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Lucia Carmine fühlte sich wunderbar, als sie mit Me-gan und Teresa die Straße hinunterging. Es war herrlich, wieder modisch gekleidet zu sein und das leise Knistern von Seide auf der Haut zu spüren. Aus dem Augenwinkel heraus beobachtete sie die beiden anderen. Sie bewegten sich nervös, wirkten in ihrer neuen Aufmachung gehemmt und waren wegen ihrer kurzen Röcke und Nylonstrümpfe sichtlich verlegen.

Sie sehen aus, als stammten sie von einem anderen Planeten, dachte Lucia. Auf diesem hier sind sie jedenfalls nicht zu Hause. Ebenso gut könnten sie Schilder mit der Aufschrift »Fang mich!« hochhalten.

Am unwohlsten von den drei Frauen fühlte sich Schwester Teresa. Dreißig Jahre Klosterleben hatten ihr ein tiefes Gefühl für Sittsamkeit vermittelt, das jetzt durch die ihr aufgezwungenen Ereignisse gröblichst verletzt wurde. Diese Welt, der sie einst angehört hatte, erschien ihr jetzt unwirklich. Nur das Kloster war real, und sie sehnte sich danach, so rasch wie möglich in den Schutz seiner undurchdringlichen Mauern zurückkehren zu dürfen.

Megan nahm wahr, dass Männer sie auf der Straße anstarrten, und wurde rot. Sie hatte so lange in einer Frauenwelt gelebt, dass sie vergessen hatte, wie es war, einen Mann zu sehen oder gar von einem angelächelt zu werden. Es war peinlich, unanständig und. aufregend. Die Männer weckten Gefühle in ihr, die lange verschüttet gewesen waren. Zum ersten Mal seit vielen Jahren war sie sich wieder ihrer Weiblichkeit bewusst.

Sie kamen an der Bar vorbei, aus der wilde Musik auf die Straße dröhnte. Wie hatte Frater Miguel sie genannt? Rock ‘n ’ Roll. Bei der heutigen Jugend sehr beliebt. Irgendetwas beunruhigte sie. Und plötzlich wusste Megan, was es war. Als sie an dem Kino vorbeigegangen waren, hatte der Frater gesagt: Wirklich abscheulich, was die Kinos heutzutage zeigen dürfen. Dieser Film ist reine Pornographie. Die privatesten und persönlichsten Dinge werden in aller Öffentlichkeit gezeigt.

Megans Herz begann rascher zu schlagen. Wie konnte Frater Miguel Rockmusik und den Inhalt dieses Films kennen, wenn er zwanzig Jahre lang in einem Kloster gelebt hatte? Irgendetwas war hier ganz entschieden nicht in Ordnung!

Sie wandte sich an Lucia und Teresa. »Wir müssen sofort in den Laden zurück!« drängte sie.

Die beiden sahen, wie Megan kehrtmachte und davon hastete, und beeilten sich, ihr zu folgen.

Graciela lag auf dem Boden, kämpfte verzweifelt, um sich zu befreien, und krallte und kratzte wie eine Wilde.

»Halt still, verdammt noch mal!« Carrillo geriet allmählich außer Atem.

Er hörte ein Geräusch und hob den Kopf. Er sah noch einen Schuhabsatz auf seine Stirn zukommen, dann wurde es dunkel um ihn.

Megan zog die zitternde Graciela hoch und schloss sie in die Arme. »Pst! Jetzt ist alles wieder gut. Der belästigt dich nicht mehr.«

Graciela brauchte einige Minuten, um sich so weit zu erholen, dass sie wieder sprechen konnte. »Er. er. diesmal ist’s nicht meine Schuld gewesen«, sagte sie bittend.

Inzwischen waren auch Lucia und Teresa in das Geschäft gekommen. Lucia erfasste die Situation mit einem Blick.

»Dieses Schwein!«

Sie starrte den vor ihnen liegenden halbnackten Bewusstlosen an. Während die anderen zusahen, zog Lucia einige Gürtel aus einem Ständer und fesselte damit Miguel Carrillos Hände hinter seinem Rücken. »Du bindest ihm die Beine zusammen«, wies sie Megan an.

Megan machte sich an die Arbeit.

Dann richtete Lucia sich zufrieden auf. »So, das hätten wir! Wenn das Geschäft wieder öffnet, kann er versuchen zu erklären, wie er hier rein gekommen ist.« Sie warf Graciela einen prüfenden Blick zu. »Na, geht’s wieder?«

»Ich. ich. ja.« Sie versuchte zu lächeln.

