Mrs. Murphys Schwanz lugte unter der Plane auf der Ladefläche des Transporters hervor.
»Schmeiß es mir runter.« Tucker sah ihre Katzenfreundin mit flehendem Blick an.
»Kommt nicht in die Tüte.« Die Tigerkatze senkte ihre Fangzähne in ein rotes Bein, rutschte rückwärts unter der Plane hervor und zog das schwere Huhn mit sich.
Pewter, die ebenfalls auf der Ladefläche saß, rief:»Wir sind doch nicht blöd, Tucker.«
»Will bloß mal dran schnuppern. Ich kann euch sagen, wie lange es schon tot ist.«
»Du lügst.« Murphy inspizierte den Kadaver.»Ist seit heute Morgen tot.«
»Es ist kalt. Vielleicht gibt's Frost«, rief Tucker von unten.
»Vielleicht.« Murphy sprang seitlich aus dem Transporter und landete weich auf der Erde.
Pewter wählte den weniger sportlichen Weg. Sie kletterte vorsichtig über die geschlossene Ladeklappe, stellte die Hinterpfoten auf die Stoßstange. Dann ließ sie sich auf die Vorderpfoten fallen und sprang auf die Erde.
Die Tiere hatten den Bericht von der Beerdigung und dem toten Huhn gehört, als Harry und Miranda zur Arbeit gekommen waren. Der Vordereingang des Postamtes war immer unverschlossen, aber den Hintereingang und die Trennklappe am Schalter konnte man abschließen. Es gab eine Rolltür, ähnlich wie ein Garagentor, die sich bis zur Trennklappe herunterziehen und auf der Rückseite verschließen ließ. Weil Briefmarken wertvoll waren, hatten Miranda und Harry alles dichtgemacht, bevor sie zur Beerdigung gegangen waren. Nicht, daß jemand schon mal etwas anderes als Gummibänder und Stifte aus dem Postamt hatte mitgehen lassen, aber die Morde veranlaßten sie zur Vorsicht. Die Katzen und den Hund hatten sie in dem abgeschlossenen Bereich gelassen, mit einer großen Schale Wasser sowie einer Schüssel Katzenknusperkost auf dem kleinen Tisch außerhalb von Tuckers Reichweite. Das Tiertürchen am Hintereingang des Postamtes hatte Harry ebenfalls abgeschlossen.
Gewöhnlich stürmten die Tiere nach draußen, wenn die Menschen zurückkamen, heute aber wollten sie hören, was los gewesen war. Kaum hatte Harry das mit dem Huhn erzählt, als sie hinaussausten, und nun saßen sie da, das Fell aufgeplustert gegen die Kälte und den wirbelnden Nordwestwind. Harry wollte das Huhn mit nach Hause nehmen, um damit den Fuchs zu füttern, der auf ihrem Grundstück hauste.
»Ich sage, wir gehn ins Krankenhaus.« Tucker war fest entschlossen.»Wenn wir joggen, sind wir in fünfzehn Minuten da.« Tucker zog ein bißchen von der Zeit ab, um den Lauf attraktiver zu machen.
»Die schmeißen uns nach fünf Minuten raus. Du weißt, wie etepetete die Menschen in Krankenhäusern sind. Richtig beleidigend. Wir sind sauberer als sie. Die vielen Leute mit lauter Krankheiten.« Pewter schauderte angewidert.
»Wir gehn nicht vorne rein.« Tucker wußte, daß Pewter versuchte, sich dem Weg durch die Kälte zum Krankenhaus zu entziehen.
»Oh.« Die graue Katze duckte sich unter den Transporter, um dem Wind zu entkommen. Das war eine gute Idee, doch der Wind peitschte unter den Transporter und wirbelte zugleich um ihn herum.
»Wir gehn zum Hintereingang.«
»Tucker, der Hintereingang ist abgeschlossen.« Pewter gefiel dieser Vorschlag kein bißchen.
»Die Laderampe nicht«, dachte Murphy laut.»Wir könnten uns da reinschleichen und von dort in den Keller.«
»Und wenn wir eingeschlossen werden? Wir könnten da drin verhungern.«
»Pewter.« Mrs. Murphy lächelte boshaft.»Du könntest ausrangierte Körperteile essen. Wie wär's mit frischer Leber?«
»Ich hasse dich«, fauchte Pewter.
»Na schön, du Dickwanst. Dann bleibst du eben hier. Wir gehn.« Tucker wollte endlich los.
»Na klar, und dann muß ich mir die nächsten elf Jahre von euch anhören, was für ein ängstliches Huhn ich bin.« Sie dachte einen Moment an das Huhn, dann fuhr sie fort:»Außerdem merkt ihr nicht alles. Ich sehe Sachen, die euch entgehen.«
»Dann halt die Klappe und komm. Wir dürfen keine Zeit verlieren. Harry macht um fünf hier Schluß und es ist schon halb zwei.« Mrs. Murphy sah am Straßenrand nach links und rechts, dann lief sie schnell hinüber und in nördlicher Richtung zum Krankenhaus, den Wind im Gesicht.
