»Die Hindernisse waren damals einszwanzig hoch. Wir ritten natürlich Vollblüter und flogen wie der Wind.« Tally stützte sich auf ihren Stock. Nicht ihr Rücken machte ihr zu schaffen, sondern das linke Knie, und sie verweigerte sich einer operativen Kniespiegelung. Sie meinte, sie sei verflixt noch mal zu alt, um sich von einem Doktor Löcher ins Knie bohren zu lassen.
Dennis hörte zu, seine Augen blitzten. Die Hindernisse wurden immer höher, wenn sie nach Jahrzehnten in der Erinnerung auftauchten, aber sie waren auch wirklich höher gewesen.
Im Haus herrschte großes Gedränge; Miranda, Ned Tucker, Jordan Ivanic, Herb Jones, dazu Stallburschen, Anwälte und Arzte und die Nachbarn im Umkreis von sieben Kilometern waren gekommen. Wenn Miss Tally ein Jagdfrühstück ausrichtete, war es geboten, dabei zu sein.
»Sam.« Joe Gramer begrüßte ihn herzlich. »Ich hatte bei der Jagd keine Zeit, mich mit Ihnen zu unterhalten. Sagen Sie, war es nicht toll?«
»Die Bachdurchquerungen...« Sam bemerkte Bruce aus dem Augenwinkel. »Wir haben uns ja eine ganze Weile nicht gesehen, Joe. Freut mich, daß Sie herkommen und mit uns jagen konnten.«
»Ja, Harry hat uns eingeladen«, hätte Joe beinahe gesagt, aber er konnte sich rechtzeitig zurückhalten.
Cynthia Cooper huschte mit einem Teller voller Speisen vorbei, darunter in Bratensaft getränkte Biskuits, die sie besonders gern aß.
Bruce trat zu Joe und Sam. Zu Joe sagte er: »Verzeihung, ich weiß, wir sind uns schon mal begegnet, aber ich kann mich nicht erinnern, wo.«
»Salvage Masters. Joe Gramer.« Joe streckte die Hand aus. »Wir überholen Infusionspumpen. Alle Marken.«
»Ach ja, natürlich.« Bruce drückte ihm schlaff die Hand. »Was führt Sie nach Crozet?«
»Harry Haristeen hat meine Frau und mich eingeladen, heute auf die Jagd mitzukommen. Der Februar ist ja gewöhnlich ein guter Monat.«
Laura war herbeigeschwebt und hatte sich zu ihrem Mann gestellt. »Die Fuchsrüden sind auf Freiersfüßen.«
»Laura, meine Frau. Laura, das sind Dr. Bruce Buxton und Sam Mahanes, der Direktor vom Crozet Hospital.«
»Freut mich, Sie kennen zu lernen.« Sie gab beiden die Hand.
»Sie reiten sehr gut«, sagte Sam bewundernd.
»Gutes Pferd«, meinte sie.
»Gute Hand.« Graham Pitsenberger drängte sich lächelnd zwischen die Gruppe; der Kamin unmittelbar hinter ihnen spendete die heiß ersehnte Wärme. »Zeit zum Aufwärmen.«
»Ich hab auch einen kalten Hintern.« Bruce lächelte.
»Sam.« Joe hielt hinter dem Rücken die Hände ans Feuer. »Eine Reinigung Ihrer Infosionspumpen ist überfällig.« Dies entfuhr Joe einfach so in der ganzen Aufregung. Er hätte eigentlich nichts sagen sollen.
Nach einer kurzen Pause sagte Sam: »Ach ja?«
»Seit Jahren.«
»Ich kümmere mich drum, kann's mir aber nicht vorstellen; denn Hank Brevard, unser technischer Leiter, war sehr pflichtbewußt. Ich werde die Unterlagen prüfen.«
Bruce war beunruhigt. Er räusperte sich. »Wir hatten ein erschütterndes Vorkommnis im Krankenhaus, Mr. und Mrs. Gramer. Vielleicht haben Sie davon gehört?«
Joe und Laura stellten sich dumm, Graham ebenso.
