Am Samstagabend um zehn Uhr las Harry, ins Bett gekuschelt, mit Mrs. Murphy auf ihrem Kopfkissen, Pewter neben sich und Tucker am Fußende des Bettes,>Auf der Suche nach der verlorenen Zeit<. Es war eines der Bücher, die zu lesen sie sich einst auf dem College gelobt hatte, und nun machte sie es endlich wahr. Erstaunt über Prousts Vermögen der detaillierten Darstellung und noch erstaunter darüber, daß die zeitgenössischen Leser das ausgehalten hatten, kämpfte sie sich durch das Werk. Im Großen und Ganzen war sie angetan, aber sie hatte erst die Hälfte des ersten Bandes geschafft.
Das Telefon klingelte.
»Das muß Susan sein oder Fair«, murrte Pewter.
Harry nahm den Hörer ab; das Telefon stand auf dem Nachttisch. »Hallo.«
»Han...« Susans Stimme war außer Atem. »Hank Brevard wurde ermordet im Krankenhaus aufgefunden.«
»Häh?« Harry setzte sich auf.
»Bobby Minifee hat ihn im Heizungskeller gefunden, gleich nach Sonnenuntergang. Mit aufgeschlitzter Kehle. Oh, oh.« Susan schauderte.
Susan, eine der maßgeblichen jüngeren Bürgerinnen von Crozet, gehörte dem Krankenhausvorstand an. Sam Mahanes hatte verantwortungsbewußt eilends alle Mitglieder des Vorstands angerufen, dem auch Mim Sanburne und Larry Johnson angehörten.
»Oh, ich wünsche, ich hätte nicht so auf ihm herumgehackt.« Harry war zerknirscht. »Auch wenn er ein Meckerfritze war.«
»Harry, ein kleiner Ausdruck von Kummer wäre hier vielleicht angebracht.«
»Ach Scheiße, Susan. Ich hab Kummer ausgedrückt - ein bißchen, du Pingeltante! Außerdem spreche ich mit dir.«
Ein kleines Kichern kam durch die Leitung. »Er war ein Miesmacher. Trotzdem - die Kehle aufgeschlitzt zu kriegen.«
»Ein schneller Tod, nehme ich an.«
Die Tiere spitzten die Ohren.
Susan schwieg eine Sekunde. »Meinst du, die Menschen sterben, wie sie gelebt haben?« »Ach, ich weiß nicht. Nein, nein. Ich meine, wie kann man sterben, wie man gelebt hat, wenn jemand sich hinter einem heranschleicht und s-s-s-t.«
»Auf deine Geräuscheffekte kann ich verzichten.«
»Und wie kann man sterben, wie man gelebt hat, wenn man in einem Krankenhausbett liegt und überall Schläuche in einem stecken. Das ist ein langsames Wegsacken. Ich fände es widerwärtig. Vermutlich finden die meisten Menschen es widerwärtig.«
»Ja, aber manchmal frag ich mich das eben. Worauf ich hinaus will, selbst wenn man so auf dem Sterbebett liegt, würde man sozusagen den Tod so angehen, wie man das Leben angegangen ist. Die einen stellen sich ihm, andere leugnen ihn, wieder andere machen ein fröhliches Gesicht.«
»Ach so. Ja, dann tut man es wohl - ich meine, man stirbt, wie man gelebt hat. Das macht Hanks Tod nur noch sonderbarer. Jemand packt ihn und Schluß. Schnell, brutal, wirkungsvoll. Drei Eigenschaften, die ich Hank nicht zuschreiben würde.«
»Nein, aber seinem Mörder.«
Harry überlegte lange. »Vermutlich. Was so seltsam ist, warum sollte jemand Hank Brevard umbringen wollen, außer um ihn nicht mehr sagen zu hören, daß unser Land ein Pfuhl politischer Korruption ist, Sam Mahanes ihn zu hart ran nimmt, und nicht zu vergessen Hanks Theorien zum Kennedy-Attentat.«
»Fidel Castro«, setzte Susan hinzu.
