Fünfzig Kilometer östlich von Salamanca schlief Lucia Carmine in einem Wäldchen an der Straße nach Penafiel.
Rubio Arzano, der ihren Schlaf bewachte, zögerte lange, sie zu wecken. Sie schläft wie ein Engel, dachte er.
Aber es war schon fast Tag, und sie mussten weiter.
Rubio beugte sich über sie und flüsterte sanft: »Schwester Lucia.«
Sie schlug die Augen auf.
»Tut mir leid, aber wir müssen weiter.«
Lucia gähnte und reckte sich dann verschlafen. Ihre am Hals geöffnete Bluse hatte sich etwas weiter geöffnet und gewährte tiefen Einblick. Rubio sah hastig weg.
Ich muss meine Gedanken im Zaum halten, überlegte er sich dabei. Sie ist eine Braut Christi.
»Schwester.«
»Ja?«
»Ich. ich würde Sie gern um einen Gefallen bitte.« Er wurde beinahe rot.
»Ja?«
»Ich. es ist lange her, dass ich zuletzt gebetet habe. Aber ich bin katholisch erzogen. Würden Sie ein Gebet mit mir sprechen?«
Lucia hätte alles andere erwartet - nur das nicht!
Wie lange hast du schon nicht mehr gebetet? fragte sie sich.
Die Zeit im Kloster zählte nicht. Während die Schwestern gebetet hatten, war sie damit beschäftigt gewesen, Fluchtpläne zu schmieden.
»Ich. ich weiß nicht, ob.«
»Das würde uns bestimmt beiden gut tun.«
Wie sollte sie ihm erklären, dass sie sich an kein Gebet erinnern konnte? »Ich. äh.« Ja! Lucia fiel ein Psalm ein. Sie sah sich als kleines Mädchen vor ihrem Bett knien und ihren Vater, der sie zudecken wollte, neben sich stehen. Nun erinnerte sie sich auch wieder an die Worte von Psalm 23.
»Der Herr ist mein Hirte; mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf seiner grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser. Er erquicket meine Seele und führet mich auf rechter Straße um seines Namen willen.«
Die Erinnerung überwältigte sie fast.
Sie und ihr Vater hatten die ganze Welt besessen. Und er war so stolz auf seine Tochter gewesen!
Du bist unter einem Glücksstern geboren, faccia del angelo.
Und Lucia hatte sich schön und glücklich gefühlt, wenn er das gesagt hatte. Nichts und niemand konnte ihr jemals etwas anhaben. War sie denn nicht die schöne Tochter des mächtigen Angelo Carmine?
»Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, fürchte ich kein Unglück.«
Die Bösen waren die Feinde ihres Vaters und ihrer Brüder. Und sie hatte sich an ihnen gerächt.
».denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich.«
Wo ist Gott gewesen, als du trostbedürftig gewesen bist? fragte Lucia sich.
»Du bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde. Du salbest mein Haupt mit Öl und schenkest mir voll ein.«
Lucia sprach jetzt langsamer, aber noch immer sehr leise. Was ist aus dem kleinen Mädchen im weißen Kommunionkleid geworden? überlegte sie. Deine Zukunft hat so glänzend ausgesehen. Aber irgendwie ist alles schief gegangen... Alles! Du hast deinen Vater, deine Brüder und dich selbst verloren.
Im Kloster hatte sie nicht an Gott gedacht. Aber hier in Gottes freier Natur, in Gesellschaft dieses einfältigen Bauern.
Würden Sie ein Gebet mit mir sprechen?
»Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang«, fuhr Lucia fort, »und ich werde bleiben im Hause des Herrn immerdar.«
Rubio beobachtete sie sichtlich bewegt.
»Danke, Schwester.«
Lucia, die im Augenblick nicht sprechen konnte, nickte wortlos. Was ist in dich gefahren? fragte sie sich.
»Sind Sie bereit, Schwester?«
Sie erwiderte Rubio Arzanos Blick. »Ja«, antwortete sie, »ich bin bereit.«
Wenige Minuten später waren sie wieder unterwegs.
Plötzlich einsetzender Regen zwang sie dazu, in einer verlassenen Hütte Schutz zu suchen. Der Regen prasselte wie Maschinengewehrfeuer aufs Blechdach und gegen die Rückwand der baufälligen Hütte.
