Ich bringe sie um, dachte Ricardo Mellado. Ich erwürge sie mit bloßen Händen, stoße sie in eine Schlucht oder erschieße sie einfach. Nein, den meisten Spaß hätte ich beim Erwürgen.
Schwester Graciela brachte ihn mehr auf als jeder andere Mensch, den er in seinem Leben kennen gelernt hatte. Sie war unmöglich! Als Jaime Miro ihn als ihren Begleiter eingeteilt hatte, war Ricardo sehr zufrieden gewesen. Gewiss, sie war eine Nonne - aber zugleich auch die schönste Frau, die er je gesehen hatte. Er hatte sich vorgenommen, sie besser kennen zu lernen und herauszukriegen, weshalb sie beschlossen hatte, ihre Schönheit hinter Klostermauern zu verstecken. Das wird ein höchst interessanter Ausflug, hatte Ricardo Mellado sich gesagt.
Aber ihr Verhältnis hatte sich unerwartet anders entwickelt. Das Problem bestand darin, dass Schwester Gracie-la sich weigerte, mit ihm zu reden. Seit Beginn ihres Marsches hatte sie noch kein Wort gesagt, obwohl sie zu Ricardos Verblüffung weder ängstlich noch verwirrt, noch zornig wirkte. Sie hatte sich einfach in irgendeinen Winkel ihres Ichs zurückgezogen und schien sich weder für ihn noch für die Ereignisse um sie herum zu interessieren. Die beiden waren gut vorangekommen. Sie waren auf heißen, staubigen Nebenstraßen durch vom Wind bewegte goldgelbe Weizenfelder gezogen, vorbei an Weinbergen und Gersten- und Haferfeldern. Sie umgingen an ihrem Weg liegende Dörfer wie Berrocule und Aldeavieja und wanderten durch Felder, auf denen Sonnenblumen ihre großen gelben Köpfe nach der Sonne drehten.
»Möchten Sie hier rasten, Schwester?« fragte Ricardo, als sie den Rio Moros überquerten.
Schweigen.
Bevor sie nach Nordosten zu den schneebedeckten Gipfeln der Credos abbogen, näherten sie sich Segovia. Ricardo Mellado versuchte weiterhin, höfliche Konversation zu machen, aber das war völlig aussichtslos.
»Bald sind wir in Segovia, Schwester.«
Keine Reaktion.
Womit kann ich sie so beleidigt haben? »Haben Sie Hunger, Schwester?«
Nichts.
Für sie schien er Luft zu sein. Ricardo Mellado war sein Leben lang noch nie so frustriert gewesen. Vielleicht ist sie geistig behindert, dachte er. So muss es wohl sein! Gott hat ihr überirdische Schönheit geschenkt und sie als Ausgleich dafür mit Schwachsinn bestraft. Aber er glaubte nicht daran.
Schon in den Außenbezirken Segovias fiel Ricardo auf, dass in der Stadt ungewöhnlich viel los war, was bedeutete, dass die Guardia Civil noch wachsamer als sonst sein würde.
Kurz vor der Plaza del Conde de Cheste sah er zwei Angehörige der Guardia Civil auf sie zukommen. »Halten Sie meine Hand, Schwester«, flüsterte er Graciela zu. »Wir müssen wie ein Liebespaar aussehen, das händchenhaltend spazieren geht.«
Sie ignorierte ihn.
Großer Gott, dachte Ricardo, vielleicht ist die Ärmste taubstumm!
Als er nach ihrer Hand griff, verblüffte ihn Gracielas heftige Reaktion. Sie wich vor ihm zurück, als habe er sie geschlagen.
Die beiden Uniformierten kamen näher.