Sam faßte Joe jovial am Arm, während er zu Bruce sagte: »Nicht nötig, das anzusprechen, Bruce. Man soll die Fuchsjagd nicht mit Ärger von der Arbeit belasten, Joe. Ich suche Montag die Unterlagen raus und rufe Sie an.«
»Hier, meine Karte.« Joe griff in sein Tweedsakko und zog eine Visitenkarte hervor, auf teurem Papier gedruckt, richtig gedruckt, nicht kopiert.
Er hatte für das Frühstück seinen Jagdrock mit dem Tweedsakko vertauscht, was angemessen war. Nicht, daß Tally Zustände gekriegt hätte. Es war ihr egal, ob jemand in einem schmutzigen oder zerrissenen Jagdrock in ihr Haus kam, solange man sie mit Geschichten ergötzte. Aber bei übertriebenem Make-up auf der Jagd zog sie die Grenze. Tally fand, daß die Jagd die natürlich schöne Frau begünstigte und die künstlich schöne sich dort lächerlich machte.
Sam nahm die Karte und entschuldigte sich. Als er auf die Bar zusteuerte, ging Bruce hinterher.
»Sam, was ist los? Eine Reinigung der Geräte ist überfällig.« Er stürzte seinen Drink hinunter. »Herrgott, warum wollen Sie partout nicht auf mich hören - unser Ruf steht auf dem Spiel.«
»Lassen Sie uns ein andermal darüber reden.«
»Es ist eine verdammte Schlamperei, wenn wir Pumpen benutzen, die überholt werden müssen. Das ist mehr als erbärmlich.«
»Bruce.« Sams Stimme war fest, aber leise. »Soviel ich weiß, funktionieren die Infosionspumpen einwandfrei. Wenn nicht, würden die Schwestern es der Oberschwester unverzüglich melden, das wissen Sie. Aber ich werde auf alle Fälle die Unterlagen prüfen. Hank hätte niemals etwas außer Kontrolle geraten oder schleifen lassen. Er hätte es nicht getan und ich glaube, Bobby Minifee wird es auch nicht tun, wenn er sich erst mal in seine Stelle eingewöhnt hat.«
Rick Shaw und Big Mim flüsterten einen Augenblick in der Ecke miteinander.
»Wann wird Tussies Tod in der Zeitung stehen?«
»Morgen.« Rick seufzte. »Ich habe meine sämtlichen Beziehungen spielen lassen, um die Geschichte zurückzuhalten. Die Einzigen, die es wissen, sind Sie, Marilyn, Harry und Randy.«
»Der Rettungsdienst.«
»Die wissen Bescheid. Diana Robb kann dafür sorgen, daß die zwei, die mit ihr dabei waren, noch vierundzwanzig Stunden den Mund halten.«
»Hoffentlich.« Mims Blick schoß blitzschnell durch den Raum.
»Randy hat im Krankenhaus angerufen und Tussies Chef erzählt, sie hätte einen Notfall in der Familie. Sie würde vor Sonntag nicht zur Arbeit kommen.«
»Sollte dieser Trick funktionieren, müßte unser Fuchs aus dem Bau gefahren kommen.«
Rick lächelte. »Ihr Jägersleute macht mich fertig.«
Sie lächelte ebenfalls, dann trennten sie sich und mischten sich unter die anderen.
Little Mim schlängelte sich geschickt zu Bruce Buxton durch, der sich jetzt, das Gesicht gerötet, mit Harry, Susan und Miranda unterhielt.
»Ihr werdet eine Einladung zu Mutters nächster Teegesellschaft erhalten«, sagte Little Mim; ihr herrliches kastanienbraunes Haar fiel glatt auf ihre Schultern.
»Noch mehr Post zu sortieren.« Harry zwinkerte.
Mirandas Magen knurrte. Sie legte die Hand darauf und sagte: »Nachrichten aus dem Innenleben.«
»Essenszeit«, ergänzte Susan. »Harry, du hast erst ein Mal gegessen. Du kannst bestimmt noch was vertragen.«
»Die Kälte macht mich hungrig.«
Die drei Frauen begaben sich schnurstracks zum Büfett und überließen Marilyn ihrem Flirt mit Bruce, der nichts dagegen zu haben schien.
Fair kam zur Tür herein.
