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Pamplona 1976

Schlägt der Plan fehl, sterben wir alle. Mit diesem Bewusstsein überprüfte er ihn ein letztes Mal, sondierte, testete, suchte nach Schwachstellen. Aber er fand keine. Der Plan war gewagt und erforderte sorgfältige, auf die Sekunde genaue Zeitplanung. Funktionierte er, würde ihnen eine spektakuläre, des großen Cid würdige Heldentat gelingen. Schlug er jedoch fehl...

Nun, zum Sorgenmachen ist jetzt keine Zeit mehr, dachte Jaime Miro philosophisch Jetzt muss gehandelt werden!

Jaime Miro war eine lebende Legende: für die Basken ein Held, für die spanische Regierung ein Staatsfeind. Er war 1,83 Meter groß und hatte ein energisches, intelligentes Gesicht, düstere schwarze Augen und einen muskulösen Körper. Zeugen neigten dazu, ihn größer, wilder und finsterer zu schildern, als er in Wirklichkeit war. Er war ein komplizierter Mann, ein Realist, der sich darüber im klaren war, wie schlecht seine Chancen standen, ein Romantiker, der bereit war, für seine Überzeugungen in den Tod zu gehen.

Ganz Pamplona schien in einem Taumel zu leben. Dies war der letzte Morgen, an dem während der vom 7. bis 14. Juli jeden Jahres stattfindenden Fiesta de San Fermin die Stiere durch die Stadt getrieben wurden. Dreißigtausend Besucher waren aus aller Welt in die Stadt geströmt. Die meisten waren nur gekommen, um das gefährliche Schauspiel des Stiertreibens zu sehen; einige wollten jedoch ihre Männlichkeit beweisen, indem sie selbst daran teilnahmen und vor den heranstampfenden Stieren herliefen. Sämtliche Hotelzimmer waren längst ausgebucht, und Studenten aus Navarra übernachteten in Autos, Hauseingängen, Bankschalterhallen, auf dem großen Platz der Stadt und selbst auf Straßen und Gehsteigen.

Die Touristen drängten sich in den Cafes und Hotels, beobachteten die lärmenden, farbenprächtigen Umzüge mit Papiermachegiganten und hörten der Musik der mitmarschierenden Blaskapellen zu. Die Teilnehmer an den Umzügen trugen violette Roben - manche mit grünen Kapuzen, andere mit granatroten, wieder andere mit goldenen. Auf ihrem Weg durch die Straßen erinnerten diese Umzüge an regenbogenfarbene Flüsse. Ketten explodierender Feuerwerkskörper an den Strommasten und -leitungen der Straßenbahn vermehrten den Lärm und die allgemeine Verwirrung.

Die Menge war gekommen, um die abendlichen Stierkämpfe zu sehen, aber das spektakulärste Ereignis war der »Encierco« - der frühmorgendliche Auftrieb der Stiere, die später in der Arena kämpfen würden.

Zehn Minuten vor Mitternacht waren die Stiere aus den Corrales de gas, den Aufnahmekorralen, durch die verdunkelten Straßen der unteren Stadt und auf einer Brücke über den Fluss zu dem Korral am Ende der Calle Santo Domingo getrieben worden, in dem sie die Nacht verbringen würden. Morgens würden sie freigelassen werden und durch die enge Calle Santo Domingo laufen, auf der hölzerne Barrieren an jeder Kreuzung ein Entkommen verhinderten, um schließlich in die Korrale auf der Plaza de Hemingway zu gelangen, in denen sie bis zum nachmittäglichen Stierkampf bleiben würden.

Die Besucher blieben von Mitternacht bis acht Uhr morgens wach, tranken und sangen und liebten sich, weil sie vor Aufregung keinen Schlaf fanden. Wer am Stiertreiben teilnehmen würde, trug den roten Schal San Fer-mins um den Hals.

Ab Viertel vor sechs marschierten Blaskapellen durch die Straßen und spielten die ins Blut gehende Musik Navarras. Um Punkt sieben Uhr verkündete eine abgeschossene Rakete, dass die Korraltore geöffnet worden waren. Die Menge wurde von fieberhafter Erregung erfasst. Unmittelbar danach stieg eine zweite Rakete auf, um die Stadt zu warnen, dass die Stiere los waren.

Nun folgte ein unvergessliches Schauspiel.

