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Die Straßen, Gassen und Seitenstraßen, die zur lutheranischen Kirche führten, waren voll geparkt. Zu dem Trauergottesdienst, der für elf Uhr vormittags angesetzt war, erschienen ganz Crozet, viele Leute aus Albemarle County sowie Freunde und Angehörige, die aus Orten angereist waren, deren Existenz von den Virginiern oft vergessen wurde, Orten wie Oklahoma zum Beispiel.

Um viertel vor elf waren einige Leute verzweifelt auf der Suche nach einem Parkplatz. Sheriff Shaw hatte vorausgesehen, daß es so kommen würde. Die zwei Beamten, die den Leichenzug begleiten sollten, wies er an, beim Parken in zweiter Reihe und im Parkverbot ein Auge zuzudrücken. Das Verbot, an einem Hydranten zu parken, setzte er nicht außer Kraft.

Geschäfte stellten ihre Parkplätze zur Verfügung. Der Menschen­andrang war so groß, daß mehr als zweihundert Personen sich mit den Amtsräumen und Vestibülen der Kirche begnügen mußten, weil die Kirche selbst überfüllt war. Um elf Uhr standen noch immer mehr als fünfundsiebzig Personen draußen, und es war ein klarer, schneidend kalter Tag.

Reverend Herbert C. Jones hatte in weiser Voraussicht sowohl draußen als auch in den Vestibülen Lautsprecher aufgehängt. Tags zuvor war Aschermittwoch gewesen, weswegen er seine Fastenzeit­gewänder trug.

Herb hatte Larry sein Leben lang gekannt. Er dachte über seinen Nachruf nach, dachte darüber nach, daß das Leben eines guten Men­schen so gewaltsam ausgelöscht worden war. Als Mann Gottes fügte er sich Gottes Willen, aber als Freund, als tief empfindender Mensch konnte er nicht umhin zu zweifeln.

Die Führungskräfte des Crozet Hospital füllten die linke vordere Seite der Kirche. Hinter Sam Mahanes, Jordan Ivanic, Dr. Bruce Buxton und anderen kamen die Pflegekräfte, die über Jahre mit Larry gearbeitet hatten, Tussie Logan, weitere Krankenschwestern, Sekre­tärinnen, Menschen, die ihn lieben gelernt hatten, weil er sie schätz­te. Larry war nicht die Spur hochmütig gewesen.

Vorne auf der rechten Seite der Kirche saßen Verwandte, Neffen und Nichten mit ihren Kindern. Larrys Bruder, ein Rechtsanwalt, der nach dem Zweiten Weltkrieg nach Norman, Oklahoma, gezogen war, war auch da. Die Johnsons, allesamt gut aussehend, hatten viele von Larrys guten Eigenschaften: rechtschaffen, zuvorkommend, fleißig. Besonders ein Großneffe sah fast genauso aus wie Larry mit fünf­undzwanzig.

Als Mim Sanburne diesen jungen Mann erblickte, brach sie in Trä­nen aus. Jim und Little Mim legten beide einen Arm um sie, doch diese Fleisch gewordene Erinnerung, diese genetische Wiederholung zerriß ihr das Herz. Larry war unwiederbringlich gegangen und mit ihm Mims Jugend und Leidenschaft.

Harry, Susan und Miranda saßen nebeneinander ziemlich weit vor­ne auf der rechten Seite der Kirche. Alle drei trugen sie Hüte, wie es sich gehörte. In Harrys Fall sollte der Hut außerdem die Stiche ver­decken.

Der geschlossene Sarg aus Walnußholz stand im Hauptschiff un­terhalb des Altars. Der Duft der zahllosen Blumengebinde überwog den der Blumen im Vordergrund. Für die Menschen im Hintergrund bargen die süßen Gerüche Hoffnungen auf den nicht mehr allzu fer­nen Frühling, eine herrliche Jahreszeit im Blue-Ridge-Gebirge.

Das Stimmengemurmel verstummte, als Herb die Tür hinter dem Chorpult öffnete. Zwei Altardiener saßen bereits, einer beim Chor­pult, der andere bei der Kanzel. Als Herb eintrat, standen die Ver­sammelten auf. Er ging in die Mitte, hob die Hände, und die Ver­sammelten setzten sich.

Während des Gottesdienstes für den Verstorbenen spürten diejeni­gen, die den guten Reverend kannten, die Kraft seiner Stimme, die aufrichtige Rührung. Als er seine Predigt las, die mit Pfotenabdrücken seiner Katzen gesprenkelt war, da wußten die Leute, dies war die großartigste Predigt, die Herb je gehalten hatte.

Er vermied die üblichen einfachen Worte, daß der Verschiedene bei den Engeln sei. Er sprach von einem Leben, das gut gelebt worden war, einem Leben im Dienste der Mitmenschen, einem Leben, das dem Lindern von Schmerzen, dem Heilen, der Freundschaft gewid­met gewesen war. Er sprach von der Fuchsjagd und von der Fliegen­fischerei, Larrys liebsten Freizeitbeschäftigungen. Er erinnerte an seine Zeit bei der Marine, seine Praxis als junger Arzt, sein Verhält­nis zu seinen Mitmenschen. Herb rechtete wahrhaftig mit Gott.

»Herr, warum hast du deinen gläubigen Diener von uns genommen, wenn wir ihn auf Erden doch so sehr brauchen?« Er las Psalm ein­hundertzwei:»>Herr, höre mein Gebet und laß mein Schreien zu dir kommen! Verbirg dein Antlitz nicht vor mir in der Not, neige deine Ohren zu mir; wenn ich dich anrufe, so erhöre mich bald! Denn mei­ne Tage sind vergangen wie ein Rauch, und meine Gebeine sind ver­brannt wie ein Brand. Mein Herz ist geschlagen und verdorrt wie Gras, daß ich auch vergesse, mein Brot zu essen.<«

Während Herb mit dem Psalm fortfuhr, sprach Mrs. Hogendobber leise mit; ihre Kenntnis der Bibel war eine Quelle des Trostes für sie und der Verwunderung für andere.

Am Ende des Gottesdienstes bat Herb die Menschen, sich an den Händen zu fassen und mit ihm die Gebete zu sprechen. »Larry hat sein Leben lang Menschen zusammengebracht. Wer immer zu eurer Rechten ist, wer immer zu eurer Linken ist, denkt daran, daß Dr. Larry Johnson euch selbst noch im Tode zusammengebracht hat.«

Nach dem Gottesdienst öffneten sich die Kirchentüren. Die Men­schen verließen die Kirche langsam, beinahe unwillig, weil die Be­wegung, die sie drinnen hielt, so stark war.

Mim, die sich wieder in der Gewalt hatte, ging zum Auto. Von hier würde sich die Schlange zum Friedhof im Südwesten der Stadt win­den.

Harry kam zu ihrem Transporter, trat zum Einsteigen aufs Trittbrett und bemerkte ein totes Huhn, das mit gebrochenem Genick auf der Ladefläche lag.

Sie deckte eine alte Leinenplane über den Vogel. Sie konnte doch nicht mit fliegenden Federn zur Beisetzung fahren.

Sie spürte es in ihren Knochen, daß dies eine schäbige Warnung war.

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