Coop nahm weiße Kartons mit chinesischem Essen aus einer braunen Papiertüte und stellte sie mitten auf Harrys Küchentisch. Harry deckte Teller, Besteck und Servietten auf.
»Milch, Cola, Tee, Kaffee, Bier?«
»Bier.« Coop setzte sich ermattet hin, wobei sie Tucker knapp verfehlte, die sich ans Stuhlbein gepflanzt hatte. Sie schien daran festzukleben. »Ich nehme Kaffee zum Nachtisch.«
»Du hast Nachtisch mitgebracht?«
»Ja, aber was es ist, verrate ich dir erst, wenn wir das hier aufgegessen haben. Setz dich.«
»Okay.« Harry setzte sich. Sie griff nach dem Schweinefleisch Lo mein, während Coop Cashew-Huhn austeilte.
»Ich ess nichts Chinesisches.« Mrs. Murphy saß im Küchenfenster.
»Lohnt 'nen Versuch. Du kannst dir die Schweinefleischbröckchen rausfischen.« Pewter streckte eine Kralle aus.
»Hab genug gegessen«, sagte die Tigerkatze, die auf ihre Figur achtete.
»Ich dachte, du würdest die Nacht über bei Fair bleiben, nachdem du ihn am Flughafen abgeholt hast.«
»Ach, ich hatte heute Abend keine Lust auf männliches Imponiergehabe«, antwortete Harry lässig.
»Zum Beispiel?«
»Mir von ihm sagen lassen, was ich zu tun habe und wie ich es zu tun habe.«
»Mutter, das ist nicht richtig, so macht Fair das nicht. Er macht einen Vorschlag und gleich wirst du stinksauer.« Murphy lachte.
»Und was hat er gesagt, was du tun sollst? Etwas zu deinem Besten.« Cynthia mischte Sojasoße unter ihren weißen Reis, dann steckte sie ihre Eß-Stäbchen hinein. »Hab ich Recht?«
»Hm, ja, ich weiß, daß es zu meinem Besten ist, aber ich mag es nicht hören. Er hat gesagt, ich soll nicht wieder ins Krankenhaus gehen und nirgends allein rumschnüffeln. Und dann hat er gesagt, ich sehe aus wie eine verhinderte Punk-Rockerin.« Sie zeigte auf ihre Stiche. »Ich kann wohl die nächsten sechs Wochen mit 'ner Baskenmütze rumlaufen.« »Du doch nicht, Harry.«
»Okay, mit 'ner Baseballkappe. Orioles oder vielleicht Braves. Nee, das Logo von denen gefällt mir nicht.«
»Ich dachte eher an einen schwarzen Cowboyhut - dazu schwarze Chaps, diese Überhosen, mit schwarzen Fransen.«
»Coop, gibt es bei dir was, das ich wissen sollte?« Harrys Augen blitzten.
»Äh, nein.« Sie beugte den blonden Kopf über ihr Essen. »Nur so 'n Gedanke. Fair würde es gefallen.«
»Vielleicht solltest du Verkleiden spielen.« Harry kicherte.
»Erstens habe ich keine Chaps und ich kaufe keine von der Stange. Wenn man Chaps will, hat man zwei Möglichkeiten, und nur diese zwei: Chuck Pinnell oder Sattlerei Journeyman.«
»Woher weißt du das?«
»Von dir.«
»Alzheimer läßt vorzeitig grüßen.« Harry schlug sich mit dem Handballen an den Kopf.
»Vielleicht ist es gar nicht so vorzeitig.«
»Ach Quatsch, Coop. Ich bin noch lange keine Vierzig.«
»Oh, ich nehme an, du warst nie eine Kanone im Rechnen. Ich zähle drei Jahre.«
»Siebenunddreißig ist noch lange hin bis.« Harry grinste schief. »Und du bist nicht viel weiter davon entfernt, Schätzchen.«
»Unheimlich, nicht? Was wollte ich mit den Chaps anfangen? Keiner da, mit dem ich Verkleiden spielen kann, und ich zieh sie bestimmt nicht im Streifenwagen an.«
»Oh, warum nicht? Das war doch 'ne hübsche Note. Die Leute denken doch sowieso, daß Polizistinnen maskulin veranlagt sind.«
»Du verstehst es wirklich, einer Frau was Nettes zu sagen.« Coop seufzte, weil sie wußte, daß es stimmte.
