13

Am folgenden Tag bestätigte sich Fairs Theorie. Der leichte Schnee hielt an diesem Morgen niemanden von der Fuchsjagd ab. Die Fuchsjagd - eigentlich wäre Fuchsverfolgung die korrektere Be­zeichnung, da der Fuchs nicht getötet wurde - war für Virginia, was Basketball für den Staat Indiana war. Miranda übernahm gern das Postamt, da die Postberge nach dem Valentinstag kleiner geworden waren. Sie fand, daß Harry eine Abwechslung brauchte; sie arbeitete ja immer nur im Postamt und anschließend auf der Farm. Da die Fuchsjagd die große Liebe ihrer jungen Freundin war, freute es sie, daß Harry mal rauskam. Sie wußte auch, daß Fair an Wochentagen oft auf die Jagd ging, und sie hegte noch immer die Hoffnung, daß die beiden wieder zusammenkommen würden.

Es war noch kalt, als Harry aufsaß, doch dann wurde die Sonne wärmer, und gegen elf Uhr erreichte die Temperatur acht Grad. Die Gruppe der Reiter betrachtete die Berggipfel; alle Bäume hatten Sil­houetten aus Eis. Als die Sonne die Gipfel erreichte, funkelten auf den Bergkämmen Millionen von Regenbögen.

In genau diesem Moment entschloß sich ein mittelgroßer Rotfuchs, jedem eine gute Jagd zu wünschen.

Harry ritt Tomahawk. Fair ritt einen Hannoveraner von 17,3 Stockmaß, die richtige Größe für Fair mit seinen Einsneunzig und mit Stiefeln noch etwas mehr. Big Mim besaß so viele fabelhafte Pferde, daß Harry sich fragte, wie sie wohl ihres für den heutigen Tag ausgesucht hatte. Little Mim, stets tadellos in Schale wie ihre Mutter, saß auf einem prächtigen Braunen. Sam Mahanes, der sich den Vormittag frei genommen hatte, hielt die Zügel seines Wallachs Ranulf zu kurz und verkrampft und klammerte sich mit den Schen­keln fest. Der Wallach, ein sensibler Bursche, ließ es sich schon den ganzen Morgen gefallen, weil sie nur trabten. Sobald der Fuchs je­doch ins freie Gelände brach und das Feld losstürmte, riß Sam die Zügel noch dichter an sich.

Beim ersten Hindernis, einem Bretterzaun, war alles bestens, doch drei Galoppsprünge dahinter war eine Hecke, und der Wallach hatte die Nase voll. Kurz vor dem Absprung stemmte er alle Viere in den Boden - Vollbremsung. Sam nahm die Hürde. Sein Pferd nicht. Har­ry, die hinter Sam ritt, war Zeugin dieses traurigen Schauspiels.

Sam lag auf der anderen Seite der Hürde auf dem Rücken.

Harry verpaßte die Jagd ungern, aber sie wollte helfen, drum pa­rierte sie Tomahawk durch, begab sich zu Sam, der einer Schildkröte ähnelte.

Sie saß ab und beugte sich über ihn. »Sie atmen noch.«

»Knapp. Krieg kaum Luft«, keuchte Sam mit einem scharfen Ras­seln in der Kehle. »Wo ist Ranulf?«

»Er steht da drüben bei dem Walnußbaum.«

Während Sam sich hoch rappelte, sich den Hintern abklopfte und seine Kappe zurechtrückte, ging Harry zu dem Pferd, das Tomahawk zuwieherte. »Komm, Freundchen, ich bin bei dir.« Sie warf ihm die Zügel über den Kopf und brachte ihn zu Sam. »Sam, überprüfen Sie Ihren Gurt.«

»Ach ja.« Er fuhr mit den Fingern unter dem Gurt entlang. »Sitzt okay.«

»Da vorne ist ein Baumstumpf. Damit haben Sie's leichter.«

»Ja.« Er hievte sich wieder in den Sattel. »Wir haben viel Boden gutzumachen.«

»Keine Bange. Ich bring uns hin. Können Sie traben?«

»Klar.«

Während sie trabten, horchte Harry auf die Jagdhunde. Sie fragte: »Waren Sie schon mal bei Trey Young?«

