22

Der Sonnenuntergang über dem Blue-Ridge-Gebirge ließ auf den Berggipfeln ein rosa-goldenes Feuerrad erstrahlen.

Harry blieb an dem Bach stehen, der ihren Besitz von dem Grund­stück ihres Nachbarn Blair Bainbridge trennte. Der Himmel über ihr färbte sich von Rotkehlcheneierblau zu einem von Orangegelb durchzogenen Blaugrau. Sie konnte sich nicht satt sehen an dem Farbenspiel der Natur.

Zur gleichen Zeit wie Harry betrachteten auch Rick Shaw und Cyn­thia Cooper das Schauspiel. Ihr nicht gekennzeichneter Wagen park­te neben den Bahngleisen unweit des Krankenhauses, unterhalb des alten Bahnwärterhäuschens, einem kleinen Steingebäude, das die C&O-Eisenbahngesellschaft in den 1930er Jahren aufgegeben hatte.

»Schön«, murmelte Rick.

»Ja.« Coop sah den Himmel sich zu einem samtigen Preußischblau verdunkeln, eine ihrer Lieblingsfarben.

Nacheinander gingen die Lichter an, Punkte des Lebens. Autofah­rer schalteten die Scheinwerfer ein und die Bewohner von Crozet eilten zum Abendessen nach Hause.

»Wann waren Sie das letzte Mal im Kino?«, fragte Rick.

»Äh, ich weiß nicht.«

»Ich auch nicht. Ich werde meine Frau morgen Abend überraschen und mit ihr einen Film ansehen. Und essen gehen.«

»Da wird sie sich freuen.«

Er lächelte. »Ich mich auch. Keine Ahnung, was mich bewogen hat, mit ihr anzubändeln. Und ich weiß nicht, warum sie mich gehei­ratet hat. Also ehrlich.«

»Sie sind ein - Sie wissen schon - hart gesottener Typ. Frauen mö­gen das.«

Sein Lächeln wurde noch breiter. »Meinen Sie?«

»Meine ich.«

Er zog eine Camel heraus, bot ihr eine an, zündete dann beide an. »Coop, wann werden Sie finden, wonach Sie suchen? Denken Sie immer noch an Blair Bainbridge?«

Sie wich der Frage aus. »Ich wollte Sie neulich schon mal fragen, wann Sie zu Camel gewechselt sind? Früher haben Sie doch Chester­field geraucht.«

»Oh.« Er atmete aus. »Ich dachte, wenn ich verschiedene Marken ausprobiere« - er atmete ein - , »wird mir der Geschmack vielleicht langsam zuwider.«

»Marlboro.«

»Merit.« Er schnitt eine Grimasse.

»Kool.«

»Ich kann Menthol nicht ausstehen.«

»Dunhill. Rote Packung.«

»Kennen Sie einen Polizisten, der sich Dunhill leisten kann?«

»Nein. Shepheard's Hotel. Auch ein gutes Kraut, aber richtig teu­er.«

»Sie müssen mit reichen Leuten verkehren.«

»Nee, ab und zu bietet mir jemand eine an. So kam ich zu einer Shepheard's Hotel.«

»Hm, hm, wie heißt die Marke doch gleich, alles Natur, Packung sieht irgendwie nach dreißiger Jahre aus, indianisches Logo. Wo hab ich die bloß gesehen?«, überlegte er.

Sie zuckte mit den Achseln. »Ich weiß nicht.« Schweigen. »Vice­roy.«

»Pall Mall. Sie sind zu jung, um sich daran zu erinnern.«

»Nein, bin ich nicht. Winston.«

Er wartete, tat einen kräftigen Zug. »Ich geh in den Laden, verlange Zigaretten. Ich sehe die vielen gestapelten Marken und jetzt fällt mir keine mehr ein.«

»Ausländische. Gauloises. Französische. Dann die türkischen Ziga­retten. Die hauen einen aus den Latschen.«

Er grunzte, dann hellte seine Miene sich auf. »Virginia Slims.«

»Lucky Strike.«

»Die sind gut. Und mir ist nicht entgangen, daß Sie meine Frage nach Blair Bainbridge nicht beantwortet haben.«

Blair Bainbridge arbeitete als Model und flog zu Aufnahmen in die ganze Welt. Little Mim Sanburne beanspruchte ihn mehr oder weni­ger für sich, aber er war zum Verrücktwerden unverbindlich. Viele Leute meinten, er sei der richtige Mann für Harry, groß und gut aus­sehend, wie er war, doch obgleich Blair und Harry sich gegenseitig attraktiv fanden, hatte sich zwischen ihnen lediglich eine Freund­schaft entwickelt.

