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Avila

Das Schweigen war wie sanfter Schneefall, weich und lautlos, beruhigend wie das Flüstern einer Sommerbrise, still wie der nächtliche Gang der Sterne. Die Zisterzien-serinnenabtei der Strengen Regel lag außerhalb der von Wällen umgebenen Stadt Avila, der hundertzwölf Kilometer nordwestlich von Madrid liegenden höchsten Stadt Spaniens. Das Kloster war für schweigendes Leben erbaut worden. Die Ordensregeln waren im Jahre 1601 angenommen und seither nie mehr geändert worden: Gottesdienst, Exerzitien, strenge Klausur, Buße und Schweigen. Immer das Schweigen.

Die Abtei bestand aus vier schlichten, unverputzten Wirtschaftsgebäuden um das eigentliche Kloster, das von der dazugehörigen Kirche beherrscht wurde. Durch die offenen Bogenfenster des Innenhofs fiel Tageslicht auf die großen Natursteinplatten des Fußbodens, über den die Nonnen lautlos glitten. Im Augenblick lebten vierzig Schwestern im Kloster, beteten in der Kirche und schwiegen in der Klausur. Die Abtei Avila war eine der sieben letzten ihrer Art in Spanien, wo der Bürgerkrieg in einer der dort periodisch aufflammenden kirchenfeindlichen Bewegungen Hunderte von Klöstern zerstört hatte.

Die Zisterzienserinnenabtei von der Strengen Regel war ausschließlich einem Leben im Gebet gewidmet. Es gab weder Zeit noch Jahreszeiten, und wer dort eintrat, entsagte dem weltlichen Leben für immer. Das Leben der Zisterzienserinnen bewegte sich zwischen den Polen Beschaulichkeit und Buße; Gottesdienst wurde täglich gehalten, und die Klausur war absolut und fortwährend.

Alle Schwestern waren identisch gekleidet, und ihre Ordenstracht war, wie vieles andere im Kloster, vom Symbolismus vergangener Jahrhunderte beeinflusst. Der langwallende Habit mit Kapuze symbolisierte Einfalt und Unschuld, das Leinenhemd Bußfertigkeit und die Absage an weltliche Werke, das Skapulier die Bereitschaft zu harter Arbeit. Der schwarze Schleier aus in Falten gelegtem Leinen, der Stirn, Wangen und Kinn umschloss, vervollständigte die Ordenstracht.

Hinter den Klostermauern verband ein Netz aus Korridoren und Treppen das Refektorium, das Kapitel, die Zellen und die Kapelle miteinander, und überall herrschte eine Atmosphäre kühler, sauberer Geräumigkeit. Sprossenfenster mit dicken Scheiben führten auf einen von hohen Mauern umschlossenen Garten hinaus. Alle Fenster waren mit Eisenstäben vergittert und befanden sich über Augenhöhe, so dass es keine äußeren Ablenkungen gab. Das Refektorium, der Speisesaal, war ein langgestreckter, kahler Raum mit geschlossenen Fensterläden und zugezogenen Vorhängen. Die Kerzen in den alten Leuchtern warfen geheimnisvoll flackernde Schatten über Decke und Wände.

Seit vier Jahrhunderten hatten sich innerhalb der Klostermauern nur die Gesichter der Nonnen verändert. Die Schwestern besaßen kein persönliches Eigentum, denn sie hatten den Wunsch, nach dem Vorbild der Armut Christi arm zu sein. Die Kirche selbst war schmucklos bis auf ein kostbares Kreuz aus massivem Gold - eine lange zurückliegende Schenkung einer Postulantin aus reicher Familie. Da es so gar nicht zu einem der Armut verpflichteten Orden passen wollte, blieb es in einem Wandschrank in der Sakristei versteckt. Über dem Altar in der Kirche hing statt dessen ein schlichtes Holzkreuz.

Die Frauen, die sich als Bräute Christi sahen, lebten miteinander, arbeiteten miteinander, aßen miteinander und beteten miteinander, aber sie berührten einander nie und sprachen niemals. Das Schweigegebot durfte nur in zwei Fällen durchbrochen werden: während des Gottesdienstes und wenn die Äbtissin, Ehrwürdige Mutter Beti-na, in ihrem Arbeitszimmer unter vier Augen mit ihnen sprach. Und selbst dann wurde möglichst die altüberlieferte Zeichensprache der Zisterzienserinnen gebraucht.

