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Ein Laden nach dem anderen der verschiedenen Ketten säumte die Route 29; Fastfood-Restaurants mit großen flimmernden Schildern trugen das Ihre zu der traurigen Zerstörung des Gebietes bei, das einmal schönes, fruchtbares Ackerland war. Die Straße hätte überall in den Vereinigten Staaten sein können: dieselben Geschäfte, dassel­be Angebot, dasselbe Essen. Was die Gleichförmigkeit an Komfort bieten mochte, war ästhetisch ein Verlust.

Ende der sechziger Jahre vermittelte das Barracks Road Einkaufs­zentrum an der Kreuzung Garth Road, Emmet Street und Route 29 eine erste Ahnung auf das, was da kommen würde. Es schien damals weit außerhalb zu liegen, fünf Kilometer nördlich der Virginia Uni­versity.

Bis zum Jahr 2000 hatten sich die Einkaufszentren nach Norden ausgedehnt, fast bis an die Grenze zu Green County. Sogar Green County hatte an der Kreuzung Route 29 und Route 33 ein Einkaufs­zentrum.

Die Stadt Warrenton war wohlweislich mit einer Umgehungsstraße um die Altstadt einverstanden gewesen. Charlottesville verweigerte sich dieser Lösung zur Verhinderung eines Verkehrskollaps, mit dem Ergebnis, daß jeder, der durch diese schöne Stadt fahren wollte, je nach Tageszeit eine halbe Stunde bis fünfundvierzig Minuten Zeit­verlust einkalkulieren mußte.

Als Harry und Coop auf der Route 29 in nördlicher Richtung un­terwegs waren, fragten sie sich, wie lange es noch dauern mochte, bis sie im Stau steckten.

Plaudernd durchfuhren sie Culpeper, das Blue-Ridge-Gebirge zu ihrer Rechten. In Warrenton wechselten sie auf die Route 17 North, die sie geradewegs auf die Route 50 führte, wo sie rechts abbogen, und nach knapp zehn Kilometern standen sie vor dem Eingang von Salvage Masters, einem neuen dreistöckigen Gebäude, das sich in die Hügel des wohlhabenden Upperville schmiegte.

Harry hatte ihre Chaps, die repariert werden mußten, auf die Rück­bank des Jeeps, Coops Privatwagen, geworfen. Coop wollte keine Aufmerksamkeit mit einem Streifenwagen erregen, wenngleich sie auf der Route 29 hätte rasen können, ohne ein Strafmandat von ei­nem Polizisten zu riskieren, der an uneinsehbaren Stellen mit dem Radargerät lauerte. Die Kleinstädte waren auf diese Einnahmen an­gewiesen, was sie allerdings niemals zugegeben hätten; sie erklärten stets die öffentliche Sicherheit als ihren Hauptgrund, Temposünder zur Kasse zu bitten.

»Meinst du, ich kann meine Chaps hier drin liegen lassen?«, fragte Harry unüberlegt, dann grinste sie.

»Millionen Menschen warten hier bloß darauf, reparaturbedürftige Chaps zu klauen - weil du sie getragen hast.« Lachend griff die blonde Frau nach einer Ledermappe, die Papiere enthielt.

Als sie an die Tür klopften, wurden sie von einer netten Angestell­ten hereingebeten.

Joe Gramer, einsneunzig groß und muskulös, trat aus seinem Büro. »Hallo. Kommen Sie rein. Möchten Sie Kaffee, Cola?«

»Nein danke. Ich bin Cynthia Cooper, Polizeibeamtin, und dies ist Mary Minor Haristeen, Harry, die in den Fall verwickelt wurde.« Cynthia und Harry gaben ihm die Hand.

»Kommen Sie.« Er führte sie in sein Büro, einen behaglichen Raum.

»Das ist ja ein ziemlich großes Unternehmen.« Coop schaute auf die an Bänken sitzenden Beschäftigten, die an Infusionspumpen ar­beiteten.

»Wir bekommen Infosionspumpen aus allen Teilen der Welt ge­schickt. Diese Geräte sind so gebaut, daß sie lange halten, und mei­stens tun sie es auch.«

»Sie sind nicht von Virginia, oder, Mr. Gramer?« Die schlanke Po­lizistin lächelte. »Könnten Sie mir etwas über den Werdegang Ihres Unternehmens erzählen?«