Zuerst kam das Geräusch. Es begann mit einem schwachen, fernen, eben wahrnehmbaren Rauschen im Wind und wurde dann lauter und lauter, zu einer Explosion aus donnernden Hufen, mit der plötzlich sechs Ochsen und sechs riesige Stiere auftauchten. Die je siebenhundert Kilogramm schweren Kolosse rasten die Calle Santo Domingo wie ein tödlicher Schnellzug entlang. Vor den hölzernen Barrieren, die an jeder Kreuzung aufgestellt worden waren, um die Tiere am Verlassen der Straße zu hindern, standen Hunderte von eifrigen, nervösen jungen Männern, die sich den tobenden Bestien stellen wollten, um ihren Mut zu beweisen.

Zu »Ole«-Rufen der erregten Menge rasten die Stiere die ganze Straße entlang - an der Calle Laestrafeta und der Calle de Javier vorbei, vorbei an Apotheken, Textilgeschäften und Obstläden - auf die Plaza de Hemingway zu. Sobald die Tiere herandonnerten, begann eine wilde Flucht vor ihren spitzen Hörnern und tödlichen Hufen. Die plötzliche Realität des herannahenden Todes brachte einige Teilnehmer dazu, sich in Hauseingänge und auf Feuertreppen zu flüchten. Der Schmähruf »Cobardon!« -Feigling - verfolgte sie dorthin. Hier und da stolperten Männer und stürzten vor die heranrasenden Stiere und wurden rasch in Sicherheit geschleppt.

Ein kleiner Junge und sein Großvater standen hinter einer der Barrieren: beide atemlos vor Aufregung wegen des Schauspiels, das sich unmittelbar vor ihnen ereignete.

»Sieh sie dir an!« rief der Alte aus. »Magnifico!«

Der kleine Junge fuhr zusammen. »Tengo miedo, Abue-lo. Ich hab’ Angst.«

Der Alte legte ihm einen Arm um die Schultern. »Si, Manolo. Es ist erschreckend - aber auch wundervoll. Ich bin einmal mit den Stieren gerannt. Das lässt sich mit nichts vergleichen. Man trotzt dem Tod und fühlt sich danach als richtiger Mann.«

Normalerweise brauchten die Stiere etwa zwei Minuten für die gut achthundert Meter die Calle Santo Domingo entlang bis zur Arena; und sobald sie sicher im Korral eingesperrt waren, würde eine weitere Rakete abgeschossen werden. An diesem Tag stieg die dritte Rakete jedoch nicht auf, denn es kam zu einem in der vierhundertjährigen Geschichte des Stiertreibens in Pamplona noch nie da gewesenen Vorfall.

Während die Tiere die schmale Straße entlang rasten, verschob ein halbes Dutzend Männer in farbenprächtigen Feria-Kostümen die hölzernen Barrieren. Statt auf der abgesperrten Calle Santo Domingo befanden die Stiere sich plötzlich im Stadtzentrum in Freiheit. Was eben noch eine unbekümmerte Feier gewesen war, verwandelte sich in einen Alptraum: die wütenden Stiere griffen mit gesenkten Hörnern die verwirrten Zuschauer an.

Der kleine Junge und sein Großvater gehörten zu den ersten, die von den Stieren überrannt und getötet wurden. Gefährlich spitze Hörner bohrten sich in einen Kinderwagen, durchbohrten ein Baby und warfen seine Mutter zu Boden, wo sie zertrampelt wurde. Die Tiere walzten hilflose Zuschauer nieder, brachten Frauen und Kinder zu Fall, spießten mit ihren langen tödlichen Hörnern Fußgänger, Imbissstände und Obstkarren auf und schleuderten alles beiseite, was das Pech hatte, ihnen in die Quere zu geraten. Entsetzt aufschreiende Menschen bemühten sich verzweifelt, sich vor den tobenden Ungeheuern in Sicherheit zu bringen.

Plötzlich erschien ein feuerroter Lastwagen vor den Stieren, die sofort die Calle de Estrella - die zum Carcel, dem Gefängnis Pamplonas, führende Straße - entlang zum Angriff übergingen.

Das Carcel ist ein bedrohlich wirkendes einstöckiges Steingebäude mit schwer vergitterten Fenstern. An seinen vier Ecken ragen Türme auf; über dem Eingang hängt die rot-gelbe spanische Flagge. Unter einem steinernen Torbogen führt ein Holztor in den kleinen Gefängnishof. Im ersten Stock des Gebäudes liegt eine Reihe von Zellen für zum Tode verurteilte Häftlinge.

