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Für Sheriff Rick Shaw und Polizistin Cynthia Cooper war die Woche die reinste Hölle. Die ballistische Untersuchung ergab, daß Larry Johnson mit einer Patrone aus einem Zwanzig-Kaliber-Jagdgewehr getötet worden war.

Während Rick im Laufe der Woche alle verhörte, die bei dem Jagd­treffen, bei den Ställen und in Larrys Patientenkartei gewesen waren, vertiefte sich Coop in die staatliche Computer-Datei über Zwanzig- Kaliber-Jagdgewehre.

Sechsundzwanzig Schußwaffen dieser Art waren in Albemarle County registriert, vom handgefertigten italienischen Modell zum Preis von 252.000 Dollar, das Sir H. Vane-Tempest gehörte, einem schwerreichen Engländer, der vor fünf Jahren nach Crozet gezogen war, bis zu der gewöhnlicheren Variante für 2789 Dollar, einem or­dentlichen Jagdgewehr des Herstellers Sturm & Ruger.

Coop suchte geduldig jeden Besitzer eines Jagdgewehrs auf. Nie­mand meldete eine Schußwaffe als gestohlen. Sie bat alle Besitzer, einer Untersuchung des Gewehrs zuzustimmen, um sehen zu können, ob kürzlich damit geschossen worden war. Alle waren einverstanden. Alle schrieben auf, wann sie ihr Gewehr das letzte Mal benutzt hat­ten. Sogar Vane-Tempest, ein Wichtigtuer, gegen den Coop eine starke Abneigung hegte, zeigte sich kooperativ.

Von den sechsundzwanzig Schußwaffen waren vier in jüngster Zeit benutzt worden, und jeder Besitzer gab bereitwillig zu Protokoll, wann und wo er seine Waffe benutzt hatte. Alle vier waren Mitglie­der des Kettle and Drum Gun Clubs. Cooper konnte bei keinem der vier eine Verbindung zu irgend jemand im Krankenhaus entdecken.

Da sie als Polizistin das Gesetz vertrat, rechnete sie damit, daß die Leute sie belogen. Sie wußte, daß sie mit der Zeit möglicherweise eine Verbindung finden könnte, aber sie wußte auch, daß die Chan­cen gering waren.

Die Waffe, die Larry getötet hatte, war höchstwahrscheinlich nicht registriert. Sie konnte vor Jahren gekauft worden sein, bevor die Registrierung in Amerika Vorschrift wurde. Sie hätte in einem ande­ren Staat gestohlen worden sein können. Könnte, sollte, würde - es machte Coop verrückt.

Rick und Coop studierten Patientenprotokolle, vertieften sich in Wartungsberichte, die Hank Brevard abgefaßt hatte. Sie verfolgten sogar die Lieferung einer Menschenniere bis in den Operationssaal hinein.

Der Tagesablauf im Krankenhaus wurde ihnen allmählich vertraut. Sie kannten die diversen Ärzte, Schwestern, Krankenpfleger und Sprechstundenhilfen. Die einzige Abteilung, die sie betroffen mach­te, war die von Tussie Logan. Der Anblick der unheilbar kranken Kinder trieb ihnen die Tränen in die Augen.

Als Rick ins Büro kam, fand er Coop über die Blaupausen des Krankenhauses gebeugt.

»Und?«, grunzte er, während er seine schwere Jacke ablegte und schnell die Zigaretten aus der Tasche zog. Er bot ihr eine an, die sie dankbar annahm. Er gab ihr Feuer, zündete dann seine Zigarette an. Beide inhalierten tief, entspannten sich darauf ein klein wenig.

Wohl wurden die Gefahren des Nikotins bekannt gemacht und kri­tisiert, aber das Vermögen der Droge, vorübergehend zu beruhigen, ließ nicht nach.

Coop zeigte mit der glühenden Spitze der Zigarette auf die Mitte der Blaupause. »Da.«

Rick stützte die Ellbogen auf den Tisch, um genau hinzusehen. »Was da? Sie sind wieder im Heizungskeller.«

»Dieser alte Trakt des Gebäudes. Achtzehnhunderteinunddreißig, hier, dieses alte Viereck. Der Heizungskeller und der eine Flur dahin­ter. Der Rest wurde neunzehnhundertneunundzwanzig angebaut. Und ist seitdem dreimal renoviert worden, richtig?«

»Richtig.« Er stemmte sein Gewicht auf die Ellbogen, und der Druck im unteren Rücken, der sich in der Kälte verspannt anfühlte, ließ nach.