Die drei Tiere hielten sich abseits der Straße, sausten über Rasenflächen, sprangen über Bäche und wichen dem einen oder anderen Haushund aus, der sich aufregte, weil drei Tiere seinen Rasen überquerten.
Um zehn nach zwei waren sie am Krankenhaus. Auf gut Glück liefen sie zuerst zum Hintereingang. Der Türknauf ließ sich erreichen, aber die Katzen konnten ihn nicht herumdrehen.
Unterdessen war ihnen kalt geworden, deshalb rannten sie um die Seite des Gebäudes herum zur Laderampe, die etwas höher gelegen war als der Hintereingang. Den Menschen auszuweichen, die an der Rampe arbeiteten, war ein Kinderspiel. Es waren nur ein Lieferwagen da und ein Mann zum Entladen. Er und der Fahrer bemerkten die Tiere nicht. Als die drei drinnen waren, froh über die Wärme, machten sie, daß sie von der Rampe wegkamen.
Murphy führte sie zu den Fahrstühlen.
»Damit können wir nicht fahren«, sagte Tucker.
»Ich weiß, aber Treppenhäuser sind meistens in der Nähe von Fahrstühlen, also guck dich um, Schlaukopf.« Ihr Ton war sarkastisch.
Und richtig, das Treppenhaus befand sich in der Ecke, die Tür war unverschlossen. Tucker, die kräftig war für ihre Größe, stieß sie auf, die Tiere flitzten hinunter und öffneten die nicht verschlossene Tür, auf die mit akkuraten roten Buchstaben KELLER aufgemalt war.
Sie waren auf der Ostseite des Gebäudes rausgekommen, wo sich der Fahrstuhlschacht befand.
»Los, laßt uns hier verschwinden, bevor jemand aus dem Ding steigt.« Murphy wandte sich nach links, nicht weil sie wußte, wo es lang ging, sondern nur, um einer möglichen Entdeckung zu entgehen. Sie liefen an Lagerräumen vorbei und gelangten schließlich zum Heizungskeller, wo alle Flure zusammenkamen.
»Oh.« Pewter sah das Blut an der Wand; das meiste war abgewaschen worden, aber es waren noch genug Flecken an der alten Steinmauer zu sehen.
Die drei setzten sich einen Augenblick und betrachteten die Stelle, wo Hank Brevards Leichnam gelegen hatte.
»Hier hat Mom eins auf den Schädel gekriegt. In diesem Raum.« Tucker senkte die Nase auf den Boden, aber alles, was sie riechen konnte, war Heizöl.
»Sie hätte nie allein hierher kommen dürfen«, klagte Pewter.»Sie kennt keine Angst und das ist nicht immer gut.«
»Mann oh Mann, man sollte meinen, das Krankenbaus könnte sich eine bessere Beleuchtung leisten.« Der Hund hatte die trüben Funzeln bemerkt.
»Dafür sind wir jetzt hier.« Mrs. Murphy prüfte systematisch jede Ecke des Raumes.»Gehn wir raus.«
»Welche Tür?«, fragte Tucker.
»Die gegenüber. Wir sind von Osten gekommen. Gehn wir nach Westen.«
»Ich hoffe, ihr merkt euch den Weg, denn für mich sieht hier alles gleich aus.« Der Keller war Pewter unheimlich.
»Schlappschwanz.«
»Ich bin kein Schlappschwanz.« Pewter gab Murphy einen Klaps, Murphy schlug zurück.
»Mädels«, knurrte Tucker.
Die Katzen ließen voneinander ab und folgten dem Hund. Tucker stieß die Tür auf, die nicht verriegelt war. Ein Korridor führte ans Ende des Gebäudes. Das Licht von dem kleinen Viereck in der Tür war heller als die Lichter an der Decke.
»Ist das die Tür, die wir zuerst probiert haben?«, fragte Tucker.
»Ja. Es ist unten die einzige Tür auf der Westseite.«
Langsam liefen sie den Flur entlang. Die Lagerräume kamen ihnen so harmlos vor wie sie den Menschen vorgekommen waren. Sie vergewisserten sich, daß in diesem Flur alles in Ordnung war, dann kehrten sie in den Heizungskeller zurück und gingen durch den südlichen Korridor, denjenigen, wo die Verbrennungsanlage war.
Tucker schnupperte, als sie in den Raum kamen.»Dieser Verbrennungsofen könnte einen Haufen Sünden vernichten.«
»Tut er bestimmt auch«, sagte Pewter.
»Hier drin ist nichts.« Tucker hatte alles gründlich beschnüffelt.
