Das Gesicht weiß wie der Schnee, der sich überall im Bezirk noch hielt, klammerte sich Bobby Minifee an die Halteschlaufe über dem Fenster auf der Beifahrerseite des Streifenwagens.
Rick zündete sich eine filterlose Camel an und öffnete das Fenster einen Spalt. »Was dagegen?«
»Sie sind der Sheriff«, sagte Bobby.
»Soll ich anhalten?«
»Nein, warum?«
»Sie sehen aus, als müßten Sie sich übergeben.«
Bobby atmete krampfartig ein, schüttelte den Kopf. Minifee, einundzwanzig Jahre alt, sah gut aus. Er arbeitete nachts im Krankenhaus, um über die Runden zu kommen. Tagsüber studierte er am Piedmont Community College. Der Junge, der aus armen Verhältnissen stammte, hoffte anschließend an das Virginia Technical College in Blacksburg zu gehen. Er war intelligent und wollte Maschinenbauingenieur werden. Je länger er studierte, desto klarer wurde ihm, daß es ihm fließende Kräfte angetan hatten, Wellen, Wasser, alles was floß. Er wußte nicht, wohin ihn das führen würde, aber im Moment stellte er Betrachtungen über eine andere Art des Fließens an.
»Sheriff, Sie sehen so was sicher andauernd. Blut und alles.«
»Genug. Meistens Autounfälle. Tja, und dann und wann einen Mord.«
»Ich hatte keine Ahnung, daß Blut so schießen kann. Es war überall an der Wand.«
»Wenn die Drosselvene durchtrennt wird, pumpt das Herz, das ja unweit der Kehle liegt, das Blut heraus wie einen Strahl. Er ist erstaunlich, der Körper des Menschen. Erstaunlich. Hat er noch so stark geblutet, als Sie ihn fanden?« Rick tastete sich langsam an weitere Fragen heran. Als er zum Tatort gekommen war, hatte er Bobby schonend behandelt; denn der Junge hatte gezittert wie Espenlaub.
»Nein, es ist gesickert.«
»Meinen Sie, er hat noch gelebt, als Sie ihn fanden?«
»Nein. Ich hab seinen Puls gefühlt.«
»Wie warm war sein Handgelenk oder seine Hand, als Sie ihn angefaßt haben?« »Warm. Nicht klamm oder so. Als wäre er gerade gestorben.«
»War das Blut hellrot?« Bobby nickte und Rick fuhr fort: »Bestimmt? Nicht an den Rändern verkrustet oder am Hals verklumpt?«
»Nein, Sheriff. Das roteste Rot, das ich je gesehen habe, und ich konnte es riechen.« Er schüttelte den Kopf, als mußte er sein Gehirn klar kriegen.
»Der Geruch ist es, der einen fertig macht.« Rick fuhr langsam an eine rote Ampel heran. »Ich würde sagen, Sie haben Glück gehabt.«
»Ich?«
»Sie, Minifee, Sie könnten dort bei Hank liegen. Ich schätze mal, fünf Minuten früher, und Sie hätten den Mörder gesehen. Haben Sie Schritte gehört?«
»Nein. Die Heizung ist ziemlich laut.«
»Wie ein Güterzug. Diese alten Eisendinger halten ewig. Unsere Vorfahren haben erwartet, daß das, was sie konstruierten, von Dauer war. Jetzt reißen wir alles ab und errichten Bauwerke und Anlagen, die schon nach sieben Jahren verrotten.« Er drückte seine Zigarette im Aschenbecher aus. »Sollte keine Belehrung sein.«
»Das lenkt mich ab von. «
»Wenn ich Sie nach Hause fahre, gebe ich Ihnen die Namen von ein paar Leuten, mit denen Sie sprechen können, Leuten, die auf diese Art Schock spezialisiert sind. Es ist ein Schock, Bobby, und kommen Sie mir nicht mit dem blöden Männlichkeitsdünkel, allein damit fertig werden zu wollen.«
»Okay.« Seine Stimme klang matt.