»Nein.«

»Ein guter Reitlehrer.«

Noch mufflig wegen seines Sturzes, an dem er allein seinem Pferd die Schuld gab, fauchte Sam: »Wollen Sie mir damit sagen, ich kann nicht reiten?«

Untypisch freimütig zu jemandem, der ihr nicht nahe stand, blaffte Harry zurück: »Ich sage Ihnen, Sie können dieses Pferd nicht so gut reiten, wie es Ihnen möglich wäre. Ich nehme Reitstunden, Sam. Ranulf ist ein braves Pferd, aber wenn Sie die Zügel nicht lockerer lassen und mit den Schenkeln treiben, was erwarten Sie dann? Er kann ja nirgends hin, also steigt er oder er sagt einfach,>mir reicht's<. Und das hat er getan.«

»Tja, hm.« »Dies ist nicht Squash.« Sie sprach von seinem anderen Sport. »Hier ist ein anderes Lebewesen beteiligt. Es geht um Zusammenar­beit und nicht um die Beherrschung des Tieres.«

Sam ritt ruhig. Das gefiel Ranulf natürlich. Schließlich sagte er: »Vielleicht haben Sie Recht.«

»Es soll Spaß machen. Wenn's keinen Spaß macht, gehen Sie nach Hause. Das würde ich nicht wollen.« Sie lächelte ihr kokettes Lä­cheln.

Er wurde ein bißchen gelöster. »Ich stand in letzter Zeit gewaltig unter Druck.«

»Wegen Hank Brevards Ermordung, nehme ich an.«

»Oh, schon vorher. Der Mord hat den Druck nur verschärft. Ein Krankenhausetat ist fast so kompliziert wie der Staatsetat. Jeder hat ein Lieblingsspielzeug, das er unbedingt angeschafft haben will, aber wenn er das, was er will, bekäme, wann er es will, dann wären wir aus dem Geschäft, und ein Krankenhaus ist ein Geschäftsbetrieb, ob's Ihnen paßt oder nicht.«

»Muß schwierig sein - und dann noch mit der Selbstgefälligkeit der Einzelnen jonglieren.«

»Eine verdammte Bande von Primadonnen. Oh, Sie haben es ver­mutlich noch nicht gehört. Das Blut an der Klinge, die man Bruce geschickt hat, war Hühnerblut.« Er gab ein ratterndes Lachen von sich. »Ist das zu fassen?«

Rick Shaw hatte sich mit Sam in Verbindung gesetzt, nachdem die Klinge mit der Post gekommen war. Als der Laborbericht eintraf, hatte Rick zuerst Bruce Buxton und dann Sam angerufen.

»Das ging aber fix mit dem Laborbericht.«

»Hühnerblut ist wohl leicht zu analysieren.« Sam lachte wieder. »Aber wer macht so was Albernes? Schickt so was an Buxton?«

»Einer von seinen vielen Fans«, erwiderte Harry trocken.

»Er steht nicht zuoberst auf meiner Beliebtheitsskala, aber wenn Sie am Knie operiert werden müßten, stünde er ganz oben auf Ihrer. So gut ist er. Man läßt ihn sogar nach New York fliegen, um die Linebacker der Jets zu operieren. Daran sehen Sie, wie gut er ist.«

Sie hob die Hand. Sie hielten an und lauschten. In der Ferne hörten sie das Horn des Meuteführers, daher wußte Harry genau, wo sie hin mußten.

»Sam, wir müssen einen Zahn zulegen.« »Okay.«

Sie galoppierten über eine Weide, der Pulverschnee wirbelte hoch. Eine Steinmauer von vielleicht achtzig Zentimeter Höhe grenzte eine Weide von der nächsten ab.

Harry rief Sam zu: »Mit der Hand nachgeben. Greifen Sie die Mähne. Scheuen Sie sich nie, sich daran festzuhalten.« Ihrem eige­nen Rat folgend, wand sie die Finger um ein Büschel von Toma­hawks Mähne und schwebte über das niedrige Hindernis. Sie drehte sich nach Sam um; er griff mit den Händen nach vorn, ein kleiner Sieg.

Ranulf setzte hinüber.

»Kinderspiel.« Harry lächelte.