Sie gingen wieder in den Korridor, steckten die Köpfe in Räume. Sie hörten Stimmen und huschten in einen Raum, in dem leere Kartons ordentlich an einer Wand gestapelt waren.
Bobby Minifee und Booty Weyman gingen vorbei. Bobby war auf Hanks Posten befördert worden und Booty war in die Tagesplanung aufgerückt. Ins Gespräch vertieft, warfen sie keinen Blick in den Lagerraum.
Tucker senkte die Nase auf den Boden, sobald die Männer vorbei waren. Die Katzen hörten sie die Richtung zum Heizungskeller einschlagen.
»Hier ist vor kurzem jemand gewesen.« Tucker strich an den Kartons entlang.
»Das hat nichts zu bedeuten. In jedem von diesen Räumen sind vermutlich Leute gewesen wegen diesem und jenem.« Pewter bekam langsam Hunger.
Tucker achtete nicht auf sie. Murphy kannte ihre Hundefreundin gut, weshalb sie selbst die Nase auf den Boden senkte. Sie konnte Schuhe riechen, solche mit Leder- und solche mit Gummisohlen.
»Hände.« Tucker hielt über einer Stelle auf dem alten Schieferboden inne.»Ich kann das Öl an ihren Händen riechen. Sie sind heute hier gewesen.«
»Hände auf dem Fußboden?« Pewters graue Augenbrauen schnellten in die Höhe, denn der Hund schnupperte dort, wo Wand und Boden zusammentrafen.
»Ja.« Tucker schnüffelte weiter.»Hier, direkt über dem Boden.«
»Pewter, guck mal, ob du eine Klinke oder so was siehst«, verlangte Murphy.
»In der Mauer?«
»Ja, du Döskopp!«
»Bin kein Döskopp.« Pewter wollte den Streit nicht ausweiten, denn auch sie war angespannt.
Die Tiere beschnupperten die Wände. Mit ausgefahrenen Krallen beklopfte und betastete Murphy alle Steine; sie waren Teil des ursprünglichen Fundamentes.
»Hey.« Pewter hielt inne.»Mach das noch mal.«
Die zwei Katzen lauschten angestrengt. Murphy klopfte diesmal heftiger mit den Krallen. Ihre Mühe wurde mit einem schwachen hohlen Klang belohnt.
»Flachlegen«, flüsterte Tucker, als Bobby und Booty zurückkamen, aber auch diesmal warfen die zwei Männer keinen Blick in den Raum mit den Kartons.
Als sie vorbei waren, kam die Hündin zu den Katzen herüber. Sie beschnupperte die Wand, so hoch sie hinaufreichen konnte.»Ja, hier. Menschenhände.«
»Schieben wir mal«, sagte Murphy und die drei drückten sich gegen die quadratische Steinplatte.
Ein glattes, leises Gleiten belohnte ihre Mühe, dann wurden sie von einem leisen Klirren überrascht. Der Boden tat sich auf. Ein großer Schieferstein glitt unter einen anderen, eine Leiter wurde sichtbar. Es war stockfinster da unten.
»Tucker, du bleibst hier. Pewter, kommst du mit mir?« Murphy kletterte die Leiter hinunter.
Wortlos folgte Pewter ihr. Sobald sie unten waren, gewöhnten ihre Augen sich an die Dunkelheit.
»Das sind ja lauter Geräte.« Pewter war ratlos.
»Ja, diese Tropfdinger. Die sehen aber nicht kaputt aus.«
»Raus hier. Da kommt wer!«, schrie Tucker.
Die zwei Katzen flitzten die Leiter hinauf, die drei Tiere lehnten sich gegen den Stein in der Mauer und die Schieferplatte glitt an ihren Platz zurück.
Atemlos lauschten sie, als die Schritte näher kamen.
»Hinter diesen Karton.« Sie kauerten sich hinter einen heruntergefallenen Karton. Jordan Ivanic betrat den Raum und knipste einen Schalter an. Er nahm einen Karton von einem ordentlichen Stapel, machte kehrt, knipste den Schalter wieder aus und ging.
»Laßt uns hier verschwinden, bevor wir eingeschlossen werden«, flüsterte Pewter.
»Ich denke, du hast Recht«, stimmte Mrs. Murphy zu.
Sie liefen durch den Korridor, stießen die Tür zum Treppenhaus auf, rannten eine Treppe hinauf und sausten hinaus zur Laderampe. Sie sprangen hinunter, rannten den ganzen Weg zurück zum Postamt und stürmten durch das Tiertürchen.
»Wo seid ihr gewesen?« Harry sah, daß es halb fünf war.
»Du rätst nie, was wir gefunden haben«, sagte Pewter atemlos zu ihr.
»Sie wird's nicht kapieren.« Tucker setzte sich.
»Um so besser. Daß Harry noch mal in das Krankenhaus geht, ist ja wohl das Letzte, was wir wollen.« Murphy fragte sich, was sie nun tun sollten.