»Sicher. Ich komme ursprünglich von Long Island, bin im Nord­osten aufs College gegangen und habe dann angefangen, in der Fa­brikation von medizinischen Geräten zu arbeiten. Die Medizintech­nik hat mich fasziniert. Ich habe jahrelang bei Medtronics gearbeitet, einer großen Firma in New Jersey. Dort kam mir die Idee, Infusions­pumpen und andere Geräte zu überholen. Die kleineren Krankenhäu­ser können es sich leisten, ihre Geräte reparieren zu lassen. Den Kauf von gebrauchten Geräten können sie sich leisten, aber für neue reicht meist ihr Budget nicht. Wie gesagt, die meisten Geräte sind gut ge­baut und halten Jahrzehnte, wenn sie ordentlich gewartet werden.« »Besuchen Sie Ihre Kunden?«

»Ja. Unsere Kunden in Indien natürlich nicht«, erwiderte er mit seiner warmen Baritonstimme. »Aber von den hiesigen Kunden habe ich viele besucht.«

»Auch das Crozet Hospital?«

»Oh, ich glaube, ich war vor vier Jahren dort. Ich habe in den letz­ten paar Jahren nicht viele Aufträge von dort bekommen.«

Cynthia hob die Stimme. »Nicht?«

»Nein. Dabei müßten die Geräte alle sechs Monate gewartet wer­den.«

»Ich will Ihnen etwas zeigen.« Cynthia entnahm der Ledermappe Rechnungen und legte sie ihm vor.

Joe besah sich die Rechnungen, dann drückte er einen Knopf an seinem Telefon. »Schatz, kannst du mal einen Moment in die Werk­statt rüberkommen?«

Eine Stimme antwortete: »Sicher, bin gleich da.«

»Meine Frau«, sagte er. »Wir haben alles im Computer erfaßt, aber ich vertraue ihrem Gedächtnis mehr als dem Rechner.« Er drückte einen anderen Knopf. »Michael, bringen Sie mir bitte die Akte vom Crozet Hospital, ja?«

»Okay.«

Eine große, elegante Frau kam in Joes Büro geeilt. »Hallo.«

»Schatz, das sind Cynthia Cooper vom Sheriffbüro Albemarle County und Mary Haristeen, äh, Harry.«

»Laura Gramer.« Sie gab ihnen die Hand.

»Erinnerst du dich, wie lange es her ist, seit wir das letzte Mal ei­nen Auftrag vom Crozet Hospital hatten?«

»Oh, mindestens vier Jahre.«

In diesem Moment kam Michael ins Büro. »Hier.«

Joe nahm die Papiere, Michael ging wieder hinaus. Joe und Laura sahen sich die Zahlen an. »Hier«, sagte er zu Coop, »schauen Sie mal.«

Sie ließ sich die Papiere geben. Die letzten Abrechnungen lagen vier Jahre zurück. »Man hat uns nicht verständigt, daß man den Ge­schäftspartner gewechselt hat«, sagte Laura.

»Aber, Mr. und Mrs. Gramer, das letzte Abrechnungsdatum, das ich hier habe, ist der Dezember vorigen Jahres.«

»Es ist unser Briefkopf«, sagte Joe, als Coop ihm eine Rechnung reichte.

»Und unser Papier.« Laura sah sich die Rechnungen genau an, klopfte mit dem Zeigefinger darauf. »Joe, das sind nicht unsere Nummern.« Sie sah Coop und Harry an. »Wir haben unser eigenes Nummerierungssystem. Auf diesen falschen Rechnungen sind die Nummern von vor vier Jahren in aufsteigender Reihenfolge kopiert. Aber ich ändere die Nummern jedes Jahr. Wir haben einen internen Code, mit dem wir über Geschäfte und Reparaturen Buch führen, und das steckt alles in diesen Nummern.«

»Es dürfte ziemlich leicht sein, Rechnungen mit Ihrem Firmenlogo auszudrucken«, meinte Harry. »Mit einem guten Laserdrucker wäre es machbar und billiger als eine Druckerei. Zudem gäbe es keine Unterlagen über einen Druckauftrag.«

»Manche Laserdrucker sind mit allen Raffinessen ausgestattet«, sagte Laura sichtlich beunruhigt.

»Gab's ein Problem mit den Geräten? Sind Sie deswegen hier?«, fragte Joe, dem der Ruf seiner Firma über alles ging.

»Nein, nicht daß wir wüßten.« Coop ging herum und setzte sich wieder, Harry ebenso.

»Können Sie mir sagen, was Sie an den Infosionspumpen überprü­fen, falls überprüfen der richtige Ausdruck ist?«

»Wir überprüfen die elektrische Sicherheit und ob der Strom gut fließt. Oder es könnte ein Netzkabel defekt sein. Es kommt auch vor, daß ein Krankenpfleger ein Gerät fallen läßt. Dann nehmen wir das Gerät auseinander und kontrollieren die Schaltkreise. Kommen Sie, ich zeig's Ihnen.« Er stand auf und führte sie in die blitzsaubere Werkstatt.