»Der alte Trakt war ursprünglich als Kornkammer gebaut worden. Schwerer Steinbelag auf dem Boden, dicke Steinmauern, Balken aus ganzen Baumstämmen. Der ursprüngliche Bau wird Jahrhunderte überdauern. Ich habe darüber nachgedacht. Und dies habe ich über die Geschichte hier zusammenstoppeln können« - sie hielt inne, zog an ihrer Zigarette - »mit Hilfe von Herb Jones. Er ist ein großer Ge­schichtsfreak, also, er sagt, es gab immer Gerüchte, daß die Korn­kammer eine Zwischenstation der Underground Railroad war. Es konnte nie bewiesen werden, aber die Eigentümer, die Craycrofts, waren gegen die Sklaverei. Auf friedliche Weise zwar, aber sie sind dagegen angegangen. Doch wie Herb meint, wurde nie etwas bewie­sen, und die Craycrofts haben trotz ihres Widerstands gegen die Sklaverei auf Seiten der Konföderierten gekämpft.«

»Nun ja, dazu neigt man eben, wenn Leute in deinen Garten einfal­len.« Rick richtete sich auf.

»Die Cray crofts haben alles verloren, wie alle in dieser Gegend. Achtzehnhundertsiebenundsiebzig haben sie die Kornkammer an die Yancys verkauft. Herb sagte auch, daß die Kornkammer während des Krieges als Behelfslazarett diente, aber das gilt ja für alle Gebäude im Bezirk.«

»Ja, man hat die Verwundeten mit der Bahn von Manassas, Rich­mond, Fredericksburg gebracht. Gott, es muß furchtbar gewesen sein. Haben Sie gewußt, daß im Bürgerkrieg das erste Mal die Eisen­bahn eingesetzt wurde?«

»Ja, das wußte ich.« Sie zeigte wieder auf den Heizungskeller. »Wenn dies eine Zwischenstation der Underground Railroad war, dann muß es Geheimkammern geben. Ich bezweifle, daß es so etwas im neuen Trakt gibt.«

»Ab wann war die Kornkammer keine Kornkammer mehr?« Rick setzte sich; denn er merkte, daß er müder war, als er gedacht hatte.

»Neunzehnhundertelf. Die Krakenbills haben sie gekauft. Sie haben sie in gutem Zustand gehalten und als Heulager benutzt. Sie waren es, die sie an Crozet United, Incorporated, die Muttergesellschaft des Krankenhauses, verkauften. Es gibt Krakenbills in Louisa County. Ich habe mich mit Roger, dem Ältesten, in Verbindung gesetzt. Er sagte, er erinnert sich, daß sein Großonkel von der Kornkammer gesprochen hat. An viel mehr erinnert er sich nicht, aber auch er hat Geschichten von der Underground Railroad gehört.«

»Sie wollen darauf hinaus, daß der Ort von Hanks Ermordung wichtiger ist als wir dachten.«

»Ich weiß nicht. Chef, vielleicht klammere ich mich an Strohhalme, aber es sah nach einer hastigen Tat aus.«

»Tja.« Er atmete schwer aus und eine spiralförmige graublaue Rauchwolke ringelte sich aufwärts.

»Ich komme immer wieder darauf zurück, wie Hank ermordet wur­de und wo er ermordet wurde. Wäre es ein Rachemord gewesen, dann hätte der Mörder, wenn er nicht stockdoof war, sich einen besseren Ort ausgesucht. Hank bei der Arbeit umzubringen stellte ein großes Risiko dar - für einen Außenseiter. Für einen Eingeweihten, der die Abläufe und die Anlage des Krankenhauses kannte, hätte die Ermordung von Hank sowohl Zufallssache als auch Planung gewe­sen sein können. Das Risiko verringert sich. Die Art, wie er ermordet wurde, weist stark auf Kenntnis des menschlichen Körpers, auf Grö­ße und Kraft hin. Wer ihn getötet hat, mußte ihn lange genug festhal­ten, um ihm die Kehle von links nach rechts aufzuschlitzen. Hank war kein schwacher Mann.«

»Ich stimme Ihnen zu, außer in dem Punkt Kenntnis des menschli­chen Körpers. Die meisten von uns könnten eine Kehle aufschlitzen, wenn es sein mußte. Dazu muß man kein Chirurg sein.«

»Aber es war so exakt, eine saubere Wunde, in einem Zug ausge­führt.«

»Das könnte ich auch.«

»Ich weiß nicht, ob ich's könnte.«

»Wenn Ihr Opfer schwächer als Sie wäre oder irgendwie hilflos, dann könnten Sie ganz sicher einen sauberen Schnitt machen. Der Trick beim Aufschlitzen einer Kehle ist Schnelligkeit und Kraft. Wenn Sie zögern oder das Messer gerade reinstechen, statt von der Seite anzufangen, vermasseln Sie's. Ich hab die vermasselten Sachen gesehen.«