Die Ehrwürdige Mutter war eine fromme Siebzigerin, eine zierliche, fröhliche und energische Gestalt mit hellwachem Blick, die den Frieden und die Freuden des Klosteralltags und eines Gott geweihten Lebens genoss. Da ihr das Wohl der ihrer Obhut anvertrauten Nonnen sehr am Herzen lag, empfand sie etwa notwendige Disziplinarmaßnahmen stets schmerzlicher als die Betroffene selbst.

Die Ordensfrauen schritten mit gesenktem Blick, mit unter den Ärmeln in Brusthöhe gefalteten Händen durch den Kreuzgang und die Gänge des Klosters, begegneten ihren Schwestern und passierten einander erneut wortlos, ohne ein Zeichen des Erkennens. Die einzige Stimme der Kommunität waren die Glocken - jene Glocken, die Victor Hugo als »die Oper der Kirchtürme« bezeichnet hat.

Die Schwestern kamen aus vielen Ländern und stammten aus unterschiedlichsten Verhältnissen. Ihre Väter waren Aristokraten, Gelehrte, Bauern, Handwerker, Offiziere. Bei ihrem Eintritt ins Kloster waren sie arm oder reich, unwissend oder gebildet, betrübt oder exaltiert gewesen, aber jetzt waren sie in ihrem Wunsch, Bräute Christi zu sein, alle vor den Augen Gottes gleich.

Die Lebensbedingungen im Kloster waren spartanisch. Im Winter war die Kälte beißend scharf, und durch die bleigefassten Scheiben fiel kaltes, blasses Licht. Die Schwestern schliefen in ihren lediglich mit einem Holzstuhl möblierten winzigen Einzelzellen vollständig bekleidet unter groben Wolldecken auf Strohsäcken. Es gab kein Waschbecken, sondern in einer Ecke der Zelle stand ein kleiner Tonkrug in einer Schale auf dem Fußboden. Außer der Ehrwürdigen Mutter Betina durfte keine Nonne die Zelle einer Mitschwester betreten.

Wörter wie Freizeit und Erholung waren im Kloster Avila unbekannt; dort gab es nur Gebete und Arbeit. Die Schwestern waren in verschiedenen Arbeitsbereichen als Strickerinnen, Buchbinderinnen, Weberinnen und Bäcke-rinnen tätig. Tagtäglich wurde acht Stunden lang gebetet: Nachtoffizium, Laudes, Prim, Terz, Sext, Non, Vesper und Komplet. Darüber hinaus gab es weitere Beweise der Frömmigkeit: Gebete, Chorgesänge und Litaneien.

Das Nachtoffizium fand statt, während die eine Hälfte der Welt schlief und die andere sich der Sünde hingab.

Die Landes, der Gottesdienst bei Tagesanbruch, folgten auf das Nachtoffizium und priesen den mächtigen Schöpfer des Alls.

Die Prim, das Morgengebet des Klosters, erflehte Gottes Segen für die Arbeiten des Tages.

Die Terz, das um 9 Uhr gefeierte Offizium der dritten Stunde, bat nach der Regel des St. Augustinus um die Gaben des Heiligen Geistes.

Die Sext, das Gebet der Kreuzigungsstunde um 11.30 Uhr, flehte um Kühlung in schädlicher Hitze, Gesundheit des Leibes, Frieden der Seele und Kraft für den schuldigen Dienst.

Die Non war ein stilles Gebet um 15 Uhr - der Stunde, in der Christus sein Leiden vollendete.

Die Vesper war der feierliche Abendgottesdienst mit den Gesängen des Sonnenuntergangs und dem Magnifikat.

Die Komplet, das kirchliche Abendgebet, vereinte die Kommunität in der Bitte um eine ruhige Nacht und ein vollkommenes Ende und beschloss den Tag in einer Atmosphäre liebender Unterwerfung: Manus tuas, domine, commendo spiritum meum. Rede-misti nos, domine, deus veritatis.