»Haben Sie Hank Brevard gemocht?«
»Er war ein ewiger Besserwisser. Verstehen Sie? Einer von den Kerlen, die einen gern dumm dastehen lassen. Er wußte immer mehr als ich oder sonst wer. Ein ausgesprochen negativer Mensch.«
»Dann mochten Sie ihn also nicht?«
Bobby drehte sich zur Seite und sah Rick direkt an. »Komisch, aber ich mochte ihn. Ich dachte mir, das ist ein echter Verlierer. Etwa Mitte fünfzig, sauer auf Jungs, die sich hocharbeiten. Dauernd hat er mich wegen meinem Studium zusammengeschissen.« Bobby machte Hank nach:»>Ein Gramm Erfahrung ist so viel wert wie ein Pfund Bücher büffeln<. Irgendwie tat er mir Leid; er verstand ja wirklich was von seinem Fach, hatte alles im Griff und konnte so gut wie alles reparieren. Sogar Computer, dabei ist er kein Computerfreak. Er hatte einfach Talent.«
»Technischer Leiter eines Krankenhauses ist keine kleine Aufgabe.«
»Nein, aber weiter konnte er nicht aufsteigen.« Bobby seufzte.
»Vielleicht wollte er nicht.«
»Und ob er wollte. Sie hätten ihn mal hören sollen, wie er über die Gagen von Baseball- oder Basketballspielern gemeckert hat. Er fühlte sich mächtig geprellt.«
»Ganz schön scharfsichtig für einen jungen Mann.«
»Was hat das Alter damit zu tun?« Bobby drehte sich weg und sah aus dem Fenster. Die Nacht sah schwärzer aus als vorhin, als sie vom Krankenhaus losgefahren waren.
»Oh, vermutlich nichts. Ich bin's bloß gewöhnt, daß die Jugend egozentrisch ist. Sie müssen auch bedenken, was ich jeden Tag zu sehen kriege.«
»Ja, sicher.«
»Die anderen Männer, die bei Hank gearbeitet haben, denken die genauso wie Sie?«
»Ich mache Nachtschicht, kenne die andern nicht.«
»Könnten Sie sich irgend jemanden denken, der Hank umbringen wollte?«
»Er konnte die Leute wirklich vor den Kopf stoßen.« Bobby hielt kurz inne. »Aber so weit, daß man ihn umbringen könnte.« Er zuckte mit den Achseln. »Nein. Ich würde mich besser fühlen, wenn mir jemand einfiele.«
»Hören Sie. Wenn Sie an die Arbeit zurückkehren, zum ersten Mal wieder in den Heizungskeller gehen, wird Ihnen alles Mögliche durch den Kopf schießen. Manchmal entdeckt man eine verräterische Kleinigkeit. Rufen Sie mich an. Andererseits haben Sie vielleicht Angst um sich. Mir würde es so gehen. Meiner Erfahrung nach haben wir's hier nicht, mit einem wahnsinnigen Mörder zu tun. Verrückte haben ihre Handschrift. Das gehört für sie zum Spiel. Hank ist entweder dem Falschen in die Quere gekommen oder er hat jemanden überrascht.«
»Was könnte im Heizungskeller sein, wofür es sich zu töten lohnt?« »Es ist mein Job, das rauszukriegen.« Rick hielt vor Sam Mahanes großem, eindrucksvollem Heim in Ednam Forest, einer wohlhabenden Wohnsiedlung abseits der Route 250. »Bobby, kommen Sie mit mir rein.«
Die zwei Männer gingen zu der roten Tür mit dem eleganten Messingklopfer in der Mitte. Rick klopfte, dann hörte er im Hintergrund Kinder lärmen und lachen.
»Ich will aufmachen«, erklärte eine junge Stimme und schnelle Schritte waren zu hören.
»Ich bin dran«, rief eine andere Stimme, wiederum von Schritten begleitet.
Die Tür ging auf und zwei Jungen von sechs und acht Jahren blickten ehrfurchtsvoll zu dem Sheriff hoch.
»Mommy!« Der Jüngste huschte davon.
