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Oberst Ramon Acoca und ein halbes Dutzend seiner GOE-Offiziere befanden sich mitten in einer Einsatzbesprechung. Sie studierten eine große Spanienkarte.

»Miro ist offensichtlich nach Norden in Richtung Baskenland unterwegs«, stellte der Oberst fest.

»Also nach Burgos, Vitoria, Logrono, Pamplona oder San Sebastian.«

San Sebastian, dachte Acoca. Aber ich muss ihn abfangen, bevor er dorthin kommt.

Er glaubte, die Stimme am Telefon zu hören: Ihre Zeit ist bald abgelaufen...

Diesmal durfte nichts mehr schief gehen.

Sie fuhren durch die sanft gewellte Hügellandschaft von Burgos.

Jaime, der am Steuer saß, schwieg nachdenklich. »Felix«, sagte er schließlich, »sobald wir in San Sebastian sind, müssen wir eine Befreiungsaktion planen, um Rubio aus den Händen der Polizei zu befreien.«

Felix nickte zustimmend. »Mit Vergnügen! Dann schnappen sie vor Wut über!«

»Was ist mit Schwester Lucia?« warf Megan ein.

»Was soll mit ihr sein?«

»Haben Sie nicht gesagt, sie sei ebenfalls verhaftet worden?«

»Richtig«, bestätigte Jaime trocken. »Aber wie sich herausgestellt hat, ist Ihre Schwester Lucia eine von der Polizei gesuchte Mörderin.«

Diese Nachricht traf Megan wie ein Keulenschlag. Sie erinnerte sich daran, wie Lucia die Initiative ergriffen und ihre Mitschwestern dazu überredet hatte, in die Berge zu flüchten. Sie hatte Schwester Lucia gern.

»Wenn Sie Rubio retten wollen«, stellte Megan hartnäckig fest, »könnten Sie gleich beide befreien.«

An was für eine verrückte Nonne bin ich da geraten? dachte Jaime.

Aber er musste zugeben, dass sie recht hatte. Eine Befreiung Rubios und Lucias aus der Polizeihaft hätte hohen Propagandawert und würde Schlagzeilen machen.

Amparo war in mürrisches Schweigen verfallen.

Weit vor ihnen auf der Straße rollten plötzlich drei Militärlaster.

»Am besten biegen wir bei nächster Gelegenheit ab«, entschied Jaime.

An der nächsten Kreuzung bog er in Richtung Osten auf die Straße N 120 ab.

»Vor uns liegt Santo Domingo de la Calzada. Dort steht eine verlassene Burg, in der wir übernachten können.«

Die Silhouette der Burg hoch auf einem Hügel war schon aus weiter Ferne zu erkennen. Jaime entschied sich für eine an der Stadt vorbeiführende Nebenstraße, und die Burg ragte immer gewaltiger vor ihnen auf, je näher sie ihr kamen. Einige hundert Meter von ihr entfernt lag ein kleiner See mit steilen Ufern.

Jaime hielt und zog die Handbremse an. »Alles aussteigen!« verlangte er.

Nachdem sie ausgestiegen waren, rangierte er den Wagen so, dass die Motorhaube bergab in Richtung See zeigte. Er legte einen Felsbrocken aufs Gaspedal, löste die Handbremse und brachte sich mit einem Sprung in Sicherheit. Dann sahen sie gemeinsam zu, wie der Seat sich überschlagend im Wasser verschwand.

Megan hätte beinahe gefragt, wie sie jetzt nach Logro-no kommen sollten. Aber sie schwieg noch rechtzeitig. Eine dumme Frage. Natürlich klauen sie einen anderen Wagen.

Die kleine Gruppe machte sich daran, die verlassene Burg zu inspizieren. Sie war von einem mächtigen Wall umgeben und hatte Ecktürme, die zum Teil schon eingestürzt waren.

»In solchen Burgen haben Herrscher früher gefangene Feinde eingesperrt«, erklärte Felix Megan.

Und Jaime ist ein Staatsfeind - aber für ihn gibt ’s kein Gefängnis, wenn er eines Tages gefasst wird. Für ihn gibt’s nur den Tod, dachte Megan. Trotzdem kennt er keine Angst. Sie erinnerte sich an seine Worte: Ich habe Vertrauen zu der Sache, für die ich kämpfe. Ich habe Vertrauen zu meinen Leuten und meinen Waffen.

Sie stiegen eine Steintreppe zum Burgtor hinauf. Das alte Eisentor war so verrostet, dass sie es aufstemmen und den gepflasterten Burghof betreten konnten.

Das Innere der Burg erschien Megan riesig. Schmale Gänge führten zu einer Vielzahl von Räumen, und in die massiven Außenmauern waren Schießscharten zur Abwehr von Angreifern eingelassen.

Eine Steintreppe führte zum ersten Stock mit einem weiteren Claustro - einem Innenhof - hinauf. Die Steinstufen wurden schmaler, als sie in den zweiten und dann in den dritten Stock hinaufstiegen. Die ganze Burg war unbewohnt.

»Na, wenigstens ist die Auswahl an Schlafzimmern reichlich«, meinte Jaime. »Felix und ich gehen los und besorgen was Essbares. Ihr könnt euch inzwischen Zimmer aussuchen.«

Die beiden Männer stiegen die Treppen hinab.