Ricardo sprach laut auf Graciela ein. »Ich verstehe ja, dass du wütend bist«, sagte er. »Meine Schwester ist ganz deiner Meinung. Gestern Abend, als sie die Kinder ins Bett gebracht hat, hat sie gemeint, es wäre wirklich besser, wenn wir Männer nicht herumhocken, Zigarillos paffen und Geschichten erzählen würden, während ihr Frauen euch nebenan allein unterhaltet. Ich möchte wetten, dass ihr.«
Dann waren die Uniformierten an ihnen vorüber. Ricardo starrte Graciela an, deren Gesicht ausdruckslos blieb. Innerlich begann er, Jaime zu verfluchen, und wünschte sich, er hätte eine andere Nonne mitbekommen. Diese hier schien aus Stein gehauen zu sein, so kalt und unnahbar wirkte sie.
Bei aller Bescheidenheit wusste Ricardo Mellado, dass er für Frauen attraktiv war. Das hatten ihm schon viele bestätigt. Er war groß und blond, athletisch gebaut und hatte ein intelligentes Gesicht mit Patriziernase und blitzend weißen Zähnen. Er stammte aus einer der prominentesten baskischen Familien. Sein Vater, ein Bankier aus dem Baskenland im Norden, hatte dafür gesorgt, dass Ricardo eine gute Ausbildung erhielt. Er hatte an der Universität Salamanca studiert, und sein Vater hatte erwartet, dass er in seine Privatbank eintreten werde.
Nach Abschluss seines Studiums hatte Ricardo pflichtbewusst in der väterlichen Bank gearbeitet, war aber schon bald mit den Problemen seines Volkes konfrontiert worden. Er hatte an Kundgebungen, Demonstrationen und Protestaktionen gegen die Regierung in Madrid teilgenommen und war bald zu einem der führenden Köpfe der ETA aufgestiegen. Als sein Vater von diesen Aktivitäten Ricardos erfuhr, rief er seinen Sohn in sein riesiges holzgetäfeltes Büro, um ihm ins Gewissen zu reden.
»Ich bin ein Baske wie du, Ricardo, aber ich bin auch Geschäftsmann. Wir dürfen nicht unser eigenes Nest beschmutzen, indem wir in dem Land, in dem wir unseren Lebensunterhalt verdienen, eine Revolution anzetteln.«
»Keiner von uns versucht, die Regierung zu stürzen, Vater. Wir fordern lediglich Freiheit. Die Unterdrückung der Basken und Katalanen durch diesen Staat ist unerträglich.«
Mellado senior lehnte sich in seinen Sessel zurück und musterte seinen Sohn. »Mein guter Freund, der Oberbürgermeister, hat gestern unter vier Augen mit mir gesprochen. Er findet, dass es besser für dich wäre, wenn du nicht mehr bei Demonstrationen gesehen, sondern deine Energien aufs Bankgeschäft konzentrieren würdest.«
»Vater, ich.«
»Hör zu, Ricardo, als junger Mann bin ich auch heißblütig gewesen. Aber es gibt andere Möglichkeiten, sich abzureagieren. Du bist mit einem hübschen Mädchen verlobt. Ich hoffe, dass ihr viele Kinder haben werdet.« Seine Handbewegung umfasste die luxuriöse Einrichtung. »Und vor dir liegt eine glänzende Zukunft.«
»Verstehst du denn nicht, dass.?«
»Ich sehe die Dinge klarer als du, mein Junge. Auch deinem zukünftigen Schwiegervater missfallen deine Aktivitäten. Ich möchte nicht, dass deine Heirat mit Dolores irgendwie gefährdet wird. Ist das klar genug ausgedrückt?«
»Ja, Vater.«
Am Samstag darauf wurde Ricardo Mellado als Organisator einer Baskendemonstration in Barcelona verhaftet. Er lehnte es ab, gegen eine von seinem Vater gestellte Kaution freizukommen, wenn dieses Angebot nicht auf die übrigen Festgenommenen erweitert werde. Sein Vater weigerte sich, auch für sie Kaution zu stellen. Damit war Ricardos Karriere bei der Bank zu Ende, und seine Verlobung ging ebenfalls in die Brüche.
Das war vor fünf Jahren gewesen. Fünf Jahre voller Gefahren, denen er oft nur um Haaresbreite entkommen war. Fünf aufregende Jahre, in denen Ricardo Mellado leidenschaftlich für seine Überzeugungen gekämpft hatte. Jetzt befand er sich auf der Flucht vor der Polizei und begleitete eine geistig behinderte, taubstumme Klosterschwester durch Spanien.
