nieder.

»Bist du verletzt?« Ihre Stimme zitterte vor Besorgnis.

Ricardo konnte nur den Kopf schütteln. Er hörte ein Winseln hinter sich, drehte sich um und erkannte undeutlich die in einer Ecke der Höhle zusammengedrängten Wolfsjungen. Als er wieder zu Atem gekommen war, stand er mit Gracielas Hilfe auf.

Sie stolperten mit weichen Knien in die frische Bergluft hinaus. Ricardo blieb auf Graciela gestützt stehen und holte mehrmals tief Luft, bis er wieder klar denken konnte. Der körperliche und emotionale Schock, dem Tod nur um Haaresbreite entkommen zu sein, hatte ihnen beiden schwer zugesetzt.

»Komm, wir müssen weg, bevor sie uns hier finden!« stellte Ricardo schließlich fest.

Graciela erschauderte bei dem Gedanken an die Gefahr, in der sie noch immer schwebten.

Sie folgten dem jetzt bergab führenden Pfad noch eine Stunde lang. »Hier können wir bleiben«, sagte Ricardo, als sie einen kleinen Bergbach erreichten.

Da sie weder Desinfektions- noch Verbandmaterial hatten, säuberten sie ihre Hautabschürfungen und Kratzwunden notdürftig in dem kalten, klaren Quellwasser. Ricardos linker Arm war so steif, dass er ihn kaum bewegen konnte. Zu seiner Überraschung sagte Graciela: »Komm, lass mich die Wunden auswaschen.«

Noch mehr überraschte ihn, wie sanft und geschickt sie dabei arbeitete.

Dann machte sich die Nachwirkung des erlittenen Schocks plötzlich bemerkbar: Graciela begann heftig zu zittern.

»Schon gut, schon gut«, sagte Ricardo beruhigend. »Jetzt kann dir nichts mehr passieren.«

Sie konnte nicht zu zittern aufhören.

Ricardo schloss sie in die Arme. »Pst! Der Wolf ist tot. Er kann dir nichts mehr tun.«

Im nächsten Augenblick drängte Graciela sich gegen ihn, und ihre weichen Lippen pressten sich auf seine. Dann drückte sie ihn an sich und flüsterte unverständliche Koseworte. Sobald Ricardo sich von seiner ersten Überraschung erholt hatte, erwiderte er ihre Küsse leidenschaftlich.

Es war, als habe er Graciela schon immer gekannt. Und trotzdem wusste er fast nichts über sie. Außer, dass sie ein Wunder Gottes ist, dachte er.

Auch Graciela dachte an Gott. Herr, ich danke dir für diese Freude. Ich danke dir, dass du mich endlich hast fühlen lassen, was wahre Liebe ist.

Ricardo, dem Gracielas Schönheit noch immer den Atem verschlug, starrte sie bewundernd an. Sie gehört jetzt mir, sagte er sich. Sie braucht in kein Kloster zurückzugehen. Wir heiraten und bekommen schöne Kinder... starke Söhne.

»Ich liebe dich«, flüsterte er. »Ich lasse dich nie mehr fort, Graciela.«

»Ricardo.«

»Liebling, ich möchte dich heiraten. Willst du meine Frau werden?«

»Ja«, antwortete Graciela impulsiv. »O ja!«

Dann lag sie wieder in seinen Armen und dachte: Das habe ich mir immer gewünscht und geglaubt, es niemals zu bekommen.

»Wir können eine Zeitlang in Frankreich leben, wo wir in Sicherheit sind«, fuhr Ricardo fort. »Unser Kampf ist bald zu Ende - und dann kommen wir nach Spanien zurück.«

Und Graciela wusste, dass sie diesem Mann bis ans Ende der Welt folgen und alle Gefahren mit ihm teilen würde.

Sie sprachen über alles mögliche. Ricardo erzählte ihr, wie er zu Jaime Miro gestoßen war, und berichtete von der verständnislosen Haltung seines Vaters und der aufgelösten Verlobung. Aber als er darauf wartete, dass Graciela aus ihrem früheren Leben erzählen würde, blieb sie stumm.

Ich kann’s ihm nicht sagen, dachte Graciela, sonst hasst er mich. »Nimm mich ganz fest in die Arme, Ricardo«, bat sie ihn nur.

Sie schliefen todmüde ein und wachten erst bei Tagesanbruch auf, als die höher steigende Morgensonne die Berggipfel über ihnen vergoldete.

»Am besten bleiben wir tagsüber hier, wo wir sicher sind«, schlug Ricardo vor, »und brechen erst wieder auf, wenn’s dunkel wird.«

Sie aßen von den Vorräten, die die Zigeuner ihnen mitgegeben hatten, und schmiedeten Zukunftspläne.