»Hier.« Laura zeigte auf die Digitalanzeige an der Front eines Ge­rätes über einer Zahlentastatur wie die Drucktasten eines Telefons. »Die Schwester gibt die Menge pro Stunde, die Gesamtmenge und den Zeitraum ein, was hier abzulesen ist.« Sie wies auf die Anzeige. »Die Schwester oder der Arzt braucht nur auf die Anzeige zu sehen, um zu wissen, wie viel noch in der Pumpe ist, ob die Durchflußge­schwindigkeit erhöht werden muß oder was auch immer.«

Harry erinnerte sich, daß Larry eine Information in ein Gerät einge­tippt hatte.

»Und kann man jede Art von Flüssigkeit in den Beutel tun?« Coop deutete auf Schachteln mit sterilen Beuteln.

Joe nickte. »Sicher. Blut, Morphium, Salzlösung, Narkosemittel. Geburtshelfer benutzen Infusionspumpen, um Pitocin zu verabrei­chen, ein Wehenmittel zur Geburtseinleitung. So eine Infusionspum­pe ist sehr vielseitig verwendbar.«

»Und einfach zu handhaben«, ergänzte Laura.

»Hier.« Joe nahm ein Gerät vom Tisch. »Man kann sich sogar selbst therapieren.« Er legte Coop einen runden Knopf an einer schwarzen Schnur in die Hand. »Sie drücken auf den Knopf und der Tropf läuft.«

»Sind diese Geräte gut gearbeitet?« Harry war neugierig.

»Oh ja. Sie sind auf eine lange Lebensdauer ausgelegt, und es ist wie bei allem anderen auch. Neuere Modelle sind teurer, sie haben mehr Klingeln und Pfeifen, aber ich überhole Geräte, die zwanzig Jahre alt sind - sie kommen überwiegend aus Ländern der Dritten Welt.«

»Darf ich Sie etwas fragen?« Laura lächelte.

»Natürlich.«

»Stiehlt vielleicht jemand Infusionspumpen und verkauft sie an ar­me Länder?«

»Wir haben zwei Morde, von denen wir glauben, daß sie zusam­menhängen, und ich denke, wir haben den Zusammenhang soeben gefunden. Wir wissen nicht, ob die Geräte auf dem Schwarzmarkt verkauft werden. Was wir im Augenblick in der Hand haben, was uns weiterbringt, sind diese falschen Abrechnungen.«

»Morde?« Lauras Augen weiteten sich.

»Ja, vor zweieinhalb Wochen ist der technische Leiter des Kran­kenhauses ermordet worden und vor einer Woche ein Arzt.« Sie hielt inne. »Beide Männer müssen über etwas gestolpert sein, das mit diesen Rechnungen zusammenhängt.«

»Haben Sie die Beträge der Rechnungen addiert? Sie laufen über drei Jahre.« Laura betrachtete die Zahlen und Daten.

»Ja. Sie summieren sich für diesen Zeitraum auf siebenhundert­fünfzigtausend Dollar.«

»Da schwimmt jemand in Geld«, stellte Laura lakonisch fest.

»Danach haben wir auch gesucht, Mr. und Mrs. Gramer. Wir wuß­ten nicht, daß dies das Problem war, aber wir wußten, daß irgendwas vorging. Wir hatten keine Vermerke über verdächtige Tode von Pati­enten. Wir dachten, es gäbe vielleicht einen Schwarzhandel mit Or­ganen.«

»Den gibt es.« Joe beugte sich vor. »Einen ausgedehnten Schwarz­handel.«

»Das haben wir auch herausgefunden, aber dann haben wir ent­deckt, daß dies nicht unser Problem war. Sie beide haben mir ge­zeigt, was hier auf dem Spiel steht. Es geht um eine Menge Geld, und ich schätze, es dürfte noch mehr werden.«

»Joe, ich meine, wir sollten uns besser mit unseren Anwälten in Verbindung setzen. Haben Sie etwas dagegen, wenn ich diese Rech­nungen kopiere?«, fragte sie Cooper.

»Nein, aber bewahren Sie bitte hierüber Stillschweigen. Man kann niemanden gerichtlich belangen, solange wir die Betreffenden nicht erwischen, und wir können sie nicht erwischen, wenn sie gewarnt werden.«

»Ich verstehe.« Laura war einverstanden.

»Das haut mich glatt um.« Joe schüttelte den Kopf.

