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Coop steckte das Skalpell in eine Plastiktüte. Rick nahm sich Dr. Bruce Buxton vor, der nicht gut gelaunt war. »Fällt Ihnen irgendwas dazu ein?«

»Nein.« Bruce schob den Unterkiefer vor, als er dem Sheriff ant­wortete.

»Ach, kommen Sie, Doc. Sie haben Feinde. Wir alle haben Feinde. Jemand zeigt mit dem Finger auf Sie und sagt:>Der ist der Mörder, und das ist der Beweis<.«

Bruce, der gut zehn Zentimeter größer war als Rick, straffte die Schultern. »Ich hab Ihnen doch gesagt, ich kenne niemanden, der so was tun würde, und ich hab Hank Brevard nicht umgebracht.«

»Möchte wissen, wie viele Patienten er auf dem Operationstisch verloren hat«, sagte Pewter, die ewige Zynikerin.

»Er hat vermutlich mehr durch sein Benehmen am Krankenbett verloren als durch Inkompetenz«, bemerkte Mrs. Murphy scharfsin­nig.

»Er hat keine Angst. Ich kann Angst riechen und er gibt diesen Ge­ruch nicht von sich.« Tucker beschnupperte Bruces Hosenbein.

»Sie können ruhig die Post weiter sortieren. Aber sagen Sie mir zu­erst mal, wo Sie den Umschlag gesehen haben«, bat der Sheriff Har­ry, Miranda und Susan, die jetzt hier festsaß, weil sie vorbeigekom­men war, um zu helfen. Er hatte Mim zuerst befragt, damit sie gehen konnte.

»Ich hab ihn zuerst gesehn«, verkündete Tucker.

»Hast du gar nicht. Ich hab ihn zuerst gesehn«, widersprach Pewter dem Hund mit den leuchtenden Augen.

»Das kümmert die nicht. Auch wenn du den Menschen eine Woche gäbst, würden sie immer noch nicht kapieren, daß uns was Merk­würdiges zuerst aufgefallen ist.« Murphy ließ sich auf dem Sims zwischen den oberen und unteren Postfächern auf die Seite plump­sen.

»Ich hab den Umschlag gesehen.« Von einem Frösteln gepackt, rollte Harry ihren Rollkragen hoch, den sie zuvor heruntergekrempelt hatte. »Tatsächlich hat Mrs. Murphy ihn erschnuppert. Weil er ihr aufgefallen ist, ist er mir dann aufgefallen.« »So eine Überraschung.« Mrs. Murphys lange seidige Augenbrau­en schnellten hoch.

»Hören Sie, Sheriff. Ich muß in einer Stunde im Krankenhaus sein und die Hände desinfiziert haben.« Bruce verlagerte ungeduldig sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen.

»Wann sind Sie dort fertig?« Rick ignorierte Bruces überhebliches Getue.

»Wenn keine Komplikationen auftreten, so gegen vier.«

»Dann sehen wir uns um vier in Ihrem Sprechzimmer.«

»Das muß doch nicht publik gemacht werden, oder?« Bruce hob die Stimme, die für einen so großen Mann eigenartig hell war.

»Nein.«

»Sam Mahanes braucht nichts davon zu wissen, wenn es sich nicht als die Mordwaffe herausstellt. Und das wird es nicht.«

Coop mit ihrem guten Gespür für Zwischentöne und Nuancen hörte die unterdrückte Wut, als Bruce Sam Mahanes erwähnte.

»Wieso sind Sie so sicher, daß es nicht die Mordwaffe ist?«, fragte sie.

»Weil ich ihn nicht getötet habe.«

Sie blieb beharrlich. »Das Skalpell könnte trotzdem die Mordwaffe sein.«

»Ich hab gehört, daß Hank um ein Haar enthauptet wurde. Dafür braucht man eine breite, lange, scharfe Klinge. Dabei fällt mir ein, die Geschichte war auf allen Nachrichtenkanälen und in der Zeitung. Das Krankenhaus wird bald von Reportern überrannt werden. Wol­len Sie mich wirklich in meinem Sprechzimmer aufsuchen?«

»Ja«, erwiderte Rick.