Im Gefängnisinneren führte ein untersetzter Aufseher in der Uniform der Policia Armada einen Geistlichen in schlichter schwarzer Soutane durch den Gang im ersten Stock. Der Polizeibeamte war mit einer Maschinenpistole bewaffnet.

»Hier kann man nicht vorsichtig genug sein, Pater«, sagte der Aufseher, als er den fragenden Blick sah, mit dem der Geistliche seine Waffe betrachtete. »In diesem Stock bewachen wir den Abschaum der Erde.«

Er blieb stehen und machte dem Geistlichen ein Zeichen, durch einen Metalldetektor zu gehen, der den auf Flughäfen benützten Geräten glich.

»Tut mir leid, Pater, aber die Vorschriften.« »Natürlich, mein Sohn.«

Als der Geistliche durch den Detektor trat, heulte eine schrille Sirene los. Der Uniformierte umklammerte instinktiv seine Waffe.

Der Geistliche drehte sich um und lächelte den Aufseher beruhigend an.

»Meine Schuld«, sagte er, nahm das an einer Silberkette um seinen Hals hängende schwere Bronzekreuz ab und hielt es dem Polizeibeamten zur Verwahrung hin. Diesmal blieb die Sirene stumm, als er den Detektor durchschritt. Der Aufseher gab ihm das Kreuz zurück, und die beiden setzten ihren Weg ins Innerste des Gefängnisses fort.

Der Gestank im Korridor in der Nähe des Zellenblocks war fast unerträglich.

Der Uniformierte war in philosophischer Stimmung. »Wissen Sie, eigentlich vergeuden Sie hier Ihre Zeit, Pater. Diese Tiere haben keine Seele, die Sie retten könnten.«

»Trotzdem müssen wir’s versuchen, mein Sohn.«

Der Aufseher schüttelte den Kopf. »Auf beide wartet das Fegefeuer, sage ich Ihnen.«

Der Geistliche starrte ihn überrascht an. »Auf beide?« wiederholte er. »Mir hat man gesagt, hier warteten drei darauf, dass ich ihnen die Beichte abnehme.«

Der Polizeibeamte zuckte mit den Schultern. »Wir haben Ihnen etwas Zeit erspart. Zamora ist heute morgen in der Krankenabteilung gestorben. Herzschlag.«

Die Männer hatten die beiden letzten Zellen erreicht.

»Hier müssen wir hin, Pater.«

Der Uniformierte schloss eine Zellentür auf und trat dann vorsichtig zurück, während der Geistliche die Zelle betrat. Er sperrte hinter ihm ab, blieb im Korridor stehen und horchte auf irgendeinen Laut, der auf ungebührliches Betragen des Häftlings hätte schließen lassen.

Der Geistliche trat auf den Mann zu, der auf einer schmutzigen Gefängnispritsche lag. »Dein Name, mein Sohn?«

»Ricardo Mellado.«

Der Geistliche starrte auf ihn hinab. Wie der Mann aussah, war schwer zu beurteilen. Sein Gesicht war geschwollen und verfärbt, seine Augen waren fast zugequollen. »Ich bin froh, dass Sie kommen konnten, Pater«, sagte er mit dicken Lippen.

»Die Kirche hat die Pflicht, zu deiner Erlösung beizutragen, mein Sohn«, antwortete der Geistliche.

»Ich soll also heute morgen gehenkt werden?«

Der Geistliche legte ihm tröstend eine Hand auf die Schulter. »Du bist zum Tode durch die Garrotte verurteilt worden.«

Ricardo Mellado starrte erschrocken zu ihm auf. »Nein!«

»Tut mir leid, das hat der Ministerpräsident angeordnet.«

Der Geistliche legte seine Rechte auf den Kopf des Häftlings und intonierte: »Di me tuspecados...«

»Ich habe in Gedanken, Worten und Taten schwer gesündigt«, bekannte Ricardo Mellado, »und bereue alle meine Sünden von ganzem Herzen.«

»Ruego a nuestro Padre celestialpor la salvacion de tu ama. In el nombre del Padre, delHijo y el Espiritu Santo.«

Der draußen vor der Zelle horchende Aufseher dachte: Was für eine dämliche Zeitverschwendung! Den lässt Gott doch in der Hölle braten!