»Spanien bietet wundervolle Möglichkeiten«, meinte Ricardo. »Oder wird sie bieten, sobald Frieden herrscht. Ich habe Dutzende von Ideen. Wir machen eine eigene Firma auf. Wir kaufen uns ein schönes Haus und bekommen starke Söhne.«

»Und schöne Töchter.«

»Und schöne Töchter.« Er lächelte. »Ich habe nie geahnt, dass ich eines Tages so glücklich sein würde.«

»Ich auch nicht, Ricardo.«

»In zwei Tagen sind wir in Logrono und treffen mit den anderen zusammen«, stellte Ricardo fest. Er griff nach ihrer Hand. »Dann sagen wir ihnen, dass du nicht ins Kloster zurückgehst.«

»Ob sie’s verstehen werden?« Dann lachte Graciela.

»Sollen sie doch denken, was sie wollen! Gott versteht mich, das weiß ich. Das Leben im Kloster ist schön gewesen«, fügte sie leise hinzu, »aber.« Sie beugte sich zu Ricardo hinüber und küsste ihn.

»Ich habe soviel an dir wieder gut zu machen«, meinte Ricardo.

Sie zog die Augenbrauen hoch. »Das verstehe ich nicht.«

»All die Jahre, die du hinter Klostermauern eingesperrt gewesen bist. Sag mir, Liebling - stört es dich nicht, all diese Jahre verloren zu haben?«

Wie sollte sie ihm das erklären? »Ricardo, ich. ich habe nichts verloren. Habe ich denn wirklich soviel Wertvolles versäumt?«

Er dachte darüber nach und wusste nicht, wo er beginnen sollte. Dabei wurde ihm klar, dass Ereignisse, die er für wichtig hielt, sich auf die Nonnen in ihrer selbst gewählten Isolierung gar nicht ausgewirkt haben würden. Kriege wie der arabisch-israelische Sechstagekrieg? Politische Morde, deren Opfer der amerikanische Präsident John F. Kennedy und sein Bruder Robert geworden waren? Oder der Mord an dem großen schwarzen amerikanischen Bürgerrechtler Martin Luther King jr.? Die Berliner Mauer? Erdbeben? Hungersnöte? Überschwemmungen? Streiks, Demonstrationen und Aufstände aus Protest gegen die inhumane Behandlung von Menschen durch Menschen?

Wie sehr würden alle diese Ereignisse sich letzten Endes auf ihre persönliche Existenz ausgewirkt haben? Oder auf die persönliche Existenz des weitaus größten Teils der Weltbevölkerung?

»In gewisser Beziehung hast du nicht viel versäumt«, gab Ricardo schließlich zu. »Aber in anderer eben doch!

Das Leben ist weitergegangen, Graciela. Während du eingesperrt gewesen bist, sind Kinder auf die Welt gekommen und herangewachsen; Liebespaare haben geheiratet; Menschen sind glücklich gewesen und haben gelitten; Menschen sind gestorben, und wir alle hier draußen haben am Leben teilgehabt, sind Teil dieses Lebens gewesen.«

»Glaubst du, dass ich das nie gewesen bin?« fragte Graciela aufgebracht. »Ich habe früher an diesem Leben teilgehabt und es als Hölle auf Erden empfunden! Meine Mutter ist ‘ne Nutte gewesen, und ich habe jede Nacht einen anderen Onkel gehabt. Als Vierzehnjährige bin ich mit einem Mann ins Bett gegangen, weil er mir gefallen hat und ich auf meine Mutter und ihren Beruf eifersüchtig gewesen bin.« Ihre Worte überstürzten sich fast.

»Wäre ich ein Teil dieses Lebens geblieben, das du für so kostbar hältst, wäre ich auch ‘ne Nutte geworden! Nein, ich bin vor nichts weggelaufen. Ich bin zu etwas gelaufen, Ricardo. Ich habe eine sichere Zuflucht in guter, friedvoller Umgebung gefunden.«

Ricardo starrte sie entsetzt an. »Ich.« Er nahm einen neuen Anlauf. »Tut mir leid, ich wollte dich nicht.«

Sie schluchzte jetzt. Er nahm sie in die Arme und sagte leise: »Pst, nicht weinen. Das ist alles lange her. Du bist noch ein Kind gewesen. Ich liebe dich.«

Und Graciela hatte das Gefühl, Ricardo habe ihr eine Absolution erteilt. Sie hatte ihm ihre schlimme Vergangenheit gestanden, und er trug sie ihr nicht nach. Und -Wunder über Wunder! - er liebte sie noch immer.

Ricardo hielt sie an sich gedrückt. »Ich möchte dir ein Gedicht von Federico Garcia Lorca aufsagen:

Die Nacht will nicht kommen,

damit du nicht kommen kannst und ich nicht gehen kann.

Aber du wirst kommen mit vom Salzregen verbrannter Zunge.

Der Tag will nicht kommen, damit du nicht kommen kannst und ich nicht kommen und nicht gehen kann.

Aber ich werde kommen durch die trüben Wasser der Dunkelheit.

Weder Tag noch Nacht wollen kommen, damit ich für dich sterben kann und du für mich sterben kannst.«

Graciela dachte plötzlich an die Soldaten, von denen sie gejagt wurden, und fragte sich, ob Ricardo und sie lange genug leben würden, um eine gemeinsame Zukunft zu haben.

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