18

Alan Tucker traf bereits einen Tag nach seinem Gespräch mit Ellen Scott in Avila ein. Nach dem langen Flug hätte er erschöpft sein sollen, aber stattdessen war er in Hochstimmung. Ellen Scott war keine Frau, die solche Aufträge aus einer Laune heraus erteilte. Hinter dieser Sache steckt irgendetwas, dachte Tucker, und wenn ich meine Karten richtig ausspiele, kann dabei ein sehr hübscher Gewinn für mich abfallen.

Er nahm sich ein Zimmer im Hotel Cuatro Postes und fragte den Empfangschef: »Gibt’s hier irgendwo in der Nähe eine Zeitungsredaktion?«

»Links die Straße entlang, Senor. Nach der zweiten Querstraße - nicht zu verfehlen.«

»Danke.«

»Denada.«

Während Tucker die Hauptstraße entlangging und beobachtete, wie die Stadt nach der nachmittäglichen Siesta zu neuem Leben erwachte, dachte er über das geheimnisvolle Mädchen nach, das er aufspüren und nach Amerika bringen sollte. Diese Sache musste irgendwie wichtig sein. Aber weshalb wichtig? Er glaubte, Ellen Scotts Stimme zu hören.

Sollte sie noch leben, bringen Sie sie zu mir. Aber Sie sprechen mit keinem Menschen über Ihren Auftrag, verstanden?

Ja, Ma ’am. Was soll ich ihr sagen, wenn ich sie gefunden habe?

Sagen Sie ihr lediglich, dass eine Freundin ihres Vaters sie kennen lernen möchte. Sie kommt garantiert mit.

Tucker fand die Zeitungsredaktion. Er wandte sich an einen der Angestellten in dem Großraumbüro hinter der Theke. »Perdon, ich möchte den Lokalredakteur sprechen.«

Der junge Mann deutete auf die Tür eines Büros. »Dort drinnen, Senor.«

»Gracias.«

Tucker trat an die offene Tür und warf einen Blick in den Raum dahinter. An einem unaufgeräumten Schreibtisch saß ein Mittdreißiger und korrigierte Druckfahnen.

»Entschuldigung«, sagte Tucker. »Hätten Sie einen Augenblick Zeit für mich?«

Der Redakteur sah auf. »Was kann ich für Sie tun?«

»Ich suche eine Senorita.«

Der andere grinste. »Tun wir das nicht alle, Senor?«

»Sie ist als kleines Mädchen in der Nähe von Avila vor einem Bauernhaus zurückgelassen worden.«

Das Lächeln verschwand. »Ausgesetzt, meinen Sie?«

»Ja.«

»Und Sie versuchen, sie zu finden?«

»Richtig.«

»Wie viele jähre ist das schon her, Senor?«

»Achtundzwanzig.«

Der Redakteur zuckte mit den Schultern. »Das ist lange vor meiner Zeit gewesen.«

Vielleicht ist die Sache doch nicht so einfach. »Wissen Sie vielleicht jemanden, der mir weiterhelfen könnte?«

Der andere lehnte sich nachdenklich in seinem Sessel zurück. »Hm, da gibt’s eigentlich nur einen. Ich schlage vor, dass Sie mit Pater Berrendo reden.«

Pater Berrendo saß mit einer Wolldecke über den dünnen Beinen in seinem Studierzimmer und hörte sich geduldig an, was der Fremde zu sagen hatte.

»Weshalb interessieren Sie sich für diese Sache, Se-nor?« fragte der Geistliche, nachdem Tucker sein Anliegen vorgetragen hatte. »Sie liegt schon lange zurück. Welches Interesse haben Sie daran?«

Alan Tucker zögerte und wählte seine Worte dann sorgfältig. »Tut mir leid, das darf ich nicht sagen. Ich kann Ihnen nur versichern, dass der Frau daraus keinerlei Nachteile erwachsen werden. Wenn Sie mir nur sagen würden, vor welchem Bauernhaus sie ausgesetzt worden ist.«

Das Bauernhaus. Er konnte sich noch gut daran erinnern, wie das Ehepaar Moras am Tag nach der Einlieferung des Findelkindes ins Krankenhaus zu ihm gekommen war.

Die Kleine ist schwer krank, Pater, und stirbt vielleicht. Was sollen wir tun?

Pater Berrendo hatte mit seinem Freund Don Morago, dem Polizeichef, gesprochen.

»Ich glaube, dass das Kind von Touristen auf der Durchreise ausgesetzt worden ist. Könntest du in den Gasthöfen und Hotels nachforschen lassen, ob jemand mit einem Kleinkind angekommen und ohne es abgereist ist?«

Die Polizei hatte die Meldezettel kontrolliert, die alle Gäste ausfüllen mussten, aber ihre Nachforschungen waren ergebnislos geblieben.

»Als ob die Kleine vom Himmel gefallen wäre«, hatte Don Morago resigniert festgestellt, ohne zu ahnen, wie nahe er der Lösung des Rätsels damit gekommen war.

»Hat sie einen Namen?« hatte Mercedes Angeles gefragt, als Pater Berrendo die Kleine ins Waisenhaus gebracht hatte.