»Hier biegen wir ab«, erklärte er Schwester Graciela und hütete sich, dabei ihren Arm zu berühren.
In der Seitenstraße kamen sie an einem Musikaliengeschäft vorbei. Die Instrumente im Schaufenster brachten Ricardo auf eine Idee.
»Augenblick, Schwester«, sagte er. »Ich bin sofort wieder da.«
Er betrat den Laden und wandte sich an den jungen Verkäufer hinter der Verkaufstheke.
»Buenos dias. Was kann ich für Sie tun?«
»Ich möchte zwei Gitarren kaufen.«
Der Verkäufer lächelte. »Ah, da haben Sie Glück, Se-nor. Wir haben gerade eine Lieferung Ramirez-Gitarren rein bekommen. (Das sind die besten.«
»Vielleicht nicht ganz so teure. Meine Freundin und ich klimpern nur ein bisschen.«
»Ganz wie Sie wünschen, Senor. Wie war’s mit diesen?« Der Verkäufer trat an einen Ständer mit zwei Dutzend Gitarren. »Ich kann Ihnen zwei Konos zu je fünftausend Peseten anbieten.«
»Noch zu teuer.« Ricardo suchte zwei preiswerte Gitarren aus. »Die genügen völlig.«
Wenig später kam Ricardo mit den beiden Gitarren auf die Straße zurück. Er hatte fast gehofft, Schwester Graciela werde nicht mehr da sein. Aber sie stand noch immer geduldig wartend da.
Ricardo hielt ihr eines der Instrumente hin. »Hier, Schwester. Hängen Sie sich diese Gitarre über die Schulter.«
Sie starrte ihn an.
»Keine Angst, Sie brauchen sie nicht zu spielen«, erklärte Ricardo ihr geduldig. »Sie dient nur zur Tarnung.«
Er drängte ihr die Gitarre auf, und sie griff widerstrebend danach. Sie gingen durch die verwinkelten Gassen Segovias weiter und kamen unter dem gigantischen römischen Viadukt vorbei.
Ricardo entschloss sich zu einem neuerlichen Anlauf. »Sehen Sie dieses Viadukt, Schwester. Seine Quader sind ohne Mörtel zusammengefügt. Der Sage nach ist es vor zweitausend Jahren vom Teufel erbaut worden, und die Steine werden angeblich nur durch einen Teufelszauber zusammengehalten.« Er wartete auf eine Reaktion.
Wieder nichts.
Der Teufel soll sie holen! dachte Ricardo Mellado. Ich geh’s auf.
Überall waren Angehörige der Guardia Civil unterwegs. Bei jeder Begegnung mit ihnen gab Ricardo vor, sich angelegentlich mit Graciela zu unterhalten, wobei er sorgfältig jeglichen Körperkontakt vermied.
Die Zahl der Polizeibeamten und Soldaten schien noch zuzunehmen, aber Ricardo fühlte sich verhältnismäßig sicher. Die Uniformierten würden nach einer Nonne in Ordenstracht und einer Gruppe von Jaime Miros Leuten Ausschau halten - aber sie hatten keinen Grund, zwei junge Touristen mit Gitarren über der Schulter zu verdächtigen.
Ricardo hatte Hunger, und obwohl Schwester Graciela natürlich nichts gesagt hatte, wusste er, dass sie ebenfalls hungrig sein musste. Eben kamen sie an einer kleinen Bodega vorbei.
»Wir kehren hier ein und essen eine Kleinigkeit, Schwester.«
Sie blieb stehen und beobachtete ihn schweigend.
Er seufzte. »Gut, von mir aus brauchen Sie nicht mitzugehen.«
Ricardo betrat das Lokal. Graciela folgte ihm einen Augenblick später.
»Was möchten Sie essen, Schwester?« fragte er sie, nachdem sie Platz genommen hatten.
Sie gab keine Antwort. Aber das regte ihn gar nicht mehr auf.