Rick wollte das Krankenhauspersonal wissen lassen, daß er Dr. Buxton aufsuchte, aber das sagte er ihm nicht. Er wollte dort weitere Angestellte befragen.

Es stand für ihn keinesfalls fest, daß der Mörder im Krankenhaus arbeitete. Fest stand jedoch, daß der Mörder den Grundriß des Kel­lers kannte.

Trotzdem hoffte Rick, daß seine Anwesenheit die eine oder andere Tatsache aufstören oder gar den Täter verstören würde.

»Also, wir sehen uns um vier.« Bruce ging, ohne auf Wiedersehen zu sagen.

»Harry, wohin gucken Sie?« Rick deutete auf sie.

»Auf Sie.«

»Und?«

»Sie haben eine gute Menschenkenntnis«, lobte sie ihn.

Überrascht erwiderte er: »Danke« - holte tief Luft - »und stecken Sie bloß nicht Ihre Nase in diesen Fall.«

»Ich stecke meine Nase nicht rein. Ich arbeite hier. Das Skalpell ist mit der Post gekommen.« Sie hob die Hände.

»Harry, ich kenne Sie.« Er stieß mit dem Zeh gegen einen Post­sack. »Schön, gehen Sie wieder an die Arbeit. Susan?«

»Ich bin zum Tee vorbeigekommen und um zu helfen. Es ist Valen­tinstag.«

»Oh, Scheiße.« Er schlug sich an den Kopf.

»Soll ich Ihrer Frau Rosen schicken lassen?«, erbot sich Miranda.

Rick lächelte sie dankbar an. »Miranda, Sie retten mir das Leben. Ich hab keine Minute Zeit, um das selbst zu erledigen. Die ersten Tage eines Falles sind entscheidend.«

»Das mach ich doch gern.« Miranda ging zum Telefon, Rick öffne­te die Trennklappe und ging vorne hinaus. »Coop«, rief er über die Schulter. »Fangen Sie heute im Keller des Krankenhauses an. Für den Fall, daß uns etwas entgangen sein sollte.«

»Roger.« Sie holte die Schlüssel des Streifenwagens aus ihrer Ta­sche.

Sie waren mit zwei Autos zum Postamt gekommen.

»Irgendwelche Hinweise?« Harry stellte die wichtige Frage jetzt, da Rick das Postamt verlassen hatte.

»Nein«, antwortete Cynthia Cooper wahrheitsgemäß. »Es scheint sich um einen klaren Mordfall zu handeln. Brutal.«

»Bedeutet das nicht gewöhnlich einen Racheakt?«, bemerkte Su­san, die zu viele Psychologiebücher gelesen hatte.

»Ja und nein.« Coop verschränkte die Arme. »Wenn ein Mörder einen starken Hass auf das Opfer hat, wird die Leiche oft verstüm­melt. Zu Fetischmorden gehört meistens ein bestimmtes Ritual oder eine Abartigkeit, sagen wir, das Abschneiden der Nase. Einfach ab­scheulich! Hier haben wir einen klaren Fall. Die Wahl eines Messers bedeutet, daß der Mörder körperlich nahe heran mußte. Es ist intimer als eine Schußwaffe, die ist zudem schwer wieder loszuwerden. Auch wenn der Mörder sie in den Verbrennungsofen geworfen hätte, könnte etwas übrig bleiben. Ein Messer ist leicht zu verstecken, leicht loszuwerden und nicht so leicht aufzuspüren. Ich will damit sagen, neben der eigentlichen Tatwaffe gibt es verschiedene Messer­typen, mit denen man die Tat hätte begehen können. Es ist etwas anderes, als wenn man eine fünfundvierziger Kugel aus einer Leiche holt. Zudem ist ein Messer leise.«

»Vor allem in den Händen von jemand, der seinen Beruf mit Mes­sern ausübt.« Murphy stürzte sich auf den dritten Postsack.