Sie bahnten sich einen Weg durch einen Kiefernwald und kamen auf einer verschneiten Farmstraße raus. Harry folgte den Hufabdrücken, bis sie einen Bach überquerten, an dessen Uferböschungen rechteckige Eiskristalle hafteten.

»Rauf über den Hügel.« Sam deutete auf die weiterführenden Spu­ren.

»Die Hunde kehren um, Sam. Wir sind mitten im Weg. Ver­dammt.« Sie sah sich nach einer Stelle um, wo sie ausweichen konn­ten und den Fuchs hoffentlich nicht in die Hunde hineintrieben. Eine Todsünde bei der Fuchsjagd.

Sam, der kein erfahrener Jäger war, meinte wirklich, sie sollten den Hügel hinaufstürmen, doch er fügte sich Harry. Immerhin kannte sie die Fuchsjagd von Kindesbeinen an.

Sie trieb Tomahawk in den Wald jenseits der alten Farmstraße. Sie kletterten über einen Felsvorsprung und blieben ungefähr vierzig Meter dahinter stehen. Kaum hatten sie ihren Ausweichplatz erreicht, als der Rotfuchs in Sicht kam und auf die Farmstraße setzte. Er über­querte sie, sprang auf einen liegenden Baumstamm, trabte darüber, lief weiter, und dann legte er aus Gründen, die nur er allein kannte, den Schnellgang ein und war verschwunden, ehe man bis zehn zäh­len konnte.

Zwei Minuten später kam der erste Jagdhund, die Nase am Boden, bei der Farmstraße an.

Sam öffnete bereits den Mund.

»Nicht«, flüsterte Harry.

Er schluckte sein>Horridoh< herunter, das nur die Hunde verstört hätte.>Horridoh< wurde manchmal gerufen, wenn ein Fuchs gesich­tet wurde, aber nur, wenn der Zeuge sicher war, daß es der gejagte Fuchs war und nicht ein vorwitziger Streuner. Außerdem konnte die menschliche Stimme die Hunde verstören, sofern sie in der Nähe waren, was ihnen ihre Aufgabe erschweren würde. Doch es lag in der Natur des Menschen, das Sichten des Fuchses verkünden zu wollen.

Nach ungefähr fünf Minuten erschien der Meuteführer auf der Straße, der Mann, dem die Hunde unterstanden, und der sich durch ein tückisches Dornengestrüpp gekämpft hatte.

»Okay, Sam, lenken Sie Ihr Pferd in die Richtung, wo Sie den Fuchs gesehen haben, nehmen Sie Ihre Kappe ab und halten sie auf Armeslänge, und jetzt können Sie Ihr>Horridoh< loswerden. Die Hunde sind weit genug entfernt.«

Aufgeregt brüllte Sam: »Horridoh!«

Der Meuteführer blickte hoch, zwinkerte Harry zu und verließ die Straße, um seinen Hunden zu folgen, die die Fährte aufgenommen hatten.

Nach weiteren zwei Minuten ritt das Feld heran und Harry und Sam schlossen sich hinten an. Als unerfahrener Jäger mußte Sam hinten bleiben, um anderen nicht im Weg zu sein.

Es war eine fröhliche Jagd, bis der Rotfuchs beschloß sich davon­zumachen und nach der ärgerlichen Art der Füchse verschwand.

Mit dem abschließenden Hornsignal für die erfolgreiche Jagd be­endete der Meuteführer, nachdem er sich mit dem Jagdführer bespro­chen hatte, die Jagd.

Auf dem Rückritt bedankte Sam sich bei Harry.

Little Mim kam an Harrys Seite, als Sam zu Larry Johnson ritt, um zu plaudern. »Meinst du, er wird es je lernen?«

»Ja. Wenigstens ist er kein Besserwisser. Er mag keine Ratschläge, aber am Ende nimmt er sie sich doch zu Herzen.«

»So sind die Männer«, bemerkte Little Mim.

»Herrje, Marilyn, denk an die Frauen, die wir kennen, die auch so sind.«

»Meinst du meine Mutter?«

Harry hob die Hand. »Das hab ich nicht gesagt.«

»Aber ich.« Little Mim blickte über die Schulter, um sicher zu ge­hen, daß ihre Mutter nicht in Hörweite war.