Der Geistliche war fertig. »Adios, mein Sohn. Möge Gott deine Seele in Frieden empfangen.«

Der Polizeibeamte öffnete dem Geistlichen die Zellentür, trat sofort wieder zurück, ließ aber seine Waffe auf den Häftling gerichtet. Nachdem die Tür wieder abgesperrt war, wandte sich der Aufseher der nächsten Zellentür zu und schloss sie auf.

»Bitte sehr, Pater.«

Der Geistliche betrat die zweite Zelle. Auch ihr Insasse war schwer misshandelt worden. Der Besucher starrte ihn lange an. »Wie heißt du, mein Sohn?«

»Felix Carpio.« Er war ein muskulöser, bärtiger Mann mit einer kaum verheilten Narbe auf der linken Backe, die selbst sein Vollbart nicht verdecken konnte. »Ich habe keine Angst vorm Sterben, Pater.«

»Das ist gut, mein Sohn, denn sterben müssen wir eines Tages alle.«

Während der Geistliche Carpio die Beichte abnahm, begannen anfangs noch ferne Geräusche, die rasch lauter wurden, durchs Gebäude zu hallen. Das Donnern der wild gewordenen Stiere ging fast in den Schreckensschreien der fliehenden Menge unter. Der Aufseher lauschte verblüfft nach draußen. Die Geräusche kamen schnell näher.

»Beeilen Sie sich lieber, Pater. Draußen geht irgendwas Merkwürdiges vor.«

»Ich bin fertig.«

Der Uniformierte sperrte hastig die Zellentür auf. Nachdem der Geistliche in den Korridor getreten war, schloss der Aufseher hinter ihm ab. Vom Gefängniseingang her ertönte ein lautes Krachen. Der Polizeibeamte machte kehrt, um aus einem schmalen, vergitterten Fenster zu sehen.

»Was ist das für ein Krach, verdammt noch mal?« »Anscheinend will uns jemand besuchen«, sagte der Geistliche. »Darf ich sie mir kurz ausleihen?«

»Was ausleihen?«

»Ihre Maschinenpistole, por favor.«

Während der Geistliche sprach, trat er auf den Uniformierten zu. Er griff wortlos nach seinem großen Brustkreuz, das sich teilen ließ, und zog ein langes, gefährlich aussehendes Stilett heraus. Dann stieß er es dem Aufseher mit einer blitzschnellen Bewegung in die Brust.

»Siehst du, mein Sohn«, sagte er, während er dem Sterbenden die MP entriss, »Gott und ich haben beschlossen, dass du diese Waffe nicht mehr brauchst.«

Der Aufseher sackte auf dem Betonfußboden zusammen. »In nomine patris«, murmelte Jaime Miro und bekreuzigte sich andächtig. Er nahm dem Toten die Schlüssel ab und sperrte hastig die beiden Zellen auf. Der von der Straße heraufdringende Lärm wurde noch lauter.

»Los, wir müssen weiter!« drängte Jaime.

Ricardo Mellado griff nach der Maschinenpistole. »Mann, du gibst einen verdammt guten Priester ab. Fast hättest du mich überzeugt.« Er versuchte, mit seinen geschwollenen Lippen zu lächeln.

»Felix und dich haben sie wirklich in die Mangel genommen, was? Aber das werden sie noch büßen!«

Jaime Miro legte den beiden seine Arme um die Schultern und führte sie den Korridor entlang.

»Was ist mit Zamora passiert?«

»Die Aufseher haben ihn tot geprügelt. Wir haben seine Schreie gehört. Sie haben ihn in die Krankenabteilung geschleppt und behauptet, er sei an Herzversagen gestorben.«

Vor ihnen war der Gang durch eine massive Stahl tür abgeriegelt.

»Ihr wartet hier«, wies Jaime Miro seine Männer an.

Er trat an die Tür. »Ich bin hier fertig«, sagte er zu dem Polizeibeamten auf der anderen Seite.

Der Aufseher sperrte die Tür auf. »Beeilen Sie sich lieber, Pater. Draußen geht irgendwas.« Er brachte diesen Satz nicht mehr zu Ende. Als Jaime ihm das Stilett in die Brust stieß, quoll ein Blutstrom aus seinem Mund.

