33

Der Heeresoffizier starrte Megan prüfend an. »Wer sind Sie? Was tun Sie hier? Ich bin Hauptmann Rodriguez, und wir sind auf der Suche nach einem gewissen.«

»Sie kommen gerade noch rechtzeitig, Hauptmann.« Sie umklammerte seinen Arm. »Meine beiden kleinen Söhne haben Typhus und müssen dringend zu einem Arzt. Sie müssen reinkommen und mir helfen, sie raus zu tragen.«

»Typhus?«

»Ja.« Megan zerrte an seinem Arm. »Sie haben schrecklich hohes Fieber. Es verbrennt sie regelrecht! Sie sind mit Pusteln übersät und schwer krank. Rufen Sie Ihre Leute herein, damit sie mir helfen, die armen Würmer.«

»Senora! Sind Sie wahnsinnig? Typhus ist verdammt ansteckend!«

»Das darf jetzt keine Rolle spielen, Hauptmann. Sie brauchen Ihre Hilfe, sonst müssen sie vielleicht sterben.« Megan zerrte weiter an seinem Arm.

»Lassen Sie mich los!«

»Sie dürfen mich nicht im Stich lassen. Was soll ich nur tun?«

»Sie gehen wieder hinein und warten, bis wir die Polizei benachrichtigt haben, damit sie einen Arzt oder einen Krankenwagen schickt.«

»Aber.«

»Keine Widerrede, Senora. Hinein mit Ihnen!« Rodri-guez drehte sich um. »Sergeant, wir rücken ab!«

Megan schloss die Tür und lehnte sich ausgepumpt von innen dagegen.

Jaime starrte sie verblüfft an. »Mein Gott, das haben Sie wunderbar gemacht! Wo haben Sie bloß so lügen gelernt?«

Megan sah zu ihm hinüber und seufzte. »Im Waisenhaus haben wir gelernt, uns selbst zu verteidigen. Ich hoffe, dass Gott mir vergeben wird.«

»Ich wollte, ich hätte den Gesichtsausdruck dieses Hauptmanns beobachten können!« Jaime lachte halblaut. »Typhus! Verdammt noch mal!« Er fing den tadelnden Blick Megans auf. »Entschuldigung, Schwester.«

Draußen waren Arbeitsgeräusche zu hören: die Soldaten begannen, ihre Zelte abzubrechen.

»Die Polizei wird bald hier sein«, sagte Jaime, als das Militär abgerückt war. »Außerdem sind wir in Logrono verabredet.«

»Jetzt können wir auch verschwinden«, entschied Jaime eine Viertelstunde nach dem Abmarsch der Soldaten. Er wandte sich an Felix. »Sieh zu, was du in der Stadt auftreiben kannst. Am besten wieder eine Limousine.«

Felix grinste. »Kein Problem, Amigo.«

Eine halbe Stunde später stiegen sie an einem vereinbarten Treffpunkt jenseits der Burg in einen klapprigen grauen Renault und fuhren nach Osten weiter.

Zu Megans Überraschung saß diesmal sie vorn neben Jaime. Felix und Amparo hatten den Rücksitz für sich. Jaime blickte grinsend zu Megan hinüber.

»Typhus!« sagte er und begann laut zu lachen.

Megan lächelte. »Er hat gar nicht schnell genug verschwinden können, nicht wahr?«

»Sie sind also im Waisenhaus aufgewachsen, Schwester?«

»Ja.« »Wo?«

»In Avila.«

»Aber Sie sehen nicht wie eine Spanierin aus.«

»Das höre ich nicht zum ersten Mal.«

»Für Sie muss das Waisenhaus eine wahre Hölle gewesen sein.«

Sein unerwartetes Mitgefühl verblüffte Megan. »Das hätte es sein können«, bestätigte sie. »Aber es war keine.« Das habe ich nicht zugelassen, dachte sie.