»Zwei Gazpachos«, bestellte Ricardo bei der Serviererin, »und zweimal Chorizos.«
Als die Suppe und die Würstchen kamen, aß Graciela, was ihr hingestellt wurde. Ricardo sah jedoch, dass sie automatisch aß, ohne das Essen zu genießen, als erfülle sie damit nur eine Pflicht ihrem Körper gegenüber. Die Männer an den übrigen Tischen starrten sie an, was allerdings verständlich war. Der junge Goya hätte sie malen müssen! überlegte Ricardo sich.
Trotz Gracielas mürrisch abweisender Art spürte er jedes Mal einen Klumpen im Hals, wenn er sie ansah, und beschimpfte sich dann selbst als romantischen Narren. Sie erschien ihm rätselhaft, wie hinter einem undurchdringlichen Wall verborgen. Ricardo Mellado hatte Dutzende von schönen Frauen gekannt, aber keine hatte ihn je so fasziniert wie Graciela. Ihre Schönheit hatte beinahe etwas Mystisches an sich. Das Verrückte war nur, dass er nicht die geringste Ahnung hatte, was hinter dieser schönen Fassade lag. War sie klug oder beschränkt? Interessant oder langweilig? Frigide oder leidenschaftlich? Hoffentlich ist sie beschränkt, langweilig und frigide, dachte Ricardo, sonst kann ich ’s nicht ertragen, sie zu verlieren. Als ob ich sie jemals für mich haben könnte! Sie gehört Gott. Er sah weg, weil er fürchtete, sie könnte seine Gedanken erraten.
Nachdem sie gegessen hatten, zahlte Ricardo und nickte seiner Begleiterin zu. Als sie das Lokal verließen, fiel ihm wie schon unterwegs auf, dass Schwester Graciela leicht hinkte. Ich muss irgendein Transportmittel finden, überlegte er sich. Wir haben’s noch weit.
Sie durchquerten Segovia und stießen auf dem Manzanares el Real am Stadtrand auf eine Zigeunerkarawane. Die Kolonne bestand aus vier von Pferden gezogenen farbenprächtigen Planwagen. Hinten auf den Wagen saßen die Frauen und Kinder - alle in Zigeunertracht.
»Warten Sie hier, Schwester«, forderte Ricardo sie auf. »Ich will fragen, ob sie uns mitnehmen.«
Er sprach den Kutscher des ersten Wagens an, einen stämmigen Mann mit Zigeunerkopftuch und goldenen Ohrringen.
»Buenos tardes, Senor. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie meine Verlobte und mich ein Stück weit mitnehmen könnten.«
Der Zigeuner sah zu Graciela hinüber. »Das lässt sich machen. Wohin wollt ihr denn?«
»Zur Sierra de Credos.«
»Ich kann euch bis Cerezo mitnehmen.«
»Damit wäre uns schon viel geholfen. Vielen Dank.«
Er schüttelte dem Zigeuner die Hand und steckte ihm dabei ein Trinkgeld zu.
»Steigt auf den letzten Wagen.«
»Gracias, Senor.«
Ricardo ging zu der geduldig wartenden Graciela zurück. »Die Zigeuner nehmen uns bis Cerezo de Abajo mit«, erklärte er ihr. »Wir sollen auf den hintersten Wagen steigen.«
Einen Augenblick lang war er der Überzeugung, sie werde ablehnen. Sie zögerte, aber dann ging sie doch auf das Fuhrwerk zu.
Auf dem Planwagen saß bereits ein halbes Dutzend Frauen und Kinder, die zusammenrückten, um Platz für die beiden zu machen. Ricardo wollte Graciela beim Aufsteigen helfen, aber als er ihren Arm berührte, stieß sie ihn überraschend energisch zurück. Gut, dann eben nicht, du blöde Kuh! Als Graciela sich hochzog, hatte er ihre nackten Beine vor sich und dachte unwillkürlich: Sie hat die schönsten Beine, die ich je gesehen habe.