»Tja, er ist einfach umwerfend«, seufzte Coop.

»Hab ich schon mal mit Ihnen über Ihr Privatleben gesprochen?« Er wandte sich ihr mit fragend gehobenen Augenbrauen zu.

»Nein.« Sie lachte. »Weil ich keines habe.«

»Ja, hm, also, Sie und ich sind nun schon lange ein Team. Sie sind jetzt in den Dreißigern, sind eine gut aussehende Frau.«

»Danke, Chef.« Sie wurde rot.

Er hob die Hand, die Innenfläche zu ihr gedreht. »Verschwenden Sie Ihre Zeit nicht an einen hübschen Mann. Die machen nur Ärger. Suchen Sie sich einen netten Kerl, der fleißig arbeitet und Sie um Ihrer selbst willen liebt. Okay, er mag nicht der bestaussehende oder der aufregendste Mann der Welt sein, aber auf lange Sicht haben Sie von einem Mann der Tat mehr als von einem, der bloß gut aussieht.«

Sie sah aus dem Fenster, gerührt, daß er an ihr Leben außerhalb der Arbeit gedacht hatte. »Sie haben Recht.«

»Das ist alles, was ich zu dem Thema zu sagen habe, nur eine Klei­nigkeit noch. Er muß meine Zustimmung finden.«

Sie lachten beide. Rings um sie wurde es dunkel. Sie stiegen aus dem Wagen und gingen an den Schienen entlang zum Krankenhaus, rutschten die Böschung am Gleis hinunter.

Sie öffneten die Hintertür. Jeder hatte eine Taschenlampe und einen kleinen Hammer bei sich. Beide hatten sich die Blaupausen einge­prägt.

Schweigend gingen sie durch den Hauptkorridor zum Heizungskel­ler. Dieser lag genau in der Mitte der Kellerräume. Seine Rückwand bestand aus fast achtzig Zentimeter dickem Felsgestein, eine sichere Barriere, sollte der Heizkessel jemals in die Luft fliegen. In die drei anderen Wände mündete jeweils ein Gang, der in den Heizungskeller führte.

Der einzige Korridor, der nicht mit dem Heizungskeller verbunden war, befand sich an der Ostseite des Gebäudes beim Fahrstuhl­schacht. Doch in der Mitte wurde dieser östliche Korridor von einem Gang gekreuzt, der in den Heizungskeller führte.

Von jedem dieser Flure gingen Büros und Lagerräume ab. Der Raum mit dem Verbrennungsofen war unweit vom Heizungskeller.

Coop klopfte an die dicke Mauer hinter dem Heizkessel. Kein hoh­les Geräusch wies auf ein verstecktes Lagergewölbe hin. Die zwei durchstreiften jeden Gang, merkten sich die Türen, die abgeschlossen waren, und durchsuchten alle offenen Räume.

Die Stille hier unten war unheimlich. Hin und wieder hörten sie die Fahrstuhltür auf- und zugehen und das Klingeln der Glocke, wenn die Tür sich schloß. Sie hörten Schritte, dann nichts mehr.

Die offenen Räume enthielten größtenteils Wartungsmaterial. In jedem Gang waren Wischlappen, Eimer und Bohnerbesen so günstig plaziert, daß sie leicht zum Fahrstuhl getragen werden konnten. In einigen Räumen, deren dunkelgrüne Wände die Düsternis noch ver­stärkten, standen reihenweise alte Aktenschränke.

Als sie leise weitergingen, quietschte das Linoleum unter ihren Fü­ßen. Hinten im ältesten Trakt des Gebäudes waren die Fußböden aus behauenen Steinen.

»Drei verschlossene Türen. Suchen wir Bobby Minifee.« Rick sah auf die Uhr. Sie waren seit zweieinhalb Stunden hier unten.

Bobby hatte Hank Brevards altes Büro erst an diesem Morgen übernommen. Die Leute des Sheriffs hatten akribisch jeden Zentime­ter, jeden Bericht geprüft. Erst als sie überzeugt waren, daß ihnen nichts entgangen war, hatten sie das Büro freigegeben.

»Bobby.« Rick klopfte an die offene Tür.