»Ja, aber ich hab nicht gesagt, daß du maskulin bist. Bist du nicht. Du bist wirklich sehr feminin. Viel femininer als ich.«
»Nein, bin ich nicht.«
»Du bist groß und gertenschlank. Die Leute finden das feminin, bis sie das Abzeichen sehen und die Bügelfalten in deiner Hose. Auch die Schuhe sind ein Hit. Hohe Absätze. Du könntest einem armen Schlucker einen Tritt versetzen, daß ihm Hören und Sehen vergeht, aber du würdest deinen Absatz nicht mehr aus seinem Hintern kriegen. Polizeiliche Brutalität.«
»Harry.« Cynthia lachte.
»Da siehst du, was Fair mit mir anstellt. Macht ein mieses Frauenzimmer aus mir. Ich hab unkeusche Gedanken.«
»Dafür brauchst du Fair nicht. Du behältst sie bloß meistens für dich.«
»Kannst du dir vorstellen, daß ich so mit Miranda rede? Sie würde in Ohnmacht fallen. Und wenn sie zu sich käme, würde sie in der Kirche zum Heiligen Licht< für mich beten müssen. Ich hab sie gern, aber es gibt Dinge, die bindet man Mrs. H. nicht auf die Nase.«
Coops Eß-Stäbchen verharrten in der Luft, dann legte sie sie einen Moment hin. »Verlaß dich drauf, sie weiß mehr, als sie sagt. Ihre Generation hat bloß nicht über so was gesprochen.«
»Meinst du wirklich?«
»Ja. Ich glaube, sie haben alles getan, was wir tun, aber sie haben darüber geschwiegen. Nicht aus Scham oder so, sondern weil man sie mit Normen für angemessene Gesprächsthemen erzogen hat. Ich bin sicher, sie haben solche Themen nicht mal mit ihrem Arzt erörtert.«
»Die Chaps. Die würde ich auch nicht erörtern.« Harry lachte. »Lieber Chaps als diese Seidensachen von der Victoria's Street. Bei Models sehen sie gut aus, aber wenn ich so was anzöge, würde ich mich im Schlafzimmer zum Gespött machen.«
»Ich wollte, sie würden aufhören über Sex zu reden und was zu essen runterwerfen«, winselte Tucker.
»Stell dich auf die Hinterbeine. Coop fällt immer wieder drauf rein«, riet Pewter ihr.»Ich reib mich an Mutters Beinen. Dabei mußte ein Stuckchen Cashew-Huhn rausspringen.«
Die zwei vollführten ihren Trick. Es klappte.
»Ihr seid mir die Richtigen.« Murphy kicherte, dann guckte sie aus dem Fenster.»Simon ist auf Futtersuche.« Sie sah das Opossum den Stall verlassen.
»Er braucht bloß in die Futterkammer zu gehn oder sich vor den Futtereimer in Tomahawks Box zu setzen. Das Pferd schmeißt mit Körnern um sich, als wäre es das letzte Mal, daß es was kriegt. Er würde nicht so verschwenderisch damit umgehen, müßte er die Futterrechnung bezahlen.« Pewter hatte was gegen Futterverschwendung.
»Er ist ein Schwein. Egal, ob er die Rechnung bezahlen würde oder nicht.« Murphy hatte Tomahawk gern, aber sie kannte seine Macken.
»Schon was gehört, wie's mit dem Verkauf von Tracys Haus in Hawaii vorangeht?«
Harry nahm sich noch eine Frühlingsrolle. »Noch kein Käufer in Sicht, aber er wird es sicher bald verkaufen. Er schreibt ihr jeden Tag. Ist das nicht romantisch? Viel besser als ein Anruf oder eine EMail. Die Handschrift eines Menschen hat so was Persönliches.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, daß ein Mann sich täglich hinsetzt und mir einen Brief schreibt.«
»Ich auch nicht. Fair würde mir vielleicht täglich ein Rezept schreiben - für die Pferde.« Sie lachte.
»Er ist ein prima Kerl.« Coop hielt inne. »Hast du ihn gern?«
»Ich hab ihn gern. Hab ihn immer gern gehabt. Bloß in punkto Liebe, da bin ich mir nicht so sicher. Manchmal seh ich ihn an und denke, sie ist noch da. Dann wieder weiß ich's nicht. Er ist ja der Einzige, den ich kenne. Ich war auf der Highschool mit ihm zusammen und hab ihn gleich nach dem College geheiratet. Nach unserer Scheidung hatte ich ein paar Verabredungen, aber bei keinem hat's gefunkt. Verstehst du, was ich meine?«
»Haargenau.«
»Ich weiß nicht mal, ob ich nach was oder wem suche. Aber er ist ein guter Mensch. Und ich bin drüber weg.«
»Worüber?«
»Über den Schlamassel, den wir angerichtet haben.«
»Wenigstens hast du einen Schlamassel, eine Vergangenheit.«
»Coop?«
»Ich treffe bloß faulenzende Väter, Säufer, Drogensüchtige und hin und wieder einen bewaffneten Einbrecher. Die Jungs, die bewaffnete Raubüberfälle begehen, sind richtig helle. Man könnte sogar sagen, sexy.« Die hübsche Polizistin lächelte.