War sie nicht. Big Mim bedrängte in diesem Augenblick Susan, in den Gartenclub einzutreten, was als eine große Ehre galt. Eine Ehre, auf die Susan liebend gern verzichten würde.

Bei den Pferdeanhängern angekommen, teilte man Flachmänner, heißen Tee und Kaffee miteinander. Susan hatte Mrs. Hogendobbers Zimtteilchen mit Orangenglasur mitgebracht. Die ohnehin schon gehobene Stimmung steigerte sich noch.

»Ach je, ich möchte gar nicht wieder zur Arbeit.« Harry lachte.

»Ist es nicht ein Jammer, daß wir nicht reich geboren sind?«, sagte Susan. Sie sprach leise, da einige, wie Big Mim und Little Mim, reich geboren waren.

»Das bricht mir das Herz.«

»Was hat Fair dir zum Valentinstag geschenkt?«

»Wurmmittel. Ivermectrin.«

»Hey, wie romantisch«, sagte Susan lachend mit einer Spur Sar­kasmus in der Stimme.

»Ich hab ihm ein Veterinärbuch von 1792 geschenkt.«

»Hey, das ist romantisch.« Susan reichte Harry einen Becher mit heißem Tee. »Diese neue Thermoskanne, die ich gekauft habe, ist super. Wir sind seit zweieinhalb Stunden draußen. Ich hab den Tee eine gute Stunde davor in die Kanne gegossen, und er ist noch ko­chend heiß.«

»Ja. Ich muß mir auch so eine besorgen.«

Sam trat zu ihnen. »Harry, noch mal vielen Dank.«

»Gern geschehen.« Sie bot ihm einen Schluck Tee an. Er hielt sei­nen Flachmann in die Höhe.

»Ein Schlückchen vor der Rückkehr in die Tretmühle.« Er verbeug­te sich, sagtemeine Damen< und ging dann zu seinem Anhänger.

Susan sah Harry an. Keine sagte etwas. Sie fanden Sam weder sympathisch noch unsympathisch. Er war eben da, mehr nicht.

Larry Johnson kam zu ihnen, eine Dose Schokoladenwaffeln in der Hand. »Meine Damen. Keine Bange wegen der Kalorien. Ich bin Arzt und versichere Ihnen, daß jede im Stehen genossene Nahrung die Hälfte ihres Kalorienwertes verliert.«

Sie lachten und griffen nach den dünnen leckeren Waffeln.

»Wie ist die Stimmung im Krankenhaus?«, fragte Susan.

»Gut. Hanks Tod hängt vielleicht gar nicht mit dem Krankenhaus zusammen.« Er hielt inne. »Aber wie Sie wissen, bin ich halb im Ruhestand, drum bin ich nicht jeden Tag dort.«

»Halb im Ruhestand.« Harry lachte. »Sie arbeiten noch genauso viel wie damals, als ich Kind war.«

Larry hatte eine Praxis in seinem Haus. Vor Jahren hatte er einen Partner aufgenommen, Hayden McIntire, und geschworen, sich zur Ruhe zu setzen, aber daraus war nichts geworden.

»Es war lieb von Ihnen, daß Sie sich um Sam gekümmert haben«, sagte Larry anerkennend zu Harry. »Sie treten in Tussie Logans Fuß­stapfen. Sie kann wunderbar mit Kindern umgehen.« Er lachte laut. »Ich sehe Sam irgendwie in diesem Licht.«

»Mich sahen Sie nicht stehen bleiben, um ihm zu helfen.« Susan aß noch eine Schokoladenwaffel. »Die Jagd war zu schön.«

Larry war mit Anfang siebzig großartig in Form, dank der Jagd und weil er sich viel im Freien bewegte. »Ein geradeaus rennender Fuchs, die reinste Freude. Aber wissen Sie was, ich glaube, er hat kehrtge­macht. Er war so nahe, und dann...« Er schnippte mit den Fingern.

»Fuchsmagie.« Susan lächelte, sah auf die Uhr und seufzte. »Ich muß nach Hause.«

»Und ich zur Arbeit.« Harry trank ihren Tee aus.

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