»Wir müssen verschwinden«, drängte Megan. »Zieh dich an. Schnell!«

»Augenblick«, sagte Lucia, als die anderen schon gehen wollten.

Sie trat an die Registrierkasse und drückte auf die Taste, mit der sich die Kassenschublade öffnen ließ. In der Kasse lagen einige tausend Pesetas. Lucia nahm sie heraus, griff sich eine Geldbörse aus der nächsten Vitrine und stopfte die Scheine hinein. Dabei fing sie einen tadelnden Blick Schwester Teresas auf.

»Man muss die Sache nur richtig sehen, Schwester«, meinte Lucia unbekümmert. »Hätte Gott dieses Geld nicht für uns bestimmt, hätte er’s nicht hier für uns hinterlegt.«

Sie saßen im Cafe und hielten eine Besprechung ab, bei der Schwester Teresa soeben das Wort ergriffen hatte. »Wir müssen das Kruzifix so rasch wie möglich ins Kloster Mendavia schaffen. Dort sind wir alle in Sicherheit.«

Das gilt vielleicht für euch, sagte sich Lucia. Deine Sicherheit ist die Bank in der Schweiz. Aber immer alles der Reihe nach. Zuerst musst du das Kruzifix an dich bringen.

»Das Kloster Mendavia liegt nördlich von hier, stimmt’s?«

»Ja.«

»Die Männer fahnden bestimmt in allen Ortschaften nach uns. Deshalb schlafen wir heute Nacht in den Bergen.«

Dort hört sie niemand, selbst wenn sie kreischt.

Eine Serviererin brachte Speisekarten und verteilte sie am Tisch. Die Schwestern betrachteten sie mit sichtlicher Verwirrung. Lucia begriff plötzlich, weshalb sie verwirrt waren: sie hatten seit Jahren keine Auswahl mehr gehabt. Im Kloster hatten sie automatisch die ihnen vorgesetzte schlichte Kost gegessen. Jetzt sollten sie aus einer Vielzahl unbekannter Köstlichkeiten auswählen.

Schwester Teresa entschied sich als erste. »Ich. ich möchte bitte etwas Tee und Brot.«

»Ich auch«, stimmte Schwester Graciela zu.

»Wir haben einen langen, beschwerlichen Marsch vor uns«, wandte Megan ein. »Ich schlage etwas Nahrhafteres vor - vielleicht Eier.«

Lucia betrachtete sie mit anderen Augen. Vor der musst du dich in acht nehmen, dachte sie. »Schwester Megan hat recht«, sagte sie. »Ich bestelle für uns alle, Schwestern.«

Sie bestellte Tortillas de Patatas, Schinken, frische Brötchen, Marmelade, Kaffee und Orangensaft.

»Wir haben’s eilig«, erklärte sie der Serviererin.

Mit dem Ende der Siesta würde die kleine Stadt wieder aufwachen. Lucia wollte sie verlassen, bevor die Läden wieder öffneten und Miguel Carrillo in dem Modegeschäft aufgefunden wurde.

Als das Essen serviert war, starrten die Schwestern es zunächst nur an.

»Los, bedient euch!« forderte Lucia sie auf.

Sie begannen zu essen - erst noch zurückhaltend, dann jedoch mit wachsendem Appetit, als sie ihre Schuldgefühle zu überwinden begannen.

Nur Schwester Teresa brachte nichts hinunter. »Ich. ich kann nicht«, sagte sie nach dem ersten Bissen. »Das wäre eine Kapitulation.«

»Du willst doch ins Kloster Mendavia, Schwester?« fragte Megan. »Dann musst du essen, um bei Kräften zu bleiben.«

»Gut, ich esse etwas«, antwortete Schwester Teresa spröde. »Aber ich verspreche euch, dass ich’s nicht genießen werde.«

Lucia hatte Mühe, ernst zu bleiben. »So ist’s recht! Iß nur, Schwester.«

Als sie aufgegessen hatten, zahlte Lucia mit einem Teil des Geldes aus der Ladenkasse, und sie traten in den heißen Sonnenschein hinaus. Auf den Straßen herrschte allmählich wieder Leben, und die Geschäfte wurden geöffnet. Miguel Carrillo ist vermutlich schon geschnappt worden, dachte Lucia.

Lucia und Teresa hatten es eilig, Villacastin zu verlassen, aber Megan und Graciela gingen langsam, weil die Düfte, Bilder und Geräusche der Stadt sie faszinierten.