»Hi. Ich bin Sheriff Shaw und wir möchten zu Daddy. Ist er da?«
»Ja, Sir.« Der Achtjährige machte die Tür weiter auf.
Sally Mahanes erschien, eine gepflegte, sehr attraktive Frau Mitte dreißig. »Kyle, Schätzchen, mach die Tür zu. Hallo, Sheriff. Hallo, Bobby. Was führt Sie zu uns?«
Kyle stellte sich neben seine Mutter, indes sein jüngerer Bruder Dennis sich flach an die Tür zum Lesezimmer drückte.
»Ich hätte gern Sam gesprochen.«
»Er ist unten in seiner Werkstatt. Ich nenne sie das Tadsch Mahal. Er baut mir gerade ein Purpurschwalbenhaus und.« Sie lächelte. »Das müssen Sie nicht alles wissen, oder?« Sie ging hinter die Haupttreppe, öffnete eine Tür und rief: »Sam.« Musik plärrte die Treppe hoch. »Kyle, geh runter, Daddy holen, ja?« Sie forderte Rick und Bobby auf: »Kommen Sie ins Wohnzimmer. Kann ich Ihnen was zu trinken anbieten oder einen Happen zu essen?«
»Nein, danke.« Rick mochte Sally. Alle hatten sie gern.
»Nein, danke.« Bobby setzte sich auf die Kante eines mintfarbenen Ohrensessels.
Sam, zwanzig Jahre älter als seine Frau, aber topfit und gut aussehend, trat ins Wohnzimmer, sein ältester Sohn ging einen Schritt hinter ihm. »Sheriff. Bobby?« Er legte den Kopf schief. »Bobby, alles in Ordnung?«
»Äh, nein.« »Jungs, kommt nach oben.« Zögernd folgten die Jungen ihrer Mutter, Dennis blickte über die Schulter. »Dennis, komm jetzt.«
Sobald Rick die Kinder außer Hörweite glaubte, sagte er leise: »Hank Brevard ist im Heizungskeller des Krankenhauses ermordet worden. Bobby hat ihn gefunden.«
Wie vom Donner gerührt rief Sam: »Was?«
»Gleich nach Sonnenuntergang, nehme ich an.«
»Woher wissen Sie, daß es Mord war?« Sam hatte Mühe, das alles zu erfassen.
»Seine Kehle war von einem Ohr zum anderen glatt durchgeschnitten«, teilte Rick ihm ruhig mit.
Sam sah Bobby an. »Bobby?«
Bobby drehte die Handflächen nach oben, räusperte sich. »Ich bin vom vierten Stock mit dem Personalaufzug runter gefahren. Ich hab die Hotline nach Nachrichten abgehört. War nichts drauf. Dann wollte ich den Druck vom Heizkessel prüfen. Es soll kalt werden heute Nacht. Ich ging rein, und da lag Hank flach auf dem Rücken, die Augen starrten nach oben, und es klingt sicher irgendwie komisch, aber zuerst hab ich seine Wunde gar nicht bemerkt. Ich hab das Blut an der Wand gesehen, dachte, vielleicht hat er eine Farbdose geschmissen. Sie wissen ja, wie schnell er ausflippt. Und da muß mir wohl klar geworden sein, wie schlimm es war, und ich hab mich hingekniet. Dann sah ich seine Kehle. Ich hab seinen Puls gefühlt und dann den Sheriff angerufen.«
Rick unterbrach ihn. »Sam, ich hab ihn angewiesen, sonst niemanden anzurufen, nicht mal Sie. Ich war in fünf Minuten dort. Coop hat sieben gebraucht. Bobby hätte Sie angerufen.«
»Ich verstehe vollkommen. Bobby, es tut mir sehr Leid, daß Ihnen das passiert ist. Wir besorgen Ihnen eine Betreuung.«
»Danke.«
»Sam, die Leitung eines Krankenhauses ist ein Hochdruckjob. Ich weiß, Sie haben viel um die Ohren, 'n Haufen Personal, Baupläne für die Zukunft, aber Sie haben Hank ganz gut gekannt, nicht?«