»Für mich ist das ein Teil des Kennedy-Attentats.« Harry wechselte vorsichtig das Thema. »Wann habt ihr eine Vorstandsversammlung? Ich nehme doch an, daß eine außerplanmäßige stattfindet.«
»Die Mim an sich reißen wird, sobald Sam sie eröffnet hat.«
»Er soll bloß gute Miene machen, wenn sie's tut. Sie gehört zu den größten Geldgebern des Krankenhauses. Außerdem, so herrisch Mim auch sein kann, sie hat gute Ideen. Dabei fällt mir ein, ich wollte dich morgen anrufen und dir erzählen, daß Little Mim für den Bürgermeisterposten von Crozet kandidieren will.«
»Von wegen morgen. Du hättest mich in der Minute anrufen sollen, als du zur Tür reinkamst«, schalt Susan sie.
»Wollte ich ja auch, aber dann hab ich den Küchenboden geschrubbt, weil man vor lauter Schlamm drauf ausgerutscht ist, und dann hab ich Tucker die Nägel geschnitten, was sie nicht ausstehen kann, das große Baby.«
»Ich hasse das wie die Pest«, erwiderte Tucker.
»Hat Marilyn den Verstand verloren?«
»Ich weiß nicht. Sie hat mich ein bißchen unter Druck gesetzt, aber nicht auf die fiese Art. Sie sagte, ihr Vater hätte seine Arbeit gut gemacht. Aber sie und er wären über die Entwicklung von Crozet gegensätzlicher Auffassung, vor allem was die Industrie betrifft. Und weißt du, sie hat ja Recht. Sie sagte, es wird Zeit, daß unsere Generation zum Zuge kommt.«
»Wir waren Schlafmützen«, gab Susan zu. »Und was willst du jetzt machen? Du steckst in der Zwickmühle.«
»Ich hab gesagt, ich werd's mir überlegen. Sie wird dich auch fragen. Wir werden uns entscheiden müssen und das auch noch öffentlich.«
»Hm, hm. Ich rufe Reverend Jones an, damit er die Damen der lutheranischen Kirche in Gang bringt. Miranda wird die Gruppe von derKirche zum Heiligen Licht< organisieren. Wir gehen am besten alle morgen Vormittag zu Lisa Brevard.«
»Gut. Wann gehst du?«
»Neun Uhr.«
»Okay. Dann bin ich auch um neun da. Bis dann.« Harry legte auf, informierte ihre drei tierischen Freundinnen über den schrecklichen Vorfall, dann dachte sie an die Aufgabe, die ihr morgen bevorstand.
Trauer in ihrer unmittelbaren Nähe verstörte sie. Doch als ihre Mutter und ihr Vater im Abstand von einem Jahr gestorben waren, hatte sie es zu schätzen gewußt, daß die Menschen gekommen waren, um mit ihr zu trauern, zugedeckte Schüsseln mit Speisen mitgebracht, geholfen hatten. Wie selbstsüchtig, sich anderen Menschen in Not zu verweigern, weil ihr Schmerz einem Unbehagen bereitet. Die Menschen fühlen sich aus verschiedenen Gründen unbehaglich. Die Männer fühlen sich schrecklich, weil sie den Schmerz nicht bestimmen können, und Männer sind nun mal dazu erzogen, Dinge zu bestimmen. Die Frauen versuchen die Leidenden emphatisch zu trösten. Vielleicht lassen sich die Geschlechter nicht so sauber in diese Kategorien einteilen, aber für Harry war es so.
Sie stellte ihren Wecker eine halbe Stunde früher auf fünf Uhr. Dann knipste sie das Licht aus. »Wer in aller Welt wollte wohl Hank Brevard ermorden?«
»Jemand, der sehr selbstsicher ist«, bemerkte Mrs. Murphy weise.
»Warum sagst du das?«, fragte Pewter.
»Weil er oder sie sich im Keller genau auskennt, vermutlich er. Er hat die Leiche dagelassen. Menschen, die ihre Spuren verwischen wollen, vergraben die Leiche. Das glaube ich zumindest. Es hat etwas Anmaßendes, Hank einfach hingeplumpst da liegen zu lassen. Und er kannte entweder den Zeitplan, den Arbeitsablauf, oder er verließ sich einfach drauf, daß sonst niemand im Keller sein würde.«
»Du hast Recht«, sagte Tucker.
»Wollt ihr wohl still sein? Ich brauche meinen Schönheitsschlaf.«
»Versuchs mit Koma«, witzelte Pewter.
Die anderen zwei kicherten, verstummten dann aber.