»Tatsächlich?« Harry kratzte mit ihren Stäbchen den letzten Rest Lo mein zusammen. »Wenn du noch was abhaben willst, gib Laut.«
»Ich nehm mir den Rest Huhn.«
»Gerecht geteilt. Die bewaffneten Räuber sind also sexy?« »Ja. Sie sind meistens sehr männlich, intelligent, risikofreudig. Leider halten sie nichts von jeglicher Art Zurückhaltung, daher ihr Beruf.«
»Wie sieht's mit Mördern aus?«
»Komisch, daß du das fragst. Mörder sind meistens ganz gewöhnlich. Na ja, abgesehen von dem vereinzelten durchgeknallten Serienmörder. Aber der Kerl, der den neuen Geliebten seiner Freundin ins Jenseits befördert - gewöhnlich.«
»Keine Funken?«
»Nein.«
»Vielleicht sind wir einem Mord näher, als wir denken. Wir sind alle dazu fähig, aber wir sind nicht alle zu bewaffnetem Raubüberfall fähig. Klingt das plausibel?«
»Ja. Ich glaube, unter den richtigen Umständen oder den falschen sind die meisten von uns zu allem fähig.«
»Vermutlich.«
»Wirf noch ein letztes Stückchen Huhn runter«, maunzte Pewter.
»Pewter, ich hab nichts mehr, außer du magst gebratene Nudeln.«
»Ichprobier sie.«
Lachend warf Harry ihr eine Handvoll Nudeln hin, die die Katze im Nu verputzte, weil Tucker sich an sie heranpirschte.
»Deine Krallen klacken. Damit verrätst du dich immer.« Pewter lachte.
»Es gibt wichtigere Dinge im Leben als einziehbare Krallen.«
»Nenn mir eins«, forderte Pewter den Hund heraus. Sie sprach undeutlich, weil sie den Mund voll hatte.
»Die Fähigkeit, einen Meter unter der Erde eine Leiche zu wittern.«
»Igitt!« Pewter verzog das Gesicht.
»Sie will dich auf die Palme bringen.« Murphy beobachtete Simon, der in den Stall zurückging.»Simon steuert auf die Sattelkammer zu. Vermutlich ist er um den Stall rumgegangen und hat festgestellt, daß keine Bären in der Nähe sind. Komischer Kerl.«
»Ich wüßte gern, was Opossums zum Wohle der Welt beitragen.« Pewter leckte sich mit ihrer knallrosa Zunge die Lippen.
»Was denkst du, was Opossums über Katzen sagen«, piesackte Tucker die graue Katze.
»Ich fang Mäuse, vernichte Geschmeiß.« »In letzter Zeit nicht«, lautete die trockene Entgegnung des Hundes, was die dicke Katze dermaßen erzürnte, daß sie der Corgihündin eins auf die empfindliche Nase gab.
Harry sah es. »Pewter. Das war gemein.«
»Ich gehe.« Pewter drehte sich um und tänzelte mit der Erhabenheit einer mißlaunigen Katze ins Wohnzimmer.
»Ich finde, Katzen und Hunde sind viel ausdrucksstärker als wir.« Cynthia lachte, als Pewter ihren Gang um des Effekts willen übertrieb. »Sie können die Ohren nach vorne, nach hinten und nach außen stellen, mit den Schnurrhaaren und mit dem Schwanz zucken, die Nackenhaare aufrichten und flachlegen. Sie haben eine Menge Gesichtsausdrücke.«
»Pewters Hauptausdruck ist Langeweile.« Tucker kicherte.
»Fang bloß nicht so an.«
»Anfangen? Sie hat gar nicht aufgehört«, rief Murphy am Fenster.