Erschrocken sah er auf und blinzelte. »Sheriff.«

»Wir brauchen Ihre Hilfe.«

»Klar.« Er legte den Zeitplan hin, an dem er gerade arbeitete.

»Nehmen Sie alle Ihre Schlüssel mit.«

»Ja, Sir.« Minifee nahm einen gewaltigen Schlüsselbund an sich.

Die drei gingen zu der ersten verschlossenen Tür, die zwischen Hanks Büro und einem Lagerraum voll mit Papierhandtüchern und Toilettenpapier lag.

Bobby fummelte mit den Schlüsseln herum, bis er den richtigen fand. Die Tür ging auf und er knipste das Licht an. Die Regale waren voll gestopft mit allen erdenklichen Arten von Glühlampen.

»Hank hat uns angewiesen, diesen Raum verschlossen zu halten, weil er meinte, die Leute würden die Glühbirnen mitgehen lassen. Die sind teuer, besonders die für den Operationssaal.«

»Die Leute würden sie stehlen.«

Bobby nickte. »Hank sagte immer, die würden einen heißen Ofen klauen und noch mal wiederkommen, um den Rauch mitzunehmen. Ich selbst hab so was aber nie beobachtet.« Er wartete höflich, wäh­rend Rick und Cooper den lang gestreckten Raum gründlich unter­suchten und die Wände abklopften.

»Okay. Der Nächste«, verlangte Rick.

Hinter der zweiten verschlossenen Tür befanden sich Schreibpapier und Büroartikel.

»Auch heiß begehrte Ware?«, fragte Coop.

»Ja. Komisch, die Leute denken, sich ein Notizheft zu nehmen sei kein Diebstahl.«

»Das Problem hat jeder.« Der Sheriff blätterte ein Dutzend linierte Notizhefte durch. »Hätte ich einen Dollar für jeden Stift, den jemand von meinem Schreibtisch mitgehen ließ, dann hätte ich mein Auto abbezahlt.«

Im dritten Raum, viel größer als die anderen und gut beleuchtet, standen ein paar Apparate - eine Blutinfusionspumpe, ein Oszillator, zwei EEG-Messgeräte.

»Teures Zeug.« Rick stieß einen Pfiff aus.

»Ja. Meistens wird es innerhalb von achtundvierzig Stunden zum Hersteller oder zu der Reparaturfirma transportiert. Für ein Kranken­haus dieser Größe fallen bei uns allerdings wenig Reparaturen an. In dieser Hinsicht haben wir Glück.« Bobby ging mit Rick und Cynthia durch den Raum. »Dafür hat Hank gesorgt. Er war sehr gewissenhaft bei dem teuren Zeug, rief beim Hersteller an, schilderte das Problem, organisierte den Transport. Wenn die Lieferung kam, stand er an der Tür. Hier konnte man ihm nichts vorwerfen.«

»Huch« war alles, was Rick sagte.

»Wo bewahren Sie die Organtransplantate auf?«

Bobbys Augen weiteten sich. »Nicht hier.«

»Sie nehmen sie nicht am Lieferanteneingang in Empfang?«, fragte Coop.

»Oh nein. Die Organtransplantate werden direkt zum Haupteingang geschafft, der Lieferant meldet sich bei der Rezeption, dann werden sie sofort zum Arzt gebracht. Die Ärzte wissen fast auf die Minute genau, wann so was reinkommt. Die meiste Zeit ist der Patient für die Transplantation bereit. Uns würde man so eine Sachenie in die Hand geben.« »Ich verstehe.« Rick fuhr mit dem Zeigefinger über den dunklen Bildschirm eines Oszilloskops.

»Sagen wir mal, jemandem würde ein Bein amputiert. Was passiert mit dem Bein?«, fragte Coop.

Bobby verzog ein wenig das Gesicht. »Hank sagte, früher wurden die Körperteile mitten in der Nacht im Verbrennungsofen verbrannt. Jetzt werden solche Sachen verpackt, versiegelt und täglich von einer Firma abgeholt, die mit gefährlichen biologischen Stoffen handelt. Sie verbrennen sie woanders.«

»Mitten im Nirgendwo, nehme ich an, wegen dem Gestank«, sagte Coop.

»Nein.« Rick schüttelte den Kopf. »Sie arbeiten mit hohen Tempe­raturen wie ein Krematorium. Das geht schnell.« Er lächelte selbst­zufrieden, weil er seine Hausaufgaben gemacht hatte.