Tally rief ihm zu: »Warum waren Sie heute nicht auf der Jagd?«
»Zuchtsaison, Mrs. Urquhart. Aber ich wollte wenigstens mal vorbeikommen, um Sie zu sehen.«
»Lügner. Sie sind wegen dem Essen vorbeigekommen!« Er küßte sie auf die Wange.
»Ich bin Ihretwegen gekommen.« Er küßte sie auf die andere Wange. »Das hübscheste Mädchen im Bezirk.«
»Ach Sie.« Sie errötete leicht. »Gehen Sie, Ihre Freundin ist hinten am Büfett. Die kann essen, Fair. Du meine Güte, wie sie essen kann. Zu meiner Zeit hat eine Dame sich ihren Appetit verkniffen. Freilich, sie nimmt nie auch nur ein Pfund zu. Ich auch nicht.«
»Sie werden von Frauen um Ihre Figur beneidet, die halb so alt sind wie Sie.«
»Fünfzig!«, sagte Tally triumphierend.
»Ich dachte eigentlich mehr an fünfunddreißig.«
»Danke. Und jetzt fort mit Ihnen, ehe ich mich vergesse.« Sie schob ihn zum Eßzimmer.
Fair drängelte sich in die Schlange, um bei Harry zu sein.
»Betrüger«, schalt Susan gut gelaunt.
»Tally hat mich Lügner genannt. Du nennst mich Betrüger. Sonst noch jemand, der sich erleichtern möchte?« Er sah auf den hübschen Kopf seiner Ex-Frau hinunter. »Ich ziehe das Angebot zurück.«
Harry nahm seine Hand und drückte sie. Laura Gramer stand an der anderen Seite des Tisches.
»Sie sind ja eine lebhafte Truppe.« Laura lachte.
»Warten Sie, bis die Drinks einschlagen.« Susan kicherte.
Harry stellte Fair Laura vor, während sie um den Büfetttisch herumgingen.
Er trug galant Harrys Teller, stellte beide Teller auf den langen Couchtisch und ging zur Bar, um Colas zu holen. Fair trank tagsüber nie Alkohol, obwohl er sonst in Gesellschaft ganz gerne mal einen hob.
Coop trat zu ihnen. »Tolle Party.«
»Hast du schon was gegessen?«
»Ja. Zu viel. Ich geh mir noch Nachtisch holen.«
»Komm, setzen wir uns.« Harry deutete auf den Fußboden.
Die Cramers setzten sich auch auf den Boden und benutzten den Couchtisch als Ablage. Graham, Dennis, Cooper, Susan und Miranda quetschten sich dazu. Fair und Joe unterhielten sich über Medizin, da die Veterinärmedizin häufig dieselben Methoden und Geräte anwendete wie die Humanmedizin. In der Tat war so manche bei Menschen erfolgreiche Methode zuvor an Tieren erprobt worden.
Graham ergötzte Cynthia Cooper mit Geschichten, wie junge Rennpferde an die Startmaschine gewöhnt wurden. Dennis Foster und Laura verglichen Jadghundmeuten in Nordvirginia, was für Fuchsjäger stets ein Thema von leidenschaftlichem Interesse war. Susan hörte aufmerksam zu und Laura lud sie und den ganzen Tisch ein, mit ihnen im Middleburg Jagdclub an einer Gala-Veranstaltung teilzunehmen.
Einmal beugte Joe sich vor und flüsterte Harry zu, was er zu Sam und Bruce gesagt hatte. In diesem Augenblick bückte sich Jordan Ivanic, um hallo zu sagen, und Joe wiederholte für ihn, was er zu Sam und Bruce gesagt hatte, worauf Jordan erbleichte.
»Ich werde der Sache nachgehen. Wir hatten ein paar bedauerliche Vorkommnisse.« Jordan lächelte verkniffen.
»Ich denke, Mord zählt als bedauerliches Vorkommnis.« Graham nahm sich ein Stück Maisbrot.
»Mr. Pitsenberger, wir wissen lediglich, daß Hank Brevard im Keller des Krankenhauses umgebracht wurde. Wir haben keinerlei Anhaltspunkte, daß andere Unregelmäßigkeiten mit diesem Vorfall zusammenhängen«, entgegnete Jordan ruhig.