Ihre Lippen wurden schmal. »Ja, ich auch. Aber Chef, die Waffe war präzis, scharf.«

»Ein Laie könnte ein Messer präzise schleifen, aber ich garantiere Ihnen, wir haben es hier mit einem Eingeweihten zu tun; jemand hat ein großes Skalpell oder sonst was genommen und s-s-s-t. Es wäre ein Leichtes gewesen, das Instrument wegzuwerfen oder dorthin zu bringen, wo die chirurgischen Instrumente gereinigt werden. Das haben wir schon durchgesprochen.«

»Okay. Hier sind wir auf derselben Welle.« Sie streckte die Hände aus wie auf einem Surfbrett, was ihn erst zum Lachen brachte und dann zum Husten, weil er zu tief inhaliert hatte. Sie klopfte ihm auf den Rücken, dann fuhr sie fort: »Große Fuchsjagd auf Harrys Farm. Alle sind in Stimmung. Sie sichten den Fuchs. Der Fuchs kommt davon wie immer. Die Leute stehen zum Frühstück an wie zu einer Filmpremiere. Gott und die Welt ist da. Man kann sich kaum rühren, so voll ist es. Das Essen ist ausgezeichnet. Larry trinkt ein bißchen, wird ein bißchen laut und sagt, er will sich mit mir treffen. Es konnte nicht allzu viele Gründe für Larry geben, sich mit mir zu treffen. Ich bin keine Patientin. Der Gedanke liegt nicht fern, daß er mir was Berufliches mitzuteilen hatte. Meinen Beruf betreffend, meine ich. Aber es ist nicht so, daß es eine große Sache wäre. Er hat keine große Sache draus gemacht. Mindestens fünfzehn, zwanzig Leute in der Nähe des Tisches müssen ihn gehört haben. Aber wie gesagt, es schien keine große Sache zu sein. Seine Stimme klang nicht so ernst­haft. Allerdings, er kannte die Gegebenheiten genau. Er kannte die Leute, wußte vermutlich mehr, als ihm selber bewußt war. Ich will damit sagen, er kannte sein Metier schon so lange, daß er vergaß, wie viel er wußte. Eine Beobachtung von ihm war eine Menge mehr wert als eine Beobachtung von, sagen wir, Bruce Buxton, verstehen Sie?«

»Mehr oder weniger.«

»Ich glaube nicht, daß Larry wußte, was faul war im Crozet Hospi­tal. Jedenfalls noch nicht, aber unser Mörder fürchtete ihn, fürchtete, daß er schnell zwei und zwei zusammenzählen würde, sobald er wie­der nüchtern war. Was immer Larry beobachtet hat, unser Mörder hat dafür gesorgt, daß ich es nicht erfahre.«

Ricks Augen weiteten sich. »Unser Täter war im Zimmer, oder wenn er oder sie einen Komplizen hat, hätten sie sich telefonisch warnen können, daß Larry im Begriff war, die Katze aus dem Sack zu lassen.« Er zog an seiner Zigarette. »Wir wissen von der ballisti­schen Untersuchung und von der Eintrittsstelle der Patrone, daß der Täter ungefähr vierhundert Meter vom Stall entfernt flach auf dem Hügel lag.

Larry hat gar nicht gemerkt, was ihm passiert ist. Der Mörder schleicht vom Hügel für den Fall, daß jemand die Schüsse gehört hat. Er hatte verdammtes Glück, daß die Kids das Radio immer voll auf­drehen, aber womöglich hat er das gewußt. Vielleicht reitet er. Oder er gehört zum Jagdgefolge. Er wußte, wo Larry sein Pferd eingestellt hat.«

Coop fügte ihre Gedanken an. »Er schleicht den Hügel runter, steigt in seinen Personen- oder Lieferwagen oder was auch immer, und fährt weg, als die Sonne untergeht. Ich habe nach Spuren ge­sucht. Es sind zu viele. Nichts Eindeutiges. Ich habe trotzdem Ab­drücke nehmen lassen.«

»Gut gemacht.« Er verschränkte die Arme und biß sich kurz auf die Unterlippe. »Bleibt noch eine Sache.« »Was?«

»Der Angriff auf Harry.«

Er machte ein langes Gesicht, zog ein letztes Mal an seiner Zigaret­te, dann drückte er sie aus. Der Geruch nach Rauch und Teer stieg vom Aschenbecher auf. »Verdammt.« »Im Heizungskeller.«

Er blickte wieder auf die Blaupausen. »Verdammt!«

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