Cynthia, die größer war als die anderen Frauen, hob die Hände über den Kopf und streckte sich. Sie war müde, obwohl es Morgen war, und ihr tat alles weh. Sie hatte seit dem Mord nicht viel Schlaf ge­habt.

Miranda legte den Hörer auf, nachdem sie Blumen für Ricks Frau bestellt hatte. »Hab ich was verpaßt? Als ihr Mädels ohne mich gere­det habt?«

»Nein. Keine Verdächtigen«, sagte Harry.

»>Ihr werdet eurer Sünde innewerden, wenn sie euch finden wird.< Viertes Buch Mose, zweiunddreißigstes Kapitel.« Sie griff in den dritten Postsack und entdeckte, daß Murphy sich darin vergraben hatte. »Oh!« Sie zog das Zugband weiter auf. »Du kleiner Stinker.«

»Haha.« Murphy zog sich tiefer in die Papiermassen zurück.

»Harry, wenn ich irgendwann demnächst einen freien Tag habe, komm ich dich zu Hause besuchen.« Coop lächelte.

»Klar. Wenn's nicht zu kalt ist, können wir ausreiten. Oh, hey, ehe du gehst - ich weiß ja, du mußt -, hast du gehört, daß Little Mim bei den Bürgermeisterwahlen gegen ihren Vater antreten will?«

»Nein.« Cynthias Schultern knackten, sie ließ die Arme sinken. »Dann werden sie wohl auf Dalmally glückliche Familie spielen.« Sie lachte.

»Tja.« Harry zuckte mit den Achseln. Die Sanburnes lebten nach ihren eigenen Gesetzen.

»Das könnte die Lage ein bißchen erschüttern.« Cynthia seufzte, dann ging sie zur Tür.

»Ich finde, sie ist schon erschüttert genug«, bemerkte Miranda wei­se.

Harry machte einen kurzen Abstecher ins Krankenhaus zu Larry Johnson. Obwohl er mehr oder weniger im Ruhestand war, schien er ebenso hart zu arbeiten wie in der Zeit, bevor er Dr. Hayden McIntire als Partner aufgenommen hatte.

Sie erspähte ihn, als er vom Flur im ersten Stock in ein Zimmer ging.

Sie schlich auf Zehenspitzen zu dem Zimmer. Da war niemand au­ßer Larry.

Er sah auf. »Mein Artikel für das Mitteilungsblatt.« Er schnippte mit den Fingern. »Er ist in einem dicken braunen Umschlag auf dem Beifahrersitz in meinem Auto. Nicht abgeschlossen.«

Harry sah zu dem an der Decke verankerten Fernseher, auf das Krankenhausbett, das man höher und tiefer stellen konnte. Dann fiel ihr Blick auf die IVAC-Pumpe, eine Infusionspumpe mit einem Pla­stikbeutel an einem Gestell. Gewöhnlich wurde eine Nadel in den Arm des Patienten geschoben, und das Gerät konnte so programmiert werden, daß es eine bestimmte Dosis eines Medikaments oder einer Lösung abgab.

»Larry, sollte ich mal krank werden, sorgen Sie bloß dafür, daß ich Coca-Cola in meinem Tropf habe.«

»Immer noch besser als Wodka. Ich hab erlebt, wie Alkohol auf die raffinierteste Art in die Zimmer geschmuggelt wurde.« Er schob das Gerät beiseite.

»Irgendeine Idee?« Sie brauchte nicht zu sagen, daß sie den Mord meinte.

»Nein.« Er runzelte die Stirn.

»Bin halt neugierig.«

»Ich weiß.« Er lächelte sie an. »Entschuldigen Sie, daß ich meinen Artikel für das Mitteilungsblatt nicht zum Postamt gebracht habe. Ich hinke heute ein bißchen hinterher.«

»Kein Problem.«

Sie ging, fand mühelos sein Auto, nahm den braunen Umschlag an sich und fuhr nach Hause. Cindy Green, die Redakteurin des Mittei­lungsblattes, würde ihn morgen im Postamt abholen.

Das Großartigste an diesem Postamt war, daß es für alle zentral lag.

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