In einigen anderen Orden war die Geißelung abgeschafft worden, aber in den klausurierten Zisterzienserklöstern existierte sie weiter. Wenigstens einmal in der Woche - und manchmal sogar täglich - geißelten die Schwestern sich mit .der Disziplin, einer dreißig Zentimeter langen Peitsche aus sechs gewachsten und verknoteten Stricken, deren sehr schmerzhafte Schläge Rücken, Gesäß und Beine trafen. Bernhard von Clairvaux, der asketische Zisterzienserabt, hatte gemahnt: »Der Leib Christi ist voll Blut und Wunden. unsere Leiber müssen dem geschundenen Leib unseres Herrn gleichen.«

Obwohl ihr Leben karger als jede Gefängnishaft war, lebten die Nonnen in einer in der Welt außerhalb der Klostermauern nie gekannten Ekstase. Sie hatten auf Besitz, körperliche Liebe und Entscheidungsfreiheit verzichtet, aber durch diesen Verzicht zugleich Geldgier und Wetteifer, Hass und Neid und alle Zwänge und Versuchungen der Außenwelt hinter sich gelassen. In der Kommunität herrschten allgemeiner Frieden und ein unauslöschliches Gefühl der Freude darüber, mit Gott eins zu sein. Falls das Kloster ein Gefängnis war, glich es einem Gefängnis im Garten Eden und vermittelte allen, die aus freien Stücken beschlossen hatten, dort zu sein und zu bleiben, die beseligende Hoffnung auf ein glückliches ewiges Leben.

Schwester Lucia wurde durch das Läuten der Klosterglocke geweckt. Sie schlug die Augen auf und war sekundenlang verwirrt und desorientiert. Die kleine Zelle, in der sie schlief, war grässlich finster. Der Glockenklang sagte ihr, dass es drei Uhr morgens war: er rief sie zum Nachtoffizium, während die Welt noch im Dunkel lag.

Scheiße! dachte Schwester Lucia. Dieser Tagesablauf bringt mich noch um!

Sie ließ sich kurz auf ihre winzige, unbequeme Pritsche zurücksinken und wünschte sich sehnlich eine Zigarette. Aber dann stand sie doch widerstrebend auf. Das schwere Ordensgewand, in dem sie schlief, fühlte sich auf ihrer empfindlichen Haut wie Schleifpapier an. Sie dachte an die vielen Modellkleider, die in ihrem Apartment in Rom und ihrem Chalet in Gstaad hingen. All die Valentinos und Armanis und Giannis.

Draußen vor ihrer Zelle konnte Schwester Lucia die leisen, schlurfenden Bewegungen hören, mit denen ihre Mitschwestern sich auf dem Gang versammelten. Sie machte hastig und oberflächlich ihr Bett und trat in den langen Korridor hinaus, in dem die Nonnen sich mit gesenktem Blick aufstellten. Danach machten sie sich langsam auf den Weg zur Kapelle.

Sie sehen wie ein Schwärm Pinguine aus, dachte Schwester Lucia. Sie begriff nicht, was diese Frauen dazu bewogen hatte, ihr Leben wegzuwerfen und auf Sex, schöne Kleider und gutes Essen zu verzichten. Wozu soll man weiterleben, wenn man das alles nicht hat? Und diese gottverdammten Ordensregeln!

Als Schwester Lucia ins Kloster eingetreten war, hatte die Ehrwürdige Mutter ihr erklärt: »Sie müssen mit gesenktem Kopf gehen. Halten Sie Ihre Hände unter dem Habit gefaltet. Gehen Sie langsam, mit kleinen Schritten. Sie dürfen niemals Blickkontakt mit anderen Schwestern aufnehmen, sie nicht einmal ansehen. Sie dürfen nicht sprechen. Ihre Ohren sollen nur das Wort Gottes hören.«

»Ja, Ehrwürdige Mutter.«

Im folgenden Monat war Lucia unterwiesen worden.

»Wer hier aufgenommen zu werden bittet, kommt nicht, um sich anderen anzuschließen, sondern um mit Gott allein zu sein. Geistige Einsamkeit ist die Voraussetzung für eine Vereinigung mit Gott. Sie wird durch die Regeln des Schweigegebots geschützt.«

»Ja, Ehrwürdige Mutter.«

»Das Schweigen der Augen müssen Sie stets einhalten. Blicke in die Augen anderer würden Sie mit unnützen Bildern ablenken.«

»Ja, Ehrwürdige Mutter.«

»Die erste Lektion, die Sie hier lernen werden, besteht aus einer Korrektur der Vergangenheit, aus dem Ablegen alter Gewohnheiten und weltlicher Neigungen, aus dem Vergessen aller Erinnerungen an die Vergangenheit. Sie werden reinigende Buße und Sühne tun, um sich von eigenem Willen und Eigenliebe zu befreien. Für uns genügt es nicht, unsere in der Vergangenheit verübten Sünden zu bereuen. Sobald wir die unendliche Schönheit und Heiligkeit Gottes erkennen, streben wir nicht nur danach, unsere eigenen Sünden, sondern alle jemals begangenen Sünden wieder gut zu machen.«

