13

Für Schwester Megan war ihre Flucht ein Abenteuer. Sie hatte sich bereits an die Bilder und Geräusche ihrer neuen Umgebung gewöhnt und staunte nur über die Leichtigkeit, mit der sie sich ihnen angepasst hatte.

Ihre Reisegefährten fand sie faszinierend. Amparo Jiron war so kräftig, dass sie leicht mit den beiden Männern mithalten konnte, aber zugleich auch sehr weiblich.

Felix Carpio, der Mann mit dem rötlichen Bart und der Narbe, wirkte umgänglich und freundlich.

Das aus Megans Sicht interessanteste Mitglied ihrer Gruppe war jedoch Jaime Miro. Seine Aura nie versiegender Stärke und unerschütterlichen Glaubens an seine Überzeugungen erinnerte Megan an die Nonnen im Kloster Avila.

Als sie aufbrachen, trugen Jaime, Amparo und Felix je einen Schlafsack und ein Gewehr über der Schulter.

»Lassen Sie mich einen der Schlafsäcke tragen«, schlug Megan vor.

Jaime Miro starrte sie überrascht an und zuckte dann mit den Schultern. »Gut, wie Sie wollen, Schwester.«

Miro gab ihr den Schlaf sack. Er war schwerer, als Megan erwartet hatte, aber sie verlor kein Wort darüber. Solange ich mit ihnen zusammen bin, will ich meinen Teil leisten.

Megan hatte den Eindruck, sie seien schon eine Ewigkeit im Halbdunkel unterwegs: durch die Mondnacht stolpernd, von Zweigen gepeitscht, vom Unterholz zerkratzt, von Insekten gepeinigt.

Wer sind diese Leute? fragte Megan sich. Und weshalb werden sie verfolgt? Da auch sie und ihre Mitschwestern gejagt wurden, empfand Megan gegenüber ihren neuen Reisegefährten ein starkes Gefühl von Solidarität.

Die anderen sprachen wenig, aber von Zeit zu Zeit bekam Megan rätselhafte Gesprächsfetzen mit.

»Ist in Valladolid alles vorbereitet?«

»Klar, Jaime. Rubio und Tomas treffen sich während des Stierkampfs mit uns in der Bank.«

»Gut. Verständige Largo Cortez, dass er uns erwarten soll. Aber gib kein Datum an.«

»Comprendo.«

Wer sind Rubio und Tomas und Largo Cortez? fragte Megan sich. Und was soll während des Stierkampfes in der Bank passieren? Sie hätte beinahe danach gefragt, hielt aber dann doch lieber den Mund. Wahrscheinlich wäre es ihnen nicht recht, wenn ich einen Haufen Fragen stellen würde.

Kurz vor Tagesanbruch rochen sie aus dem Tal vor ihnen aufsteigenden Rauch.

»Wartet hier«, flüsterte Jaime, »und verhaltet euch ruhig.«

Sie beobachteten, wie er in Richtung Waldrand davonschlich und verschwand.

»Was...?« begann Megan.

»Halt die Klappe!« fauchte Amparo Jiron.

Eine Viertelstunde später kam Jaime Miro zurück.

»Soldaten. Wir müssen ihr Lager umgehen.«

Sie holten fast einen Kilometer weit aus und blieben im Wald in Deckung, bis sie eine Nebenstraße erreichten. Vor ihnen lag eine Landschaft, die im ersten Morgenlicht nach gemähtem Heu und reifem Obst duftete.

Megans Neugier ging mit ihr durch. »Warum sind die Soldaten hinter Ihnen her?« fragte sie.

»Sagen wir mal, weil wir unterschiedlicher Meinung sind«, antwortete Jaime Miro ausweichend.

Und damit musste sie zufrieden sein. Vorerst, dachte Megan. Sie war entschlossen, mehr über diesen Mann in Erfahrung zu bringen.

»Hier bleiben wir, bis es dunkel wird«, entschied Jai-me, als sie eine halbe Stunde später eine geschützte Lichtung erreichten. Er sah zu Megan hinüber. »Heute Nacht müssen wir schneller marschieren.«

Sie nickte. »Einverstanden.«

Jaime nahm die Schlafsäcke und rollte sie aus.

»Sie können meinen haben, Schwester«, sagte Felix Carpio zu Megan. »Ich bin’s gewöhnt, auf der Erde zu schlafen.«

»Er gehört Ihnen«, wehrte Megan ab. »Ich möchte nicht, dass Sie meinetwegen.«

»Nimm ihn schon, verdammt noch mal!« fauchte Amparo sie an. »Wir haben keine Lust, wach gehalten zu werden, nur weil du Angst vor Spinnen hast.« Aus ihrem Tonfall sprach eine für Megan unverständliche Feindseligkeit.

Megan kroch wortlos in den angebotenen Schlafsack. Was hat sie bloß? fragte sie sich.

Dann beobachtete sie, wie Jaime in ihrer Nähe in seinen Schlafsack kroch. Amparo schlüpfte zu ihm hinein. Also deshalb, dachte Megan.

Jaime sah zu Megan hinüber. »Versuchen Sie, rasch einzuschlafen«, sagte er. »Wir haben noch einen langen Marsch vor uns.«

Gegen Mittag wachte Megan durch ein Stöhnen auf. Es klang, als habe jemand grässliche Schmerzen. Im Halbschlaf nahm Megan wahr, dass die Laute aus Jaimes Schlafsack kamen. Er muss schwer krank sein, war ihr erster Gedanke.

Das Stöhnen wurde lauter, und dann hörte sie Amparo Jiron sagen: »O ja, ja. Gib’s mir, Querida. Fester! Ja! Jetzt, jetzt!«

Megan wurde rot. Sie versuchte, ihre Ohren vor diesen Lauten zu verschließen, aber das war unmöglich. Und sie fragte sich, wie es wäre, wenn Jaime Miro sie lieben würde.

Dann bekreuzigte sie sich rasch und begann zu beten: Vater, vergib mir. Lass meine Gedanken stets nur bei dir sein. Lass meinen Geist dich suchen, damit er seinen Ursprung und seine Hoffnung in dir findet...

Aber die Geräusche gingen weiter. Erst als Megan glaubte, sie keine Sekunde länger ertragen zu können, verstummten sie abrupt. Aber es gab genügend andere Laute, die sie weiter wach hielten. Die Geräusche des Waldes und seiner Tierwelt umgaben sie von allen Seiten. Megan hatte ganz vergessen, wie laut die Welt außerhalb der Klostermauern sein konnte. Sie sehnte sich nach der wunderbaren Stille des Nonnenklosters zurück. Zu ihrem Erstaunen hatte sie sogar gelinde Sehnsucht nach dem Waisenhaus. Nach dem schrecklichen, wundervollen Waisenhaus.

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