»Wissen Sie eigentlich, wer Ihre Eltern sind?«

Megan erinnerte sich an ihre Kinderphantasien. »O ja! Mein Vater war ein tapferer Engländer, der im Bürgerkrieg einen Krankenwagen der Loyalisten gefahren hat. Meine Mutter ist bei den Kämpfen umgekommen, und ich bin vor der Tür eines Bauernhauses zurückgelassen worden.« Sie zuckte mit den Schultern. »Oder mein Vater war ein ausländischer Prinz, der eine Affäre mit einem Bauernmädchen gehabt hat, das mich ausgesetzt hat, um einen Skandal zu vermeiden.«

Jaime warf ihr einen prüfenden Blick zu, ohne etwas zu sagen.

»Ich.« Megan schwieg abrupt. »Ich weiß nicht, wer meine Eltern sind.«

Sie fuhren eine Zeitlang schweigend weiter.

»Wie lange sind Sie im Kloster gewesen?«

»Ungefähr fünfzehn Jahre.«

Jaime war verblüfft. »Großer Gott!« Dann fügte er hastig hinzu: »Entschuldigen Sie, Schwester, aber ich habe das Gefühl, mit jemandem von einem anderen Stern zu sprechen. Sie haben also keine Vorstellung davon, was in den letzten fünfzehn Jahren auf der Welt passiert ist?«

»Ich bin sicher, dass alle Veränderungen nur vorläufig gewesen sind. Was sich geändert hat, wird sich wieder ändern.«

»Wollen Sie noch immer ins Kloster zurück?«

Seine Frage überraschte Megan.

»Selbstverständlich.«

»Weshalb?« Jaime schüttelte den Kopf. »Hinter Klostermauern versäumen Sie so viel. Hier draußen gibt’s Musik und Literatur. Spanien hat der Welt Cervantes, Picasso, Lorca, Pizarro, De Soto, Lope de Vega, Goya und Velasquez geschenkt. Es ist ein märchenhaftes Land.«

Dieser Mann hatte etwas überraschend Weiches an sich - eine sanfte innere Glut.

»Tut mir leid, dass ich Sie anfangs nicht mitnehmen wollte, Schwester«, sagte Jaime plötzlich. »Das ist nichts Persönliches gewesen. Ich habe nur schlechte Erfahrungen mit Ihrer Kirche gemacht.«

»Das kann ich kaum glauben.«

»Glauben Sie’s ruhig!« Seine Stimme klang verbittert.

Vor Jaimes innerem Auge erschienen die Gebäude, Statuen, Plätze und Straßen Guernicas im todbringenden Bombenhagel. Er glaubte, noch immer das schrille Pfeifen der Bomben zu hören, in das sich die Schreie der hilflosen Opfer mischten. Der einzige Zufluchtsort war die Kirche.

Die Pfaffen haben die Kirche abgesperrt! Sie lassen uns nicht rein!

Und dann der tödliche Kugelhagel, in dem seine Eltern und seine Schwestern ihr Leben gelassen haben. Nein, nicht die Kugeln haben ihnen den Tod gebracht, dachte Jaime. Die Kirche hat sie ermordet.

»Ihre Kirche hat hinter Franco gestanden und zugelassen, dass an der Zivilbevölkerung ungeheuerliche Verbrechen begangen worden sind.«

»Die Kirche hat bestimmt dagegen protestiert«, antwortete Megan.

»Nein! Der Papst hat erst mit Franco gebrochen, als Nonnen von Falangisten vergewaltigt, Geistliche ermordet und Kirchen niedergebrannt worden sind. Aber dadurch sind weder meine Eltern noch meine beiden Schwestern wieder lebendig geworden.«

Die Leidenschaft in seiner Stimme war erschreckend.

»Das tut mir leid. Aber es liegt lange zurück. Der Krieg ist vorbei.«

»Für uns nicht, Schwester. Der Staat verbietet uns noch immer, die baskische Flagge zu hissen, nationale Feiertage zu begehen oder unsere eigene Sprache zu sprechen. Wir werden weiterhin unterdrückt, aber wir kämpfen weiter, bis wir die Unabhängigkeit errungen haben. In Spanien leben eine halbe Million Basken, und in Frankreich sind’s weitere hundertfünfzigtausend. Wir wollen unabhängig sein - aber Ihr Gott ist zu beschäftigt, um uns zu helfen.«

»Gott kann nicht Partei ergreifen, denn er ist in uns allen«, sagte Megan ernsthaft. »Wir alle sind ein Teil von ihm, und wenn wir ihn zu zerstören versuchen, zerstören wir uns selbst.«