»Seid ihr aber geschwätzig.« Harry zeigte der Reihe nach mit dem Finger auf jedes Tier, dann wandte sie sich wieder an Coop. »Stimmt. Sie sind ausdrucksstärker.«
»Ich bin total erledigt.«
»Geh ins Wohnzimmer. Ich bring dir eine Tasse Kaffee und den Nachtisch. Was ist es denn?«
»Phish Food. Hab's in den Tiefkühlschrank gestellt.«
»Von Ben and Jerry's. Coop, das Allerbeste.« Harry lief zum Tiefkühlschrank, nahm die Eiskrem-Packung heraus und holte zwei Schalen aus dem Schrank. »Das Eis kann weich werden, während ich Kaffee mache. Ich hab kolumbianischen, Haselnuß, Zichorie und normalen. Ach ja, koffeinfreien hab ich auch.«
»Kolumbianischen.« Cynthia setzte sich aufs Sofa und zog ihre Schuhe aus. »Ah, das tut gut. Fußmassage. Wir brauchen jemand in Crozet, der eine gute Fußmassage macht.«
»Ganzkörpermassage. Es ist Jahre her, seit ich eine Massage hatte. Oh, das tut so gut. Ich hab Knoten im Rücken.« Sie wartete, bis der Kaffee, dessen volles Aroma die Küche erfüllte, durch die Maschine gelaufen war.
Cynthia stand auf und holte ihre Aktenmappe, die sie neben der Küchentür abgestellt hatte. Dann legte sie sich wieder aufs Sofa. Sie konnte nicht widerstehen. Als Harry mit dem Kaffee und einer Schale Eiscreme hereinkam, setzte sie sich auf.
»Arbeit?«
»Ja. Ich brauche nur genug Energie, um diese Krankenhausabrechnungen durchzusehen.«
»Ich helf dir.«
»Es gilt als vertraulich.«
»Ich sag's keinem. Ich schwör's bei meinem Leben.«
»Sag so was nicht«, brüllte Mrs. Murphy und sprang von der Küchenanrichte.»Hier ist ringsum schon genug passiert.«
»Murphy?« Harry fragte sich, ob ihrer Katze, die herbeieilte und auf ihren Schoß sprang, etwas fehlte.
»Okay, hier hast du die Behandlungsrechnungen, zum Beispiel die Kosten einer Mandeloperation. Ich sehe die Geräterechnungen durch.«
»Wonach soll ich suchen?«
»Weiß ich nicht. Alles, was dir abwegig vorkommt.«
Harrys Blick fiel auf eine Rechnung für eine Gallenblasenoperation. »Jesses, zweitausend Dollar für den Chirurgen, tausend für den Narkosearzt, zweihundert pro Tag für ein Zweibettzimmer. Mensch, guck dir diese Preise für medikamentöse Behandlung an. Das ist ja unverschämt!«
»Und dies ist ein Staat, der keine umfassende Gesundheitsfürsorge wünscht. Kranksein bringt einen um.«
»Im Crozet Hospital bestimmt.« Harry lächelte leicht. »Verzeihung.«
Coop schnippte wegwerfend mit den Fingern. »Nach einer Weile entwickelt man Galgenhumor. Andernfalls käme einem jeglicher Humor abhanden.«
»Hier ist eine Rechnung für eine Brustamputation. Wenn man diese Abrechnungen aufschlüsselt, ist es wie eine Lawine. Ich meine, jeder einzelne Arzt stellt eine eigene Rechnung aus. Das Zimmer wird extra berechnet. Ich kann mir vorstellen, wie das ist: Man denkt, das ist jetzt aber die letzte Rechnung, und dann kommt die nächste.«
Sie arbeiteten schweigend etwa eine Stunde lang, machten nur gelegentlich eine Bemerkung über die Kosten von diesem und jenem oder darüber, daß sie nicht wußten, daß Soundsos Schwester einen Stift im Bein hatte.
»Hank Brevard hat peinlich genau Buch geführt.« »Er hat die Aufzeichnungen mit der Hand geschrieben, und ich denke, jemand anders hat sie dann in den Computer eingegeben. Hank war im Umgang mit Computern nicht sehr bewandert.« Sie hielt inne. »Mensch, bin ich blöd. Ich muß rauskriegen, wer das für ihn gemacht hat.«
Harry runzelte die Stirn. »Solltest du. Nach einer Weile kommt einem alles und jeder verdächtig vor. Es ist unheimlich.«
»Salvage Masters.«
»Klingt gut. Schrotthändler?«
»Nein, eine Firma, die Infosionspumpen überholt. Das sind die Dinger neben dem Bett eines Patienten, aus denen Salzlösung oder Morphium oder sonst was tropft.« Sie studierte die Abrechnung. »In Middleburg abgestempelt. Ich denke, ich werde Samstag hinfahren, wenn Rick sein Okay gibt.«
»Tut er bestimmt.«
»Willst du mitkommen?«
»Ja, gerne.«