»Na klar. Er war da, als ich die Leitung von Quincy Lowther übernahm. Hank war ein guter Techniker. Stur, aber gut.«
»Mochten Sie ihn?« »Ja.« Sams Miene wurde weich. »Wenn man Hank erst mal kannte, war er in Ordnung.« Eine Falte zeigte sich auf seiner Stirn, er beugte sich vor. »Haben Sie es Lisa schon gesagt?«
»Ein Beamter ist gerade zu ihr unterwegs.«
»Wenn Sie ihr keine Fragen stellen müssen, gehen Sally und ich zu ihr.«
»Pete wird die Routinefragen stellen, sofern sie in der Lage ist zu sprechen. Ich gehe morgen zu ihr. Sie wird bestimmt dankbar sein für Ihren Trost.« Rick würde sich nie an den Schmerz der Hinterbliebenen gewöhnen können. »Haben Sie eine Ahnung, wer Hank umbringen wollte und warum? Hatte er Spielschulden? Eine Affäre? Es liegt in der Natur des Menschen, Freunde und Angestellte zu schützen, aber alles, was Sie wissen, könnte mich zu seinem Mörder führen. Wenn Sie etwas zurückhalten, Sam, erkaltet die Spur.«
Sam faltete die Hände. »Rick, mir fällt absolut nichts ein. Bobby hat Ihnen gesagt, daß Hank leicht in Wut geriet, aber die kochte hoch und war gleich darauf vorbei. Wir haben das nicht so ernst genommen. Sofern er kein Geheimleben hatte, fällt mir wirklich niemand und nichts ein.«
Rick griff in seine Hemdtasche. »Hier. Sollte Ihnen etwas einfallen, sagen Sie's mir. Oder Coop. Wenn ich nicht da bin, wird sie das in die Hand nehmen.«
»Mach ich.« Sams Blick wanderte zu Bobby. »Nehmen Sie sich doch ein paar Tage Urlaub - bezahlten. Und« - er stand auf - »ich gebe Ihnen die Namen der Therapeuten.«
»Sam, gehen Sie nur zu Lisa. Ich gebe ihm die Namen.« Rick stand auf, Bobby ebenfalls.
»In Ordnung.« Sam brachte sie zur Tür.
Rick fuhr Bobby nach Hause, und als er in die Zufahrt seiner Mietswohnung einbog, fragte er: »Wer ist nachts für die Wartung zuständig?«
»Ich.«
»Und oben?«
»Sie meinen, wer für Sam einspringt?«
»Ja.«
»Meistens Jordan Ivanic, der stellvertretende Direktor.«
Rick knipste die kleine Deckenleuchte an, kritzelte ein paar Namen in seinen Notizblock, riß das Blatt heraus. »Kann nicht schaden.«
»Danke.« Bobby öffnete die Tür des Streifenwagens, stieg aus, beugte sich dann herunter. »Können Sie sich jemals daran gewöhnen?«
»Nein, nicht richtig.«
Auf dem Rückweg zum Krankenhaus rief Rick Coop an. Sie hatte Jordan Ivanic befragt. Viel hatte sie nicht zu berichten, allerdings sagte sie, er sei beinahe ohnmächtig geworden. Die Leiche sei vor dreißig Minuten fortgebracht worden und befinde sich jetzt auf dem Weg zum Leichenschauhaus. Der Gerichtsmediziner sei schon unterwegs, um sofort mit der Arbeit anzufangen. Sie habe Ivanic angewiesen, sich nicht von der Stelle zu rühren, bis Rick käme, und sie habe die Lokalredaktion der Zeitung noch nicht angerufen, werde es jedoch tun, sobald Rick sein Okay gebe. Wenn sie den Medien half, würden sie ihr ebenfalls helfen. Es war eine eigenartige, oft gespannte Beziehung, aber sie wußte, daß sie sich heute Abend mit den Medien gut stellen mußte.
»Gute Arbeit.« Rick seufzte am Autotelefon. »Coop, das wird eine lange Nacht.«
»Und das aus heiterem Himmel.«
»Tja.«