Zu ihrer Überraschung lächelte Jaime. »Schwester, wir haben viel Ähnlichkeit miteinander, glaube ich.«

»Tatsächlich?«

»Wir glauben vielleicht an verschiedene Dinge, aber wir glauben leidenschaftlich an sie. Die meisten Menschen gehen durchs Leben, ohne sich für irgend etwas wirklich zu engagieren. Sie haben Ihr Leben Gott geweiht; ich weihe es unserer gerechten Sache. Wir setzen uns für etwas ein.«

Ist mein Glauben stark genug? fragte sich Megan. Und weshalb genieße ich es dann, mit diesem Mann zusammen zu sein? Ich dürfte nur eine Sorge haben: Wie komme ich möglichst schnell ins Kloster zurück? Jaime Miro besaß eine geradezu magische Anziehungskraft. Ist er wie Manolete? Setzt er sein Leben aufs Spiel, weil er glaubt, nichts zu verlieren zu haben?

»Was hätten Sie zu erwarten, wenn Sie eines Tages gefasst würden?« fragte Megan.

»Den Tod.« Das sagte er so nüchtern, dass Megan im ersten Augenblick glaubte, sie habe ihn nicht richtig verstanden.

»Haben Sie denn keine Angst?«

»Natürlich habe ich Angst. Wir haben alle Angst. Keiner von uns will sterben, Schwester. Wir treten früh genug vor unseren Schöpfer. Das wollen wir keineswegs beschleunigen.«

»Haben Sie denn solch schwere Verbrechen verübt?«

»Das kommt auf den jeweiligen Standpunkt an. Der Unterschied zwischen einem Patrioten und einem Rebellen hängt davon ab, wer gerade an der Macht ist. Der Staat bezeichnet uns als Terroristen. Wir nennen uns Freiheitskämpfer. Jean-Jacques Rousseau hat gesagt, Freiheit sei die Macht, sich seine Ketten selbst aussuchen zu können. Und diese Freiheit fordere ich für mich.« Jaime betrachtete sie einen Augenblick. »Aber um solche Dinge brauchen Sie sich nicht zu kümmern, habe ich recht? Sobald Sie wieder im Kloster sind, interessieren Sie sich nicht mehr für die Außenwelt.«

Stimmt das wirklich? Megans Ausflug in die Welt jenseits der Klostermauern hatte ihr Leben auf den Kopf gestellt. Hatte sie mit dem Eintritt ins Kloster ihre Freiheit aufgegeben? Sie ahnte, dass es unendlich viel zu wissen, zu lernen gab, und fühlte sich wie eine Malerin vor einer leeren Leinwand, auf der sie ein neues Leben entwerfen sollte. Sollte ich ins Kloster zurückkehren, dachte sie, bin ich wieder vom Leben abgeschnitten. Und noch während Megan das dachte, erschrak sie darüber, dass sie das Wort sollte gebraucht hatte. Wenn ich zurückgehe, verbesserte sie sich hastig. Natürlich gehe ich zurück. Wo sollte ich sonst hin?

In dieser Nacht schliefen sie im Wald.

»In zwei Tagen treffen wir uns mit den anderen in Logrono«, sagte Jaime, »und ein paar Stunden später sind Sie im Kloster Mendavia.«

Für immer. »Passiert Ihnen auch nichts?« fragte Megan besorgt.

»Machen Sie sich Sorgen um meine Seele - oder um meinen Leib, Schwester?«

Megan spürte, dass sie errötete.

»Keine Angst, mir passiert nichts. Ich wechsle für einige Zeit nach Frankreich über.«

»Ich werde für Sie beten«, versprach Megan ihm.

»Danke«, sagte Jaime ernst. »Ich werde daran denken, dass Sie für mich beten, und mich sicherer fühlen. Schlafen Sie gut, Schwester. Morgen erreichen wir Leon.«

Als Megan sich abwandte, um in ihren Schlafsack zu kriechen, sah sie Amparo, die sie vom Rand der Lichtung aus anstarrte. Aus ihrem Blick sprach blanker Hass.

Keine nimmt mir meinen Mann weg, Kleine!

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