»Mir ist's recht so. Ich würde keine Arme und Beine in den Verbrennungsofen werfen wollen.« Bobby schauderte.

»Die Menschen früher waren zäher.« Rick wollte noch eine Ziga­rette. »Vielen Dank, Bobby. Behalten Sie es für sich, daß wir hier waren.«

»Ja, Sir.«

Rick klopfte ihm auf den Rücken. »Alles so weit in Ordnung?«

»Ja.« Er zuckte mit den Achseln.

»Ist Ihnen hier irgendeine Veränderung im täglichen Ablauf aufge­fallen?« Coop knipste ihre Taschenlampe aus, als Bobby mit ihnen zum Hintereingang beim Bahngleis ging.

»Nein. Nicht hier unten. Ich richte mich nach Hanks Routine. Er ist schwer zu ersetzen. Im Augenblick arbeiten wir nicht so wirtschaft­lich, glaube ich zumindest.«

»Ist jemand hier runtergekommen, der normalerweise nicht runter­kommt?«

»Sam und Jordan sind getrennt aufgetaucht. Aber jetzt, wo sich die Sache ein bißchen gelegt hat, läuft alles wie immer - niemand schert sich viel um unsere Arbeit. Wenn etwas unerledigt bleibt, kriegen wir es zu hören, aber für gute Arbeit kriegen wir kein Lob. Wir sind quasi unsichtbar.« Ein leichtes Feixen huschte über Bobbys Lippen.

»Hat Ihnen schon mal jemand Drogen angeboten? Aufputschmittel, Beruhigungsmittel, Kokain?« »Nein. Man hat mir ja nicht mal ein Bier angeboten.« Seine Mundwinkel bogen sich aufwärts. Wenn er lächelte, erschienen Grübchen.

Rick öffnete die Hintertür. »Hören Sie, wenn Ihnen irgendwas ein­fällt, egal, wie belanglos es Ihnen vorkommt, können Sie mich oder Coop anrufen.«

»Mach ich.«

Die Temperatur war unter den Gefrierpunkt gesunken. Sie kletter­ten die Böschung zu den Gleisen hoch.

»Ideen?«

»Nein, Chef. Ich wünschte, ich hätte wenigstens eine einzige.«

»Ja, ich auch.«

Es war ihnen nicht in den Sinn gekommen, die Fußböden im Keller abzuklopfen.


An demselben Montagabend speisten Big Mim und Larry Johnson in Dalmally. Jim Sanburne war auf einer Bezirksbeauftragtenversamm­lung in Charlottesville, in der Old Lane Highschool, die heute die Bezirksbüros beherbergte.

Die zwei guten Freunde plauderten bei frischem Hummer, Reis, Gemüse, knackigem Senfkohl und einem sehr teuren chilenischen Weißwein.

»... sein Gesicht.« Larry lachte.

»Ich habe seit Jahren nicht daran gedacht.« Lachend erinnerte sich Mim an einen Herrn, der in ihre Tante Tally verliebt gewesen war.

Er hatte die selbstsichere Dame mit seinem Geschick beim Golfen zu beeindrucken versucht. Sie spielten bei einem Clubturnier einen Vierer. Er war im Rough gleich neben dem Grün, das von Zuschau­ern umgeben war. Es war ein schwüler Tag, die Damen trugen rückenfreie Tops oder sportliche Baumwollhemden und Shorts. Die Herren trugen Shorts, kurzärmelige Hemden und Strohhüte mit bun­ten Bändern.

Der Ärmste spielte einen steilen Ball aus dem hohen Gras, der di­rekt in dem üppigen Busen von Florence Taliaferro landete. Sie kreischte, fiel hin, doch der Golfball wollte seinen weichen Rastplatz nicht aufgeben.

Niemandem war eine Regel bekannt, die sich auf eine solche Bege­benheit anwenden ließ. Der Ball war unspielbar, aber der Mann woll­te nur ungern droppen und einen Strafschlag in Kauf nehmen. Seine Sturheit verbitterte die vergrätzte Tally dermaßen, daß sie von dem Augenblick, als sie ihre Ergebniskarten abgaben, nie wieder ein Wort mit ihm sprach.