Lucia atmete erst auf, als sie die letzten Häuser hinter sich gelassen hatten und wieder in die Berge unterwegs waren. Sie bewegten sich stetig weiter nach Norden, stiegen höher und höher und kamen wegen des ansteigenden Geländes nur langsam voran. Lucia war versucht, Schwester Teresa zu fragen, ob sie das Kruzifix auch einmal tragen solle, aber sie wollte nichts sagen, was die Ältere hätte misstrauisch machen können.

»Hier können wir übernachten«, schlug Lucia vor, als sie ein Wäldchen an einem Bergbach erreichten. »Morgen wandern wir zum Kloster Mendavia weiter.«

Die anderen nickten gutgläubig.

Die Sonne bewegte sich langsam über den blauen Himmel, und in dem Wäldchen war es still bis auf einzelne beruhigende Sommerlaute. Schließlich sank die Nacht herab.

Die Frauen streckten sich nacheinander im Gras aus.

Lucia lag da, atmete leicht, horchte auf die Atemzüge der anderen und wartete darauf, dass sie einschliefen, damit sie ihre Tat ausführen konnte.

Schwester Teresa hatte Schwierigkeiten mit dem Einschlafen. Es war ein merkwürdiges Erlebnis, unter freiem Himmel, von ihren Mitschwestern umgeben, schlafen zu sollen. Sie hatten jetzt Namen - und Gesichter und Stimmen -, und sie fürchtete, dass Gott sie wegen dieses verbotenen Wissens bestrafen würde. Sie kam sich schrecklich einsam und verlassen vor.

Auch Schwester Megan fand nicht gleich Schlaf - dazu war der vergangene Tag zu aufregend gewesen. Woher habe ich gewusst, dass der Frater ein Hochstapler war? fragte sie sich. Und woher habe ich den Mut genommen, Schwester Graciela zu retten? Sie lächelte und war außerstande, nicht ein ganz kleines bisschen mit sich selbst zufrieden zu sein, obwohl sie wusste, dass das eine Sünde war.

Einzig Schwester Graciela, durch das Erlittene emotional ausgelaugt, schlief bereits. Sie warf sich unruhig hin und her, weil sie im Traum dunkle, endlos lange Korridore entlang gehetzt wurde.

Lucia Carmine lag still und wartete. Erst nach fast zwei Stunden stand sie lautlos auf und schlich in der Dunkelheit zu Schwester Teresa hinüber. Sie würde sich das Kruzifix schnappen und verschwinden.

Als sie Schwester Teresa schon fast erreicht hatte, sah Lucia, dass die Nonne auf den Knien lag und betete. Scheiße! Sie zog sich hastig zurück.

Lucia legte sich wieder hin und zwang sich dazu, Geduld zu haben. Schwester Teresa konnte nicht die ganze Nacht lang beten. Auch sie brauchte irgendwann Schlaf.

Lucia schmiedete Pläne. Das Geld aus der Ladenkasse würde für eine Bus- oder Bahnfahrt nach Madrid reichen. Dort würde es ein Kinderspiel sein, einen Pfandleiher zu finden. Sie stellte sich vor, wie sie den Laden betrat und das goldene Kruzifix auf die Theke legte. Der Pfandleiher würde vermuten, dass es gestohlen war, aber das würde ihn nicht weiter stören. Er würde viele Kunden haben, die es ihm bereitwillig abkaufen würden.

Ich zahle Ihnen hunderttausend Peseten dafür.

Sie würde es vom Ladentisch nehmen. Lieber verkaufe ich erst mich selbst.

Hundertfünfzigtausend Peseten.

Lieber lasse ich’s einschmelzen und das Gold in den Rinnstein laufen.

Zweihunderttausend Peseten. Mein letztes Wort!

Das ist Straßenraub, aber ich nehme das Geld.

Der Pfandleiher würde gierig nach dem Kruzifix greifen.

Unter einer Bedingung.

Welcher?

Ich habe meinen Reisepass verloren. Kennen Sie jemand, der mir einen beschaffen kann? Sie würde das Kruzifix noch immer nicht aus den Händen geben.

Er würde zögern und schließlich sagen: Ich habe zufällig einen Freund, der auf solche Dinge spezialisiert ist.

Und sie würden handelseinig werden: zweihunderttausend Peseten und ein neuer Pass. Damit stand Lucia der Weg in die Schweiz und in die Freiheit offen. Sie erinnerte sich an die Worte ihres Vaters: Auf dem Konto ist mehr Geld, als du in zehn Leben ausgeben kannst.

Die Augen fielen ihr zu. Der Tag war verdammt anstrengend gewesen.

Im Halbschlaf hörte Lucia die Kirchenglocken der fernen Stadt. Sie riefen Erinnerungen an einen anderen Ort, an eine andere Zeit in ihr wach.

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