»Der einzige Grund, weswegen dem Sheriff und mir diese Rech­nungen aufgefallen sind, und es hat eine ganze Weile gedauert, darf ich hinzufügen, war, daß wir das Krankenhaus abgegrast haben, daß wir Abrechnungen, Wartungsbelege, alles Mögliche durchgegangen sind. Was uns am Ende jedoch ins Auge sprang, war, daß diese Rechnungen so sauber waren.«

»Wie meinen Sie das?«, fragte Laura neugierig.

»Also, die Rechnungen haben ein Eingangsdatum, wie Sie sehen können.« Coop wies auf den roten Kreis in der Mitte jeder Rech­nung. »Sie haben ein Begleichungsdatum.« Sie zeigte auf einen an­deren Kreis, diesmal blau, in dem diagonal ein Datum stand. »Aber die Rechnungen sind so weiß und knisternd.«

»Was meinen Sie?« Laura nahm eine Rechnung in die Hand.

»Die anderen Rechnungen waren durch mehrere Hände gegangen, waren abgegriffen. Auf dem Papier waren Fingerabdrücke, die Ecken hatten kleine Eselsohren. Die hier sind makellos. Es war eine vage Vermutung, aber seltsam genug für mich, um hierher zu kommen.«

»Ich bin froh, daß Sie gekommen sind.« Der bestürzte Joe sah der jungen Polizistin in die Augen.

»Erinnern Sie sich an jemanden vom Crozet Hospital?« Coop hatte sich Notizen gemacht.

»Nein. Nun ja, ich bin dem Direktor und dem stellvertretenden Di­rektor begegnet, das schon. Ich habe mit ein paar Krankenschwestern gesprochen. Die Schwestern sind ja diejenigen, die die Infusions­pumpen bedienen. Deswegen gilt, je einfacher das Modell, desto besser. Man kann die Geräte auch zu kompliziert machen. Die Schwestern müssen damit umgehen, sie sind überlastet, erschöpft - drum sollten die Pumpen möglichst einfach konstruiert sein.« Seine Stimme dröhnte.

»Wie schlimm wäre es, wenn eine Pumpe versagt?«, fragte Coop.

»Es könnte um Leben und Tod gehen.« Laura verschränkte ihre langen Finger wie zum Gebet. »Eine falsche Dosierung könnte einen Patienten töten.«


Von Salvage Masters aus fuhren sie auf der Route 50 fünfzehn Ki­lometer in östlicher Richtung nach Middleburg. Harry brachte ihre Chaps zur Sattlerei Journeyman, weil Chuck Pinnell aus Charlottes­ville wieder bei den Olympischen Spielen war. Als einen der besten Lederverarbeiter des Landes mit großem Verständnis für die Bedürf­nisse der Reiter, hatte man ihn zur Olympiade eingeladen, um das Sattelzeug aller Teilnehmer zu reparieren, nicht nur der Amerikaner.

»Coop, guck mal diese hübschen Farben und auch die Verzierun­gen, die du hier kriegen kannst.«

Cynthia befühlte die Muster, stellte spielerisch Farben zusammen. »Wirklich schön.«

»Sie können dein Monogramm hinten oder seitlich anbringen. Sie können lederne Rosenknospen oder alles Mögliche auf den Gürtel machen. Einfach unglaublich.«

»Das sehe ich.«

»Ich hab schlichte Schweinslederchaps mit cremefarbenem Besatz und meinem Monogramm hinten drauf, siehst du?« Harry zeigte ihr die Rückseite des Chaps-Gürtels.

»Aha.« Cynthia tendierte zu schwarzem Kalbsleder.

»Also, wenn du maßgefertigte Chaps hast, lernst du vielleicht sogar springen. Ich würde dich Gin Fizz reiten lassen. Er ist ein Goldstück. Chaps sind ja nicht nur zum Reiten da. Denk an die sexy Kalender, wo Cowboys Chaps anhaben und sonst nichts.« Sie hatte ein teufli­sches Glitzern in den Augen.

Coop wurde schwach und ließ sich Maß nehmen. Sie wählte schwarzes Kalbsleder, die glatte Seite außen, ohne Fransen, mit ei­nem schmalen grünen Kontraststreifen an den Beinen und am Gürtel, ebenfalls aus Kalbsleder. Sie ließ ihr Monogramm in die Mitte der Rückseite des Gürtels in Form einer kleinen Raute anbringen. Die Lieferzeit würde drei Monate betragen.

Auf dem ganzen Rückweg nach Crozet sprachen die zwei Frauen über die Verwendungsmöglichkeiten von Chaps und über das anste­hende dringliche Thema: wie man den oder die Mörder dazu verlei­ten könnte, einen Fehler zu machen.

Ein einziger Fehler würde genügen.

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