»Ja, Ehrwürdige Mutter.«

»Sie müssen gegen die Fleischeslust ankämpfen, die Johannes der Täufer als „die Nacht der Sinne“ bezeichnet hat.«

»Ja, Ehrwürdige Mutter.«

»Jede Nonne lebt hier in Stille und Einsamkeit, als sei sie bereits im Himmel. In dieser reinen, kostbaren Stille, nach der sie dürstet, kann sie der unendlichen Stille lauschen und Gott in sich aufnehmen.«

»Ja, Ehrwürdige Mutter.«

Am Ende ihres ersten Monats legte Lucia ihr erstes vorläufiges Gelübde ab. Am Tage dieser Zeremonie wurde ihr das Haar abgeschnitten, ein traumatisches Erlebnis. Die Erwürdige Mutter Äbtissin verrichtete diese Arbeit selbst. Sie rief Lucia in ihr Arbeitszimmer und machte ihr ein Zeichen, Platz zu nehmen. Dann trat sie hinter sie, und bevor Lucia begriff, was geschah, hörte sie das Schnippen der Schere und spürte, dass etwas an ihrem Haar zog. Sie wollte protestieren, aber dann fiel ihr plötzlich ein, dass dieser Vorgang ihre Tarnung nur verbessern konnte. Ich kann’s mir später wieder wachsen lassen, dachte Lucia, bis dahin sehe ich eben aus wie ein gerupftes Huhn.

Als Lucia dann in die ihr zugewiesene schäbige Zelle zurückkehrte, dachte sie: Dieses Loch ist eine Schlangengrube! Der Fußboden bestand aus blanken Holzbohlen; die ‘Pritsche und der schlichte Stuhl nahmen den größten Teil des Raumes ein. Sie sehnte sich danach, eine Tageszeitung in die Finger zu bekommen. Wohl kaum! dachte sie. Hier im Kloster wussten sie nichts von Zeitungen, von Radio und Fernsehen ganz zu schweigen. Verbindungen zur Außenwelt gab es keine.

Am meisten auf die Nerven ging Lucia jedoch die unnatürliche Stille. Die Verständigung der Schwestern untereinander erfolgte ausschließlich durch Handzeichen, die zu erlernen sie fast zum Wahnsinn trieb. Brauchte sie zum Beispiel einen Besen, sollte sie die ausgestreckte Hand von rechts nach links bewegen, als kehre sie. War die Ehrwürdige Mutter unzufrieden, brachte sie die Spitzen ihrer kleinen Finger dreimal vor ihrem Körper zusammen, während die übrigen Finger an die Handflächen gepresst blieben. Arbeitete Lucia zu langsam, drückte die Ehrwürdige Mutter ihre rechte Handfläche an die linke Schulter. Um Lucia zu tadeln, kratzte sie sich mit allen Fingern ihrer rechten Hand von oben nach unten über die rechte Wange.

Heiliger Bimbam, dachte Lucia, das sieht aus, als kratze sie einen Flohstich.

Sie hatten die Kapelle erreicht. Die Nonnen feierten eine stille Messe mit der Sequenz vom altüberlieferten Sanktus bis zum Vaterunser, aber Schwester Lucias Gedanken galten wichtigeren Dingen als Gott.

In ein, zwei Monaten, wenn die Polizei aufgehört hat, nach mir zu fahnden, breche ich aus diesem Irrenhaus aus.

Nach dem Morgengebet begab Schwester Lucia sich mit den anderen ins Refektorium, wobei sie wie jeden Tag einen Regelverstoß beging, indem sie heimlich die Gesichter ihrer Mitschwestern studierte. Das war ihre einzige Unterhaltung. Eigentlich unglaublich, dass keine der anderen wusste, wie ihre Mitschwestern aussahen!

Die Gesichter der Ordensfrauen faszinierten sie. Manche waren alt, manche jung, manche hübsch, manche hässlich. Sie begriff nicht, weshalb sie alle so glücklich wirkten. Vor allem drei Gesichter hatten es Lucia angetan. Eines davon gehörte Schwester Teresa, einer etwa sechzigjährigen Nonne. Sie war keineswegs hübsch, aber ihre Züge waren so verklärt, dass sie fast überirdisch schön wirkte. Sie schien stets innerlich zu lächeln, als trage sie irgendein wundervolles Geheimnis in sich.