Jaime machte seinen Leuten ein Zeichen. »Los, weiter!«

Felix Carpio schnappte sich die Maschinenpistole des Aufsehers und hastete hinter den beiden anderen die Treppe hinunter. Draußen herrschte unglaubliche Verwirrung. Polizeibeamte liefen durcheinander, versuchten zu begreifen, was passiert war, und bemühten sich, die kreischenden Menschen abzudrängen, die auf der Flucht vor den wütenden Stieren waren.

Ein Tier hatte das Holztor gerammt und aufgesprengt; ein anderes war eben dabei, einen zu Boden gegangenen Uniformierten aufzuspießen. Der rote Lastwagen stand mit laufendem Motor auf dem Hof. Im allgemeinen Durcheinander achtete fast niemand auf die drei Männer. Und die wenigen, denen sie auffielen, waren zu sehr damit beschäftigt, sich vor den Stieren in Sicherheit zu bringen, als dass sie etwas tun konnten, um die drei aufzuhalten.

Jaime und seine Männer kletterten wortlos auf die Ladefläche des Lastwagens, der sofort davon röhrte und die Passanten auf den belebten Straßen erschrocken auseinanderstieben ließ.

Die Guardia Civil, die paramilitärische Landpolizei in grünen Uniformen mit schwarzen Lacklederkappen, bemühte sich vergeblich, den hysterischen Mob unter Kontrolle zu bringen. Auch die in den Provinzhauptstädten stationierte Policia Armada war angesichts der allgemeinen Verwirrung machtlos. Auf der Flucht vor den wütenden Stieren stob die Menge nach allen Richtungen auseinander. Die eigentliche Gefahr ging weniger von den Stieren, sondern von den Menschen aus, die einander umrannten, um nur möglichst schnell wegzukommen. Vor allem Kinder und Alte gerieten unter die Füße des über sie hinwegtrampelnden Mobs.

Jaime beobachtete dieses erschreckende Schauspiel verzweifelt. »So war’s nicht geplant!« rief er aus. »Der Lastwagen hätte vor der nächsten Barriere warten sollen.« Er starrte die angerichtete Verwüstung hilflos an, ohne etwas dagegen unternehmen zu können. Deshalb schloss er zuletzt die Augen, um sie nicht länger sehen zu müssen.

Der Lastwagen erreichte die Vororte Pamplonas, fuhr nach Süden weiter und ließ den Lärm und das allgemeine Durcheinander hinter sich.

»Wohin fahren wir, Jaime?« wollte Ricardo Mellado wissen.

»Zu einem sicheren Haus außerhalb von Lorca. Dort bleiben wir, bis es dunkel wird. Dann geht’s weiter.«

Felix Carpio stöhnte vor Schmerzen.

Jaime Miro warf ihm einen mitleidigen Blick zu. »Wir sind bald da, mein Freund«, versicherte er ihm.

Vor seinem inneren Auge stand weiter die schreckliche Szene in Pamplona.

Nach halbstündiger Fahrt erreichten sie das kleine Dorf Lorca und fuhren daran vorbei zu einem einsam gelegenen Haus in den Bergen oberhalb des Dorfs. Jaime Miro half den beiden Männern von der Ladefläche des roten Lastwagens.

»Ihr werdet um Mitternacht abgeholt«, sagte der Fahrer.

»Sorg dafür, dass ein Arzt mitkommt«, wies Jaime ihn an. »Und sieh zu, dass du den Lastwagen los wirst.«

Die drei Männer betraten das Haus, ein schlichtes und trotzdem behagliches Bauernhaus mit Balkendecken und einem offenen Kamin im Wohnzimmer. Auf dem Tisch lag ein kurzer Brief. Jaime Miro las ihn und lächelte über die traditionelle Begrüßungsphrase: Mi casa es su casa. Auf der Anrichte standen Weinflaschen. Jaime entkorkte eine und schenkte ein.

»Ich finde keine Worte, um dir zu danken, mein Freund«, sagte Ricardo Mellado. »Auf dein Wohl!«

Jaime hob sein Glas. »Auf die Freiheit!«

In diesem Augenblick begann ein in einem Käfig gehaltener Singvogel laut zu trillern. Jaime Miro trat ans Vogelbauer und beobachtete den wieder verstummten Gefangenen nachdenklich. Dann öffnete er die Käfigtür, holte den wild flatternden Vogel behutsam heraus und trug ihn zum offenen Fenster.

»Flieg, Pajarito«, sagte er leise, »alle Lebewesen sollten frei sein.«

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