Larry knackte eine Hummerschere. »Ich bin verblüfft, was mir alles so durch den Kopf flattert. Ein Vorfall von 1950 kommt mir so wirk­lich vor wie das, was in diesem Augenblick geschieht.«

»Jaa.« Sie zog das Wort in die Länge; ihre schönen Perlen reflek­tierten das Kerzenlicht.

Larry wußte, daß Mim stets bei Kerzenlicht speiste; das liebevolle Arrangement zeugte davon, daß Mim nicht auf Luxus, Schönheit und vollendete Proportionen verzichten konnte.

Gretchen kam leise herein, um einen Gang ab- und den nächsten aufzutragen. Sie und Mim waren seit ihrer Mädchenzeit zusammen gewesen. Gretchens Familie hatte bei Mims Eltern gearbeitet.

»Wie findest du das, daß meine Tochter gegen meinen Mann an­tritt?«

»Aha! Ich wußte doch, daß du was in petto hast.«

»Das sollte sie nicht tun«, meldete sich Gretchen.

»Hab ich dich gefragt?«

»Nein, Miss Mim, deswegen sag ich's ja. Irgendwie muß ich doch zu Wort kommen.«

»Du armes unverstandenes Geschöpf«, hänselte Big Mim sie.

»Daß Sie mir das bloß nicht vergessen.« Gretchen verschwand.

Larry lächelte. »Ihr zwei wärt die ideale Sitcom-Besetzung. Holly­wood braucht euch.«

»Du bist zu gütig«, erwiderte Mim mit einem Anflug von Schärfe in der Stimme.

»Wie ich das finde? Ich finde, es ist gut für Marilyn, nicht aber für die Bewohner von Crozet. Niemand möchte einen Sanburne krän­ken.«

»So ist es«, meinte Mim nachdenklich. »Wenngleich Jim klipp und klar gesagt hat, daß es ihm nichts ausmacht.«

»Trotzdem, es macht die Leute nervös. Keiner will auf der Verlie­rerseite sein.«

»Ja.« Mim legte ihre Gabel hin. »Soll ich ihr sagen, daß sie aufhö­ren soll?«

»Nein.« »Ich kann Jim wohl kaum zum Rücktritt raten. Er war ein guter Bürgermeister.«

»Allerdings.«

»Die Lage ist vertrackt.«

»Für uns alle.« Er kaute ein Stück Hummer, mild und delikat. »Aber die Leute werden auf die Wahl aufmerksam, diskutieren viel­leicht über dies und jenes. Wir haben uns an Gleichgültigkeit ge­wöhnt - bloß weil Jim sich um alles kümmert.«

»Vermutlich. In Crozet gibt es jede Menge Gruppen. Die Leute en­gagieren sich. Aber du hast Recht, es herrscht eine gewisse politische Gleichgültigkeit. Nicht nur hier. Überall.«

»Die Menschen stimmen mit den Füßen ab. Sie sind gelangweilt, und zwar groß geschrieben.«

»Larry«, sie beugte sich vor, »was geht im Crozet Hospital vor? Ich weiß, daß du mehr weißt, als du mir sagst, und ich weiß, daß Harry sich nicht an einer Sichel verletzt hat.«

»Was hat Harry damit zu tun?«

»Sie konnte unmöglich vom Tatort wegbleiben. Von klein auf hat es sie fasziniert, Dinge aufzuklären. Also wirklich, Charakter ist alles, oder etwa nicht?« Er nickte zustimmend und sie fuhr fort: »Ich wette um meine Ohrringe, daß Harry sich ins Krankenhaus geschli­chen hat und verletzt wurde.«

»Sie hätte auch verletzt werden können, hätte sie ihre Nase woan­ders rein gesteckt. Was, wenn sie um Hank Brevards Haus herumge­schlichen ist?«

»Ichkenne Mary Minor Haristeen.«

Beredtes Schweigen. Dann seufzte Larry. »Liebe Mim, du bist eine der intelligentesten Frauen, denen ich je begegnet bin.«

Sie lächelte übers ganze Gesicht. »Danke.«

»Ob deine Theorie stimmt oder nicht, kann ich nicht so genau sa­gen. Harry hat mir nichts erzählt, als ich das Postamt mit meiner Anwesenheit beehrte.« Er sprach die Wahrheit.