Sie machten es sich für die lange Fahrt auf dem harten Holzboden des Planwagens so bequem wie möglich. Graciela saß in einer Ecke, hielt die Augen geschlossen und bewegte die Lippen, als bete sie. Ricardo konnte den Blick nicht von ihr wenden.
Mit fortschreitender Tageszeit wurde die Sonne zu einem gleißenden, sengenden Feuerball, der die Erde verbrannte, und der Himmel war wolkenlos dunkelblau. Während das Fuhrwerk über die Hochebene rollte, kreisten von Zeit zu Zeit riesige Raubvögel über ihnen. Buitre leonado, dachte Ricardo. Der löwenfarbene Weißkopfgeier.
Am späten Nachmittag hielt die Zigeunerkarawane an. Ihr Führer kam nach hinten zum letzten Wagen.
»Weiter können wir euch nicht mitnehmen. Wir sind nach Vinuelas unterwegs.«
Das wäre die falsche Richtung. »Damit ist uns schon viel geholfen«, versicherte Ricardo ihm. »Nochmals vielen Dank.«
Er wollte Graciela die Hand reichen, um ihr beim Absteigen zu helfen, sie zog sie jedoch rasch zurück.
Ricardo wandte sich erneut an den Zigeuner. »Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie meiner Verlobten und mir noch etwas Essen verkaufen würden.«
Der Stammesälteste gab einer der Frauen kurze Anweisungen in einer Ricardo unverständlichen Sprache. Kurze Zeit später reichte sie zwei Plastiktüten mit Essen vom Wagen.
»Muchos gracias.« Ricardo holte einige Banknoten aus der Hosentasche.
Der Stammesälteste hob abwehrend die Hand. »Sie und die Schwester haben das Essen bereits bezahlt.«
Sie und die Schwester. Er wusste also Bescheid. Trotzdem fühlte Ricardo sich nicht in Gefahr. Die Zigeuner wurden vom Staat ebenso unterdrückt wie die Basken und Katalanen.
»Vaya con dios.«
Ricardo sah der Karawane nach, bis sie hinter einer Wegbiegung außer Sicht kam. Dann drehte er sich nach Graciela um. Sie beobachtete ihn schweigend, teilnahmslos.
»Lange brauchen Sie’s nicht mehr mit mir auszuhalten«, versicherte Ricardo ihr. »In zwei Tagen sind wir in Logrono. Dort treffen Sie Ihre Mitschwestern wieder und sind dann mit ihnen unterwegs nach Mendavia.«
Keine Reaktion. Er hätte ebenso gut gegen eine Wand anreden können. Ich rede gegen eine Wand an.
Sie waren in einem idyllischen Tal mit Obstgärten abgesetzt worden, in denen Äpfel, Birnen und Feigen wuchsen. Nur wenige Meter von ihnen entfernt floss der Rio Tormes, unter dessen bemoosten Steinen große Forellen standen. Früher hatte Ricardo hier oft geangelt. Diese Stelle wäre ein idealer Rastplatz gewesen, aber sie hatten noch einen weiten Weg vor sich.
Ricardo betrachtete die Sierra de Credos, den vor ihnen liegenden Gebirgszug mit dem fast dreitausend Meter hohen Almanzo. Auch dieses Gebiet kannte er gut. Es gab vier Routen durch das fast hundert Kilometer lange Massiv. Die schwierigsten führten über Bohoyo an der Nordflanke mit seinen Gletschern und Seen sowie über El Aranaz und Guisando auf der Südflanke, deren steile Granitfelsen mit Spalten durchsetzt waren. Dort gab es Cabras, wilde Bergziegen, und Wölfe. Der gefährliche Südanstieg war zugleich der kürzeste Weg, den Ricardo gewählt hätte, wenn er allein gewesen wäre. Wegen Schwester Graciela entschied er sich jedoch für den El-Pico-Paß, eine kurvenreiche ehemalige Römerstraße.
»Na, dann wollen wir mal«, sagte Ricardo. »Wir haben einen langen Marsch vor uns.«
Er hatte nicht die Absicht, zu dem Treffen mit den anderen in Logrono zu spät zu kommen. Ab dort konnten sich andere um diese schweigsame Nonne kümmern.