»Davon weiß ich nichts.«

»Ist sie nicht in eine Decke oder irgendwas gewickelt gewesen, auf dem ihr Name gestanden hat?«

»Nein.«

Mercedes Angeles betrachtete das kleine Mädchen auf dem Arm des Geistlichen. »Hm, dann müssen wir ihr wohl einen Namen geben, was?«

Sie hatte vor kurzem einen englischen Liebesroman gelesen, dessen Heldin ihr sehr gefallen hatte.

»Megan«, sagte sie. »Wir nennen sie Megan.«

Und als Megan fünfzehn geworden war, hatte Pater Berrendo sie in die Zisterzienserinnenabtei gebracht.

Nach so vielen Jahren erkundigte dieser Fremde sich jetzt nach ihr. Das Leben beschreibt stets einen vollen Kreis, sagte Pater Berrendo sich. Auf rätselhafte Weise ist das jetzt bei Megan der Fall. Nein, nicht Megan. Das war der Name, den sie im Waisenhaus erhalten hatte.

»Wie heißt das Mädchen?« fragte er den Unbekannten.

»Patricia.«

»Nehmen Sie Platz, Senor«, forderte Pater Berrendo seinen Besucher auf. »Ich habe Ihnen viel zu erzählen.«

Und er berichtete ihm, was er wusste.

Als der Geistliche mit seinem Bericht fertig war, blieb Alan Tucker ruhig sitzen, aber sein Verstand arbeitete auf Hochtouren. Ellen Scott musste schwerwiegende Gründe für ihr Interesse an einem Findelkind haben, das vor achtundzwanzig Jahren in der Nähe einer spanischen Kleinstadt ausgesetzt worden war. Und das jetzt zu einer Frau namens Megan herangewachsen war, wie der Pater berichtet hatte.

Sagen Sie ihr, dass eine Freundin ihres Vaters sie kennen lernen möchte.

Soviel er sich erinnerte, waren Byron Scott, seine Frau und ihre kleine Tochter vor vielen Jahren bei einem Flugzeugabsturz irgendwo in Spanien umgekommen. Konnte es da irgendeine Verbindung geben? Alan Tucker fühlte seine Erregung wachsen.

»Pater, ich. ich möchte sie im Kloster besuchen. Das wäre sehr wichtig.«

Der Geistliche schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, da kommen Sie zu spät. Das Kloster ist vor zwei Tagen von einer Spezialeinheit aus Madrid gestürmt worden.«

Tucker starrte ihn an. »Gestürmt? Und was ist mit den Nonnen passiert?«

»Die sind festgenommen und nach Madrid abtransportiert worden.«

Alan Tucker stand auf. »Vielen Dank, Pater.« Er würde mit der nächsten Maschine nach Madrid fliegen.

»Vier der Nonnen haben flüchten können«, fuhr der Geistliche fort. »Darunter auch Schwester Megan.«

Die Sache wurde allmählich kompliziert. »Und wo ist sie jetzt?«

»Das weiß niemand, Senor. Polizei und Armee fahnden nach ihr und den anderen Schwestern.«

»Ja, ich verstehe.« Unter gewöhnlichen Umständen hätte er Ellen Scott angerufen und ihr gemeldet, er sei bei seinen Ermittlungen in eine Sackgasse geraten. Sein Instinkt sagte ihm jedoch, dass hier weitere Nachforschungen lohnend sein würden.

Tucker rief Ellen Scott an. »Es hat Komplikationen gegeben.« Er wiederholte den Inhalt seines Gesprächs mit dem Geistlichen.

Am anderen Ende herrschte langes Schweigen. »Keiner weiß also, wo sie steckt?«

»Sie und die anderen sind auf der Flucht, aber sie dürften bald gefasst werden. Die Polizei und die halbe spanische Armee fahnden nach ihnen. Ich schalte mich ein, sobald sie wiederauftauchen.«

Erneut eine Pause. »Diese Angelegenheit ist äußerst wichtig für mich, Tucker.«

»Ja, Mrs. Scott.«

Alan Tucker suchte erneut die Zeitungsredaktion auf. Er hatte Glück: sie war noch geöffnet. »Ich würde gern einen Blick in Ihr Archiv werfen«, erklärte er dem Lokalredakteur.

»Suchen Sie etwas Bestimmtes?«

»Ja. Vor vielen Jahren ist hier in der Umgebung ein Flugzeug abgestürzt.«

»Wie lange ist das schon her, Senor?«

Wenn ich recht habe... »Vor achtundzwanzig Jahren -also neunzehnhundertachtundvierzig.«

Alan Tucker brauchte eine Viertelstunde, um die Meldung zu finden, die er suchte. Die Schlagzeile sprang ihn förmlich an.

1. Oktober 1948

Byron Scott, Präsident der Scott Industries, seine Frau Susan und seine einjährige Tochter Patricia sind bei einem Flugzeugabsturz verbrannt. Während eines Gewitters ist ihre Maschine, mit der sie.

Das ist der Jackpot! Er fühlte, wie sein Puls zu jagen begann. Wenn mein Verdacht sich bestätigt, werde ich ein reicher Mann... ein sehr reicher Mann.

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