»In der Zeitung steht was anderes«, stichelte Graham.
»Die Zeitungen verkaufen ihre Auflagen im Interesse der Anzeigenkunden. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen wollen. War nett, Sie wieder zu sehen.« Jordan nickte den Cramers zu.
»Ein cooler Zeitgenosse«, bemerkte Graham, als Jordan außer Hörweite war.
»Er war keineswegs cool, als Hank ermordet wurde«, klärte Susan ihn auf. »So hab ich's zumindest gehört.«
Man hatte die Jagdgäste über Hanks und Larry Johnsons Ermordung eingehend informiert. Von Tussie Logan wußten sie nichts.
»Für eine kleine Gemeinde eine ganze Menge an Aufregung«, meinte Laura trocken.
Ein Aufschrei an der Haustür ließ alle aufhorchen.
»George Moore, was machen Sie denn hier?« Tally lachte, als ein hoch gewachsener Mann zur Tür hereinschneite.
»Ich bin gekommen, um Sie in den Himmel zu heben.« Er hob sie hoch.
»Scheusal!« Sie warf in gespielter Verzweiflung die Arme in die Höhe.
Er ließ sie vorsichtig herunter. »Haben Sie etwas von Ihren Sachen gegessen?«
»Nein. Ich war in erster Linie Gastgeberin.«
»Dann kommen Sie. Ich bin Ihr Frühstücks-Date.« Er hakte sie unter und ging mit ihr an den Tisch.
Alle kannten George, deshalb gab es jede Menge Pfiffe und Winken.
Little Mim neckte Bruce Buxton: »Mit einem Namen wie George muß man sich in Virginia schon anstrengen, um ihm gerecht zu werden.« Sie spielte auf George Washington an, den ersten Präsidenten der USA, der in Virginia geboren war.
Das Frühstück zog sich über Stunden hin. Tally hatte einen Klavierspieler engagiert, was die ohnehin großartige Stimmung noch steigerte. Als alle gegessen hatten, versammelten sie sich zum Singen um das Klavier, ein in Tallys Generation landläufiger Brauch, der zu der Zeit, als Harrys Generation aufwuchs, fast in Vergessenheit geraten war.
Als die Gäste schließlich einer nach dem anderen gingen, begleitete Dennis die Cramers.
Rick beobachtete alle ruhig von dem Fenster aus, das nach vorne rausging. Coop nutzte den Vorwand, Harry beim Aufladen ihrer Pferde zu helfen, um zu den Anhängern zu gehen.
»Ich fahr mit dir nach Hause.« Cynthias Stimme ließ erkennen, daß dies ein Befehl war, keine Bitte.
»Prima.«
»Rick will Sam und Jordan wegen der Unterlagen drängen und er will, daß ich bei dir bleibe.«
»Ich würde meinen, da war heute jemand beim Frühstück, der jetzt Blut und Wasser schwitzt.«
»Weißt du, das Ego des Menschen macht mich baff. Warum nicht das Geld nehmen und abhauen? Wäre ich der Obermacker bei diesem Betrug, wußte ich, daß sich die Schlinge zuzieht - ich würde bloß machen, daß ich wegkomme«, sagte Coop.
»Vielleicht ist an das Geld nicht so leicht ranzukommen.«
»Um so mehr Grund abzuhauen.« Coop zuckte mit den Achseln.
»Ich glaube, es ist Selbstgefälligkeit. Er denkt, er kann uns alle reinlegen.«
»Kann sein. Bis jetzt ist ihm das ganz gut gelungen.« Coop winkte, als die Cramers und Dennis abfuhren.
Als Harry und Coop auf der Farm angekommen waren, die Pferde abgeladen, gefüttert und alles aufgeräumt hatten, waren sie müde.
Sie ließen die Ereignisse des Tages Revue passieren und die Tiere hörten zu.
»Ich gestehe es ungern, aber ich hab schon wieder Hunger.« Harry lachte.
»Ich kann immer essen.« Sie plünderten den Kühlschrank.
»Mom ist mal wieder quietschvergnügt«, bemerkte Tucker. »Das bedeutet, daß sie eine große Dummheit machen wird.« Murphy sprach aus, was Tucker und Pewter dachten.