Schwester Graciela wartete still darauf, dass Ricardo die Führung übernahm. Am Beginn des steilen Bergpfads rutschte sie auf Geröll aus, und Ricardo wollte ihr instinktiv aufhelfen. Sie zuckte wiederum vor seiner Hand zurück und richtete sich allein auf. Gut, wie du willst! dachte er aufgebracht. Meinetwegen brichst du dir den Hals.
Sie kamen langsam höher und höher - dem schneebedeckten Gipfel entgegen. Während sie bei sinkenden Temperaturen durch Tannenwald nach Osten aufstiegen, wurde der steile Pfad allmählich schmaler. Vor ihnen lag das Dorf Ranacastanas, ein beliebter Stützpunkt für Bergsteiger und Skiläufer. Ricardo wusste, dass sie dort in behaglicher Wärme hätten essen und rasten können. Zu gefährlich, dachte er jedoch. Das Risiko, in eine Falle Acocas zu tappen, war zu groß.
Er wandte sich an Schwester Graciela. »Wir umgehen das Dorf. Halten Sie noch eine Weile aus, bevor wir rasten?«
Ihre Antwort bestand daraus, dass sie ihn wortlos stehen ließ und weiterging.
Ihre durch nichts provozierte Unhöflichkeit kränkte ihn. Gott sei Dank, dass ich sie in Logrono loswerde, dachte Ricardo. Weshalb ist mir beim Gedanken an eine Trennung trotzdem nicht ganz wohl?
Sie folgten dem Waldrand, machten einen weiten Bogen um das Dorf und waren bald wieder auf dem alten Bergpfad, der noch steiler wurde. Hinter einer Biegung kamen sie an einem verlassenen Adlerhorst vorbei. Nachdem sie das friedlich in der Nachmittagssonne liegende Dorf Arenas de San Pedro umgangen hatten, rasteten sie am Rio Eresma. Das klare Wasser dieses Gebirgsbachs war eiskalt.
In der Abenddämmerung erreichten sie ein als Boca de Asno -Affenmaul - bezeichnetes wildes Gebiet. Drei Meter hohe orangerote Holzstangen am Wegrand zeigten die im Winter erreichten Schneehöhen an. Sie befanden sich in Aguila, einem Gebiet, das wegen seiner Höhlen bekannt war. Von dort aus führte der Pfad bergab weiter.
Von jetzt an haben wir ’s leichter, dachte Ricardo. Das Schlimmste liegt hinter uns.
Dann hörte er ein leises Brummen über ihnen, hob den Kopf und suchte die Geräuschquelle. Ein Militärflugzeug erschien über dem nächsten Grat und kam geradewegs auf sie zu.
»Deckung!« rief Ricardo. »Hinlegen!«
Graciela ging unbeirrt weiter. Das Flugzeug kreiste und begann tiefer herab zu gehen.
»Hinlegen!« brüllte Ricardo erneut.
Als Graciela nicht reagierte, warf er sich auf sie, riss sie mit sich zu Boden und begrub sie unter sich. Ihre Reaktion überraschte ihn völlig: Graciela begann hysterisch zu kreischen und sich wie eine Wilde gegen ihn zu wehren. Sie rammte ihm ein Knie in den Unterleib, fuhr ihm mit ihren Nägeln ins Gesicht und versuchte, ihm die Augen auszukratzen. Am erstaunlichsten war jedoch, dass sie ihn dabei in übelstem Gossenjargon beschimpfte. Ricardo erstarrte unter diesem Schwall von wüsten Schimpfwörtern und konnte nicht fassen, dass sie aus dem schönen Mund dieses Engels kamen.
Um sich vor ihren Krallen zu schützen, versuchte er, ihre Hände festzuhalten, aber Graciela kämpfte wie eine Wildkatze weiter.