Eine weitere Mitschwester, die Lucia faszinierend fand, war Schwester Graciela: eine atemberaubend schöne Frau Anfang Dreißig. Sie hatte einen dunklen Teint, fein geschnittene Züge und leuchtende schwarze Augen, in denen man schier ertrinken konnte.

Sie hätte ein Filmstar sein können, dachte Lucia, was hat sie durchgemacht? Weshalb hat sie sich in diesem Loch verkrochen?

Die dritte Konventualin, der Lucias heimliches Interesse galt, war Schwester Megan. Blaue Augen, blonde Wimpern und Augenbrauen. Sie war Ende Zwanzig und wirkte stets heiter und offen.

Was tut sie hier? Was tun alle diese Frauen hier? Sie sind hinter diesen Mauern eingesperrt und haben eine winzige Zelle als Schlafkammer, kriegen scheußliches Essen, müssen täglich acht Stunden beten, arbeiten schwer und bekommen zuwenig Schlaf. Sie müssen alle pazzo sein...

Lucia war besser dran als die anderen, die hier lebenslänglich festsaßen, denn sie würde in ein, zwei Monaten wieder rauskommen. Vielleicht erst in einem Vierteljahr, dachte sie. Das Kloster ist ein ideales Versteck. Ich wäre schön dumm, wenn ich ’s vorzeitig aufgeben würde. In ein paar Monaten hält die Polizei mich für tot. Wenn ich wieder draußen bin und mein Geld aus der Schweiz geholt habe, schreibe ich vielleicht ein Buch über diese verrückte Gemeinschaft.

Vor einigen Tagen war Schwester Lucia von der Ehrwürdigen Mutter in ihr Arbeitszimmer geschickt worden, um einige Unterlagen zu holen. Sie hatte diese Gelegenheit nützen wollen, um in den Personalakten zu schnüffeln.

Leider war Schwester Lucia jedoch bei dieser Schnüffelei erwischt worden.

»Sie tun Buße, indem Sie die Disziplin gebrauchen«, bedeutete Äbtissin Betina ihr durch Zeichen.

Schwester Lucia beugte reumütig ihr Haupt und signalisierte: »Ja, Ehrwürdige Mutter.«

Lucia kehrte in ihre Zelle zurück. Minuten später hörten über den Korridor gehende Mitschwestern das schreckliche Klatschen der Peitsche, die durch die Luft pfiff und wieder und wieder zuschlug. Natürlich konnten sie nicht ahnen, dass Schwester Lucia ihren Strohsack auspeitschte.

Schon möglich, dass diese Tussis auf S/M-Praktiken abfahren - aber jedenfalls ohne mich!

Jetzt saßen sie im Refektorium: vierzig Nonnen an zwei langen Tischen. Die Zisterzienserkost war streng vegetarisch. Da der Körper Fleisch verlangte, war es verboten. Lange vor Tagesanbruch gab es eine Tasse Kräutertee oder Malzkaffee und etwas trockenes Brot. Die Hauptmahlzeit wurde um elf Uhr eingenommen und bestand aus einer dünnen Suppe, Gemüse und gelegentlich etwas Obst.

Wir sind nicht hier, um unsere Körper zu erfreuen, sondern um Gott zu gefallen.

Dieses frühstück würde ich keinem Bettler vorsetzen, dachte Schwester Lucia. Ich bin jetzt zwei Monate hier und habe mindestens schon fünf Kilo abgenommen. Dies ist Gottes Version einer Schlankheitsfarm.

Nach dem Essen brachten zwei Nonnen je eine Spülschüssel an die beiden Tische und stellten sie am Ende ab. Die Schwestern an den Tischen reichten ihre Teller der Nonne an der Schüssel zu. Sie wusch jeden Teller ab, trocknete ihn mit einem Geschirrtuch und gab ihn seiner Eigentümerin zurück. Das Wasser in der Schüssel wurde immer dunkler und fettiger.

Und so leben sie bis ans Ende ihrer Tage weiter, dachte Schwester Lucia angewidert. Na ja, immerhin kann ich mich nicht beklagen. Das hier ist jedenfalls besser als eine lebenslängliche Haftstrafe.

Im Augenblick hätte sie ihre unsterbliche Seele für eine Zigarette hingegeben.

Nur einen halben Kilometer entfernt bereiteten Oberst Ramon Acoca und zwei Dutzend sorgfältig ausgesuchte Männer seiner GOE, der Grupo de Operaciones Especiales, ihren Überfall auf das Kloster vor.

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