»Glauben Sie, dass dieser Sturm jemals wieder aufhört?«
Rubio lächelte. »Das ist kein richtiger Sturm, Schwester. Wir Basken nennen ihn Sirimiri. Er hört so schnell auf, wie er angefangen hat. Der Boden ist ausgetrocknet. Er braucht diesen Regen.«
»Tatsächlich?«
»Ja. Ich bin nämlich Bauer.«
Das merkt man, dachte Lucia.
»Entschuldigen Sie, wenn ich das sage, Schwester, aber wir haben viel gemeinsam.«
Darauf kannst du lange warten! sagte Lucia sich mit einem Blick auf den unbeholfenen Bauernlümmel. »Wirklich?«
»Ja. Ich glaube, dass das Leben auf einem Bauernhof große Ähnlichkeit mit dem in einem Kloster hat.«
Sie begriff nicht, an welche Gemeinsamkeiten er dachte. »Das verstehe ich nicht.«
»Nun, Schwester, im Kloster denkt man viel über Gott und seine Wunder nach, nicht wahr?«
»Ja, das stimmt.«
»Ein Bauernhof ist in gewisser Beziehung eine Verkörperung Gottes. Man ist von der Schöpfung umgeben -von all den Dingen, die aus Gottes Erde wachsen, ob’s nun Weizen oder Oliven oder Trauben sind -, und alles kommt von Gott, nicht wahr? Das alles sind Wunder, die man tagtäglich beobachten kann, und weil man mithilft, sie gedeihen zu lassen, ist man selbst Bestandteil dieser Wunder.«
Lucia musste über die Begeisterung lächeln, die aus seiner Stimme sprach.
Plötzlich hörte der Regen wieder auf.
»Wir können weiterziehen, Schwester.«
»Bald kommen wir an den Rio Duero«, erklärte Rubio seiner Begleiterin. »Vor uns liegen die Penafiel-Wasserfälle. Über Aranda de Duero erreichen wir dann Logrono, wo wir zu den anderen stoßen.«
Dort triffst du dich mit ihnen, dachte Lucia. Und ich wünsche dir alles Gute! Ich bin um diese Zeit schon in die Schweiz unterwegs, mein Freund.
Sie hörten die Wasserfälle schon eine halbe Stunde, bevor sie sie erreichten. Die schäumend in den reißenden Fluss hinab stürzenden Penafiel-Fälle boten ein atemberaubend schönes Bild. Ihr Tosen war beinahe ohrenbetäubend.
»Ich möchte baden«, sagte Lucia plötzlich. Ihr letztes Bad schien Jahre zurückzuliegen.
Rubio Arzano starrte sie an. »Hier?«
Nein, in Rom, du Idiot! »Ja.«
»Aber seien Sie vorsichtig! Der Fluss führt nach dem Regen Hochwasser.«
»Keine Angst, ich passe schon auf.« Sie blieb geduldig wartend stehen.
»Oh. Ich gehe ein Stück weiter, während Sie baden.«
»Bleiben Sie lieber in der Nähe«, bat Lucia ihn rasch. Wahrscheinlich gab es in den Wäldern wilde Tiere.
Als Lucia sich auszuziehen begann, ging Rubio hastig ein paar Schritte weiter und kehrte ihr den Rücken zu.
»Gehen Sie nicht zu weit hinein, Schwester!« rief er warnend. »Der Fluss ist tückisch!«
Lucia legte das goldene Kruzifix in seiner Leinenumhüllung so am Ufer ab, dass sie es im Auge behalten konnte. Die kühle Morgenluft auf ihrer bloßen Haut war wunderbar erfrischend. Als sie ganz nackt war, stieg sie ins Wasser. Es war kalt und belebend. Sie drehte sich um und stellte fest, dass Rubio ihr standhaft weiter den Rücken zukehrte. Darüber musste sie lächeln. Alle anderen Männer, die sie kannte, hätten sich diese Augenweide nicht entgehen lassen.
Lucia watete tiefer ins Wasser, wich den überall im Flussbett liegenden Felsen aus, schöpfte mit beiden Händen Wasser über ihren Oberkörper und spürte, wie die Strömung an ihren Beinen riss.
Wenige Meter von ihr entfernt trieb ein kleiner Baum den Fluss hinab. Als Lucia sich zur Seite drehte, um ihm nachzusehen, verlor sie plötzlich das Gleichgewicht und rutschte kreischend aus. Sie klatschte ins aufspritzende Wasser und schlug sich den Kopf an einem Felsbrocken an.
Rubio warf sich herum und sah zu seinem Entsetzen, wie Lucia von den hochgehenden Wellen des schäumenden Flusses mitgerissen wurde.