»Aufhören!« brüllte Ricardo sie an. »Ich tue Ihnen doch nichts! Dort oben ist ein Aufklärungsflugzeug. Es hat uns gesichtet. Wir müssen weg von hier!«
Er drückte Graciela mit seinem Gewicht zu Boden, bis sie endlich aufgab. Im nächsten Augenblick begann sie hemmungslos zu schluchzen. Trotz seiner vielen Erfahrungen mit Frauen war Ricardo völlig ratlos. Er hielt eine hysterische Nonne fest, die über den Wortschatz eines Lastwagenfahrers verfügte, und wusste nicht, was er als nächstes tun sollte.
Er sprach so ruhig und vernünftig wie möglich auf sie ein. »Schwester, wir müssen rasch ein Versteck finden. Der Pilot hat seine Entdeckung weitergemeldet, und in ein paar Stunden wimmelt’s hier oben von Soldaten. Wenn Sie je das Kloster erreichen wollen, stehen Sie jetzt auf und kommen mit.«
Ricardo wartete noch einen Augenblick, ließ sie dann los und blieb neben ihr sitzen, bis ihr Schluchzen verstummte. Schließlich setzte Graciela sich ebenfalls auf. Obwohl sie Schmutz im Gesicht, zerzaustes Haar und rotgeweinte Augen hatte, war sie so schön, dass Ricardos Herz bei ihrem Anblick schmerzte.
»Tut mir leid, dass ich Sie erschreckt habe«, sagte er ruhig. »Ihnen gegenüber kann ich mich anscheinend nicht normal benehmen. Aber ich verspreche Ihnen, in Zukunft rücksichtsvoller zu sein.«
Graciela blickte mit Tränen in ihren leuchtenden schwarzen Augen zu ihm auf, aber Ricardo wusste nicht, was sie dachte. Als er seufzend aufstand, folgte sie seinem Beispiel.
»In diesem Gebiet gibt’s zahlreiche Höhlen«, erklärte Ricardo ihr. »Heute Nacht verstecken wir uns in einer davon. Bei Tagesanbruch können wir weitermarschieren.«
Obwohl sein Gesicht zerkratzt war und er aus einigen der Schrammen blutete, spürte er Gracielas Wehrlosigkeit und eine Zerbrechlichkeit, die ihn anrührte und in ihm das Bedürfnis weckte, etwas Tröstendes zu sagen. Aber jetzt war er derjenige, der sprachlos war.
Auch beim besten Willen fiel Ricardo nichts ein, was er hätte sagen können.
Die Cuevas del Aguila sind in Jahrmillionen durch Wind, Regen und Erdbeben entstanden und weisen die unterschiedlichsten Formen auf. Einige dieser Höhlen sind lediglich flache Felsnischen, andere dagegen endlos lange Tunnels, die noch kein Mensch erforscht hat.
Gut eineinhalb Kilometer von der Stelle entfernt, wo der Aufklärer sie überflogen hatte, fand Ricardo eine Höhle, die seinen Vorstellungen entsprach. Ihr niedriger Eingang war hinter Buschwerk fast unsichtbar.
»Sie bleiben draußen«, wies er Schwester Graciela an.
Er musste sich bücken, um in die Höhle zu gelangen, aber hinter dem Eingang konnte er sich wieder aufrichten. Im von außen einfallenden schwachen Schein des letzten Tageslichts konnte er nicht beurteilen, wie lang die Höhle war. Aber das störte nicht weiter, denn er hatte keinen Grund, sie zu erforschen.
Ricardo kam zu Graciela zurück.
»Die Höhle scheint sicher zu sein«, berichtete er. »Warten Sie bitte drinnen auf mich. Ich suche nur ein paar Zweige zusammen, um den Eingang damit zu tarnen. Ich bin in ein paar Minuten zurück.«
Er sah Graciela nach, als sie wortlos in der Höhle verschwand, und fragte sich, ob sie noch da sein würde, wenn er zurückkam. Dabei wurde ihm klar, wie sehnlich er sich wünschte, sie möge da sein.
Graciela beobachtete aus der Höhle, wie Ricardo sich entfernte. Dann sank sie verzweifelt auf den kalten Felsboden.
Ich hält’s nicht mehr aus! dachte sie. Wo bist du, Jesus? Erlöse mich aus dieser Hölle!