Amparo wandte sich an Megan. »Komm, Schwester.«

Sie gingen einen Korridor entlang, und Megan hatte den Eindruck, alle Räume sähen gleich aus. Sie waren kahle, düstere Steinzellen, von denen nur einige geräumiger als die meisten waren.

Amparo entschied sich für den größten Raum. »Jaime und ich schlafen hier.« Sie warf Megan einen Blick zu und fragte listig: »Möchtest du bei Felix schlafen?«

Megan erwiderte ihren Blick, ohne etwas zu sagen.

»Oder möchtest du vielleicht lieber mit Jaime schlafen?« Amparo trat dichter an sie heran. »Bild dir ja nichts ein, Schwester! Er wäre viel zu sehr Mann für dich.«

»Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Ich interessiere mich nicht für ihn.« Und noch während sie das sagte, fragte Megan sich, ob Jaime Miro tatsächlich viel zu sehr Mann für sie wäre.

Als Felix und Jaime eine Stunde später auf die Burg zurückkehrten, brachte Jaime zwei Kaninchen mit, während Felix Brennholz trug. Er verriegelte die Eingangstür hinter ihnen. Megan beobachtete, wie die Männer in dem riesigen offenen Kamin Feuer machten. Jaime häutete die Kaninchen und briet sie an einem improvisierten Spieß über dem Kaminfeuer.

»Tut uns leid, dass wir euch Damen kein Festmahl bieten können«, erklärte Felix ihnen, »aber das holen wir in Logrono nach. Läßt’s euch trotzdem schmecken.«

Jaime stand auf, sobald sie ihr karges Mahl beendet hatten. »Am besten gehen wir gleich schlafen. Wir müssen morgen schon früh weiter.«

»Komm, Querido«, forderte Amparo ihn auf. »Ich hab’ unser Schlafzimmer schon ausgesucht.«

»Bueno, gehen wir.«

Megan sah ihnen nach, als sie Hand in Hand nach oben gingen.

Felix wandte sich an Megan. »Haben Sie schon ein Zimmer, Schwester?«

»Ja, vielen Dank.«

»Können wir gehen?«

Megan und Felix stiegen miteinander nach oben.

»Gute Nacht«, sagte Megan.

Felix gab ihr seinen Schlafsack. »Gute Nacht, Schwester.«

Megan hätte ihn am liebsten nach Jaime ausgefragt, aber sie schreckte davor zurück. Jaime hätte glauben können, sie wolle ihn bespitzeln, und Megan legte aus irgendeinem Grund großen Wert darauf, dass er eine möglichst gute Meinung von ihr hatte. Wie verrückt! dachte sie. Er ist ein Terrorist, ein Bankräuber, Mörder und weiß Gott was noch alles, und ich mache mir Sorgen darüber, ob er eine gute Meinung von mir hat.

Aber noch während Megan das dachte, erkannte sie, dass es auch eine andere Sicht der Dinge gab. Er ist ein Freiheitskämpfer. Er überfällt Banken, um seinen Kampf finanzieren zu können. Er riskiert sein Leben für das, woran er glaubt. Er ist ein sehr tapferer Mann.

Als Megan am Zimmer der beiden vorbeikam, hörte sie Jaime und Amparo darin lachen. Sie betrat den kahlen, kleinen Raum, in dem sie schlafen sollte, und kniete auf dem kalten Steinboden nieder. »Lieber Gott, vergib mir.« Vergib mir was? Was habe ich getan?

Zum ersten Mal in ihrem Leben konnte Megan nicht beten. War Gott wirklich dort oben und hörte ihr zu?

Megan kroch in den Schlafsack, den Felix ihr überlassen hatte, aber der Schlaf war so fern wie die kalt glitzernden Sterne, die sie durchs schmale Fenster sah.

Was tue ich hier? fragte sich Megan. Sie dachte ans Kloster zurück. ans Waisenhaus. Und vor dem Waisenhaus? Weshalb bin ich dort ausgesetzt worden? Ich glaube nicht wirklich, dass mein Vater ein tapferer Soldat oder ein großer Matador gewesen ist. Aber war ’s nicht wundervoll, etwas über ihn zu erfahren?

Es war schon fast Tag, als Megan endlich einschlief.

In der Haftanstalt in Aranda de Duero war Lucia Carmine eine Berühmtheit.

»Sie sind ein dicker Fisch in unserem kleinen Teich«, erzählte einer der Wärter ihr. »Die italienische Polizei entsendet zwei Beamte, die Sie nach Hause bringen sollen. Ich würd’ Sie auch gern mit heimnehmen, Bonita Puta. Was haben Sie überhaupt angestellt?«

»Ich hab’ einem Mann, der mich Bonita Puta genannt hat, den Schwanz abgeschnitten. Sagen Sie mir lieber, wie’s meinem Freund geht.«

»Er kommt jedenfalls durch.«

Lucia sprach ein stummes Dankgebet. Sie starrte die Steinwände ihrer kahlen, schmuddeligen Zelle an und dachte: Verdammt noch mal, wie kommst du hier bloß wieder raus?

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