»Aber du gehst seit, hm, fast fünfzig Jahren im Krankenhaus ein und aus. Du mußt etwas wissen.«

»Ich kann nicht sagen, daß mir bis zu der Tat etwas aufgefallen ist, wie soll ich es ausdrücken, eine Ungereimtheit. Die üblichen Perso­nalkonflikte, Schwestern, die über Ärzte murren, Ärzte, die sich aus Statusgründen oder wegen Vergünstigungen oder hübschen Schwestern gegenseitig Steine in den Weg legen.« Er hob die Hand. »Oh ja, so was gibt's reichlich.«

»Also wirklich.« Mims linke Augenbraue hob sich.

»Aber Mim, so ist es in jedem Krankenhaus. Es ist eine Welt für sich, mit eigenen Gesetzen. Die Menschen arbeiten in einer äußerst gespannten Atmosphäre. Da fallen sie schon mal übereinander her.«

»Ja.«

»Aber die Spannung hat zugenommen, und zwar schon vor Hank Brevards Ermordung. Sam Mahanes hat es, sagen wir, an Zurückhal­tung fehlen lassen.«

»Oh.«

»So etwas mögen die Leute nicht, schon gar nicht bei ihrem Chef oder Direktor.«

»Um wen geht's?«

»Tussie Logan.«

»Aha.«

»Sie gehen sich geradezu theatralisch aus dem Weg. Aber Sam ar­beitet nicht immer spät abends.« Larry hob die linke Hand, eine Ge­ste des Zweifels und der Beschwichtigung.»Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet.<«

»Bin ich damit gemeint?«

»Nein, meine Liebe. Wir haben uns würdevoll mit unseren gegen­seitigen Fehlern abgefunden.«

»Es lag an mir, nicht an dir.«

»Ich hätte härter kämpfen sollen. Das habe ich dir schon gesagt. Ich hätte an die Tür hämmern und es mit deinem Vater klären sollen. Aber ich hab es nicht getan. Und irgendwie, Schatz, hat sich alles zum Guten gewendet. Du hast geheiratet und zwei liebe Kinder be­kommen.«

»Einen Sohn, der sich kaum zu Hause blicken läßt«, sagte sie nase­rümpfend.

»An wem liegt das?«, schalt er sie freundlich.

»Ich habe mich gebessert.«

»Und dein Sohn und seine Frau werden eines schönen Tages von New York hierher ziehen. Der Süden holt alle seine Kinder heim. Aber was immer die Götter für uns bereithalten - es ist richtig. Es ist richtig, daß du Jim geheiratet hast, daß ich Annabella geheiratet ha­be, Gott hab sie selig. Und daß wir mit den Jahren Freunde geworden sind. Wer kann sagen, daß unser Bund nicht sogarwegen unserer Vergangenheit um so stärker ist? Mann und Frau zu sein hätte unsere Verbindung womöglich geschwächt.«

»Glaubst du das wirklich?« Darauf wäre sie nie gekommen.

»Ja.«

»Ich muß darüber nachdenken. Weißt du was, ich genieße unsere kleinen Plaudereien. Ich habe dir immer etwas zu sagen gehabt.«

»Ich genieße sie auch.«

Ein Auto fuhr vor, parkte, der Wagenschlag knallte, die Hintertür ging auf.

Jim gab Gretchen einen Klaps auf den Allerwertesten. »Deck einen Teller für mich, Puppe.«

»Sexuelle Belästigung.«

»Wünschst du dir wohl«, neckte er sie.

»Ha. Man kann nie wissen.«

Er marschierte ins Eßzimmer. »Früh fertig geworden. Eine Premie­re in der Geschichte von Albemarle County.«

»Hurra.« Mim lächelte.

Jim klopfte Larry auf den Rücken, setzte sich hin. »Sieht sagenhaft aus.«

»Warte, bis du den Reis probierst. Gretchen hat kleine Stückchen Orangenschale reingetan.« Mim sah auf, als Gretchen ins Zimmer trat. »Einfach köstlich.«

»Klar doch, hab ich ja auch gemacht.« Gretchen servierte Jim Reis, Gemüse, machte ihm dann Salat an.

Die kleine Versammlung plauderte drauflos, sehr zu Larrys Er­leichterung. Wäre er noch länger mit Mim allein gewesen, dann wäre sie auf ihre Fragen nach dem Krankenhaus zurückgekommen.

Mim mußte alles wissen. Das war ihre Natur, so wie es Harrys Na­tur war, Rätsel zu lösen.

Und Larry wußte mehr, als er erzählte. Er könnte Mim nie belügen. Er war froh, daß er es nicht versuchen mußte.

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