Und es war eine Hölle gewesen. Graciela hatte von Anfang an dagegen angekämpft, dass sie sich zu Ricardo hingezogen fühlte. Sie hatte an den Mauren gedacht. Ich habe Angst vor mir selbst - vor dem Bösen in mir. Ich begehre diesen Mann, aber ich darf meinem Begehren nicht nachgeben.
Und so hatte sie einen Wall des Schweigens zwischen ihnen aufgerichtet: des Schweigens, mit dem sie im Kloster gelebt hatte. Ohne die Ordenszucht, ohne Bußen und Gebete, ohne die Krücken starrer Routine war Graciela jetzt jedoch außerstande, ihrer inneren Dunkelheit zu entfliehen. Sie hatte endlose Jahre damit zugebracht, die satanischen Triebe ihres Körpers zu unterdrücken und gegen die Laute, das Stöhnen und die Seufzer anzukämpfen, die aus dem Bett ihrer Mutter an ihr Ohr gedrungen waren.
Der Maure betrachtete Gradelas nackten Körper.
Du bist noch ein Kind. Zieh dich an und verschwinde.
Ich hin kein Kind mehr!
Graciela hatte sich viele Jahre lang bemüht zu vergessen, wie es gewesen war, den Mauren in sich zu haben; sie hatte versucht, den wundervollen Rhythmus ihrer Körper zu verdrängen, bei dem sie sich endlich ganz lebendig gefühlt hatte.
Du Schlampe! kreischte ihre Mutter.
Und der junge Arzt sagte: Wir haben eine Platzwunde auf Ihrer Stirn nähen müssen. Das hat der Chefarzt unserer Chirurgie selbst übernommen. Er hat gesagt, Sie seien zu schön, um Narben haben zu dürfen.
All diese betend und büßend verbrachten Jahre hatten sie von der Sünde erlösen sollen. Aber sie hatten es nicht geschafft.
Schon beim ersten Anblick Ricardo Mellados hatte Gracielas Vergangenheit sich mit Macht zurückgemeldet. Er sah gut aus und war freundlich und rücksichtsvoll. Als kleines Mädchen hatte sie davon geträumt, eines Tages einen Mann wie ihn zu bekommen. Und wenn er ihr nahe war oder sie gar berührte, schien ihr Körper in Flammen zu stehen, und sie empfand tiefe Scham. Ich bin eine Braut Christi, und meine Gedanken sind Verrat an ihm. Ich gehöre dir, Jesus. Bitte hilf mir! Befreie mich von meinen sündigen Gedanken.
Graciela hatte sich verzweifelt angestrengt, den Wall des Schweigens zu erhalten: einen Wall, den nur Gott durchdringen konnte, einen Wall, der den Teufel abhalten sollte. Aber wollte sie den Teufel aussperren? Als Ricardo sie angefallen und zu Boden gerissen hatte, war er der Maure gewesen, der sie liebte, und der Pater, der sie zu vergewaltigen versuchte, und Graciela hatte sie in emporwallender Panik abgewehrt. Nein, gestand sie sich ein, das ist nicht wahr. Sie hatte gegen ihr eigenes starkes Begehren angekämpft. Sie hatte zwischen geistigem Wollen und körperlicher Begierde geschwankt. Ich darf nicht nachgeben. Ich muss ins Kloster zurück. Er wird jeden Augenblick zurückkommen. Was soll ich nur tun?
Graciela hörte ein leises Maunzen hinter sich und warf sich herum. Zwei in der Dunkelheit funkelnde grüne Augenpaare bewegten sich auf sie zu. Ihr Herz begann zu jagen.
Zwei Wolfsjungen kamen auf weichen Pfoten lautlos näher und rieben ihre Köpfe an Gracielas Beinen. Sie lächelte und begann sie zu streicheln. Vom Höhleneingang her war plötzlich ein Scharren zu hören. Ricardo ist zurück, dachte Graciela.
Im nächsten Augenblick sprang ihr ein riesiger grauer Wolf an die Kehle.