Miranda und Susan Tucker blieben noch da, um Harry beim Aufräumen zu helfen. Der letzte Gast war um sechs Uhr abends davon gewankt. Mildes Zwielicht hatte ihm den Weg gewiesen.
»Ich finde, das war das gelungenste Frühstück des ganzen Jahres. Dank an Sie.« Harry wischte die Arbeitsflächen der Küche ab.
»Wohl wahr«, stimmte Susan zu.
»Danke schön.« Miranda lächelte. Sie genoß es, Menschen eine Freude zu machen. »Als Ihre Eltern noch lebten, war dieses Haus immer voller Gäste. Ich erinnere mich an ein Apfelblütenfest. Meine Güte, der Koreakrieg war gerade vorbei und die Apfelbäume blühten wie noch nie. Ihr Vater fand, wir müßten das Ende des Krieges und die Blüten feiern, das ganze Tal war von dem Duft erfüllt. Er hat so gut wie alle Tische in Crozet erbettelt, entliehen und entwendet und sie unter den Bäumen vor dem Haus aufgestellt. Ihre Mutter hat Tischschmuck aus Apfelblüten und Iris gemacht, wunderschön. Onkel Olin, mein Onkel, er starb vor Ihrer Geburt, kam mit seiner Kapelle aus Winchester. Ihr Vater hat eine provisorische Tanzfläche gebaut, aus Einzelteilen zusammengesetzt. Ich glaube, ganz Crozet kam zu dem Fest, und wir haben die ganze Nacht getanzt. Onkel Olin spielte bis Sonnenaufgang, gut angeheizt von etlichen Nelson- County-Wässerchen.« Sie lachte, als sie den alten Virginia-Ausdruck für schwarzgebrannten Schnaps gebrauchte. »George und ich haben bis Sonnenaufgang getanzt. Das waren Zeiten.« Sie legte instinktiv die Hand aufs Herz. »Es tut gut, dieses Haus wieder voller Menschen zu sehen.«
»Die treten mir auf den Schwanz«, murrte Pewter, die von der umzäunten Veranda zu ihnen kam und, kaum zu glauben, schon wieder hungrig war.
Mrs. Murphy kicherte.»Weil er so dick ist wie der Rest von dir.«
»Katzen haben keine dicken Schwänze«, erwiderte Pewter hochmütig.
»Du schon«, lachte Murphy, dann sprang sie aufs Sofa, wälzte sich herum, alle viere in der Luft, und verdrehte den Kopf so, daß sie ihre graue Freundin im Blick hatte, die beschloß, sich an sie heranzupirschen.
Pewter duckte sich, schob sich vorwärts, und als sie beim Sofa ankam, wackelte sie mit dem Hinterteil, katapultierte sich in die Luft und auf die lauernde Murphy.
»Bonsai. Tod dem Kaiser!«, rief Pewter, die zu viele alte Filme gesehen hatte.
Die Katzen wälzten sich herum und plumpsten schließlich auf den Boden.
»Was ist denn in euch zwei gefahren?«, rief Harry lachend aus der Küche.
»Sie, ich habe Leute sagen hören, daß Tiere die Persönlichkeit ihrer Besitzer annehmen«, sagte Miranda mit blitzenden Augen.
»Tatsächlich?« Harry trat ins Wohnzimmer; die Katzen setzten ihren Ringkampf unter gespieltem Fauchen und Keuchen fort.
»Es muß stimmen, Harry. Du legst dich aufs Sofa und wartest, daß dich jemand bespringt.« Susan lachte.
»Witzig, haha. Klein, kläglich, aber nichtsdestoweniger ein Anflug von Humor.« Harry mochte es, wenn ihre Freundinnen sie aufzogen.
»Ist das wahr?« Miranda tat empört. »Sie sind eine Sexbombe?« Das Wort Sexbombe aus Mirandas Mund wirkte so unpassend, daß Harry und Susan in Lachen ausbrachen und sich nicht genau erklären konnten, warum.
Tucker, die im Flur vor dem Schlafzimmer tief schlief, hob langsam den Kopf, als die Katzen voneinander abließen, zu ihr liefen und aus beiden Richtungen über sie hinweg sprangen. Dann biß Pewter Tucker ins Ohr.
»Pewter, das war gemein.« Mrs. Murphy lachte.»Beiß auch ins andere.«
»Autsch.« Tucker schüttelte den Kopf.
»Kommt, ihr Faulpelze. Laßt uns was spielen. Und wißt ihr was, es sind noch Reste da«, meldete Pewter aufgeregt und leicht verzückt, ehe sie wieder ins Wohnzimmer stürmte, aufs Sofa sprang, sich von dort abstieß und wunderbarerweise tatsächlich dort landete, wo sie hinwollte, auf dem Bücherregal.
Mrs. Murphy folgte ihr. Sobald sie und Pewter auf demselben Bord waren, hatten sie eine schwerwiegende Entscheidung zu treffen: welche Bücher sie auf den Boden werfen sollten.
Harry, die ihre Absicht ahnte, lief zu ihnen. »Tut das ja nicht.« »Tun wir wohl.« Mrs. Murphy zog>Der achte Schöpfungstag< von Thornton Wilder heraus.
Es krachte.
»Du kriegst was auf die Pfoten.« Harry wollte ihre gestreifte Teufelin packen, die aber entwich ihr mühelos.
Pewter war so vernünftig hinunterzuspringen, aber nicht ohne einen silbernen Pokal runterzustoßen, den Harry vor Jahren bei einem Geländerennen gewonnen hatte. Weil der Katze das Klirren in den Ohren hallte, drehte sie sich herum, schlitterte um den Schaukelstuhl, stürmte in die Küche, wo Miranda die Reste des mit Honig geräucherten Schinkens mit Frischhaltefolie abdeckte, stibitzte ein Stückchen und duckte sich unter den Küchentisch, um es zu fressen.
»Ich habe alles gesehen.« Miranda schüttelte den Kopf.
»Wildfänge.« Susan kniete sich hin, als Tucker in die Küche spazierte. »Bist du nicht froh, daß du kein verrücktes Kätzchen bist?«
»Hat sich 'n Stück Schinken genommen«, stellte Tucker ernst fest.
Harry schaute sich prüfend im Haus um. »Alles wieder picobello.«
Mrs. Murphy gesellte sich zu Pewter unter dem Tisch.
»Ich geb dir nichts ab, hab 's ganz allein stibitzt, ohne deine Hilfe.«
»Hab keinen Hunger.«
»Lügnerin«, sagte Pewter.
Harry schaute unter den Tisch. »Radikal.«
»So sind wir eben«, schnurrte Murphy zurück.
Harry begutachtete den Schinken, bevor Miranda ihn in den Kühlschrank legte. »Sie hat hier ein Stück rausgebissen, ja?«
»Vor meinen Augen. Der kleine Wildfang.«
»Dann schneid ich das Stück am besten runter.« Harry hob die Folie an der Ecke an und schnitt das Stück ab. Sie teilte es in drei Happen, einen für jedes Tier. »He, will jemand Kaffee, Tee oder was Stärkeres? Kaffee ist noch da. Tee dauert eine Sekunde.«
»Ich hätte gern 'ne Tasse.« Miranda deckte die letzten Speisen mit Folie ab, dann nahm sie den irischen Tee heraus, den Harry für besondere Gelegenheiten aufbewahrte. »Wie wär's hiermit?«
»Meine Lieblingssorte.« Sie fragte Susan: »Was möchtest du?«
»Äh, ich trink den Kaffee aus und werde die ganze Nacht aufrecht im Bett sitzen. Das macht Ned wahnsinnig, aber mir ist gerade nach 'ner Tasse. He, eh ich's vergesse, ist das Opossum noch auf dem Heuboden?«
»Ja, wieso?«
»Ich hab Schokoladenbröckchen für ihn aufgehoben.«
»Das wird ihn freuen. Er ist ein Leckermäulchen.«
»Ich weiß nicht, wie Simon« - Mrs. Murphy nannte das Opossum mit seinem richtigen Namen -»Schokolade essen kann. Der Geschmack ist widerlich.«
»Ich finde ihn nicht übel.« Tucker verputzte ihren Schinken.»Allerdings sollten Hunde keine Schokolade essen. Aber sie schmeckt ganz gut.«
»Du bist ein Hund.« Murphy schüttelte den Kopf für den Fall, daß noch kleine Essensreste in ihren Schnurrhaaren hingen. Anschließend strich sie mit der Vorderpfote darüber.
»Und?«
»Du ißt alles, ob's gut für dich ist oder nicht.«
Tucker beäugte Mrs. Murphy, dann richtete sie ihre schönen braunen Augen auf Pewter.»Sie ißt alles.«
»Ich esse keinen Sellerie«, widersprach Pewter entschieden.
Wie die Tiere so plauderten auch die Menschen. Die Jagd war anregend gewesen, das Frühstück ein großer Erfolg, das Haus war aufgeräumt, die Stallarbeit erledigt. Sie saßen und sprachen Miranda und sich selbst zuliebe noch einmal alles durch, was sich bei der Jagd ereignet hatte. Dann erzählten sie sich gegenseitig, was sie auf der Frühstücksparty gesehen und gehört hatten. Sie lachten darüber, wer beschwipst gewesen war, wer wen beleidigt, wer mit wem geflirtet hatte (jeder mit jedem), wer es ernst nahm, wer nicht, wer ein Pferd zu verkaufen versucht (wiederum jeder), wer ein Pferd zu kaufen versucht hatte (die Hälfte der Anwesenden), wer versucht hatte, Miranda Rezepte zu entlocken, wer diverse Theorien über Hank Brevard von sich gegeben hatte und wer gut ausgesehen hatte und wer nicht.
»Ich hab gehört, daß nur zwanzig Personen auf Hanks Beerdigung waren.« Miranda bedrückte es, daß ein Mensch nicht beliebt genug war, um die Kirche zu füllen. Immerhin ist es sein letztes gesellschaftliches Ereignis.
»Wie ihr sät, so werdet ihr ernten.« Harry zitierte die Bibel nicht ganz korrekt, worauf die ältere Frau lächelte.
»Manche Menschen lernen es nie, mit anderen auszukommen. Vielleicht werden sie so geboren.« Susan gab jegliche Selbstbeherrschung auf und nahm sich das letzte Zimtteilchen mit Orangenglasur.
»Susan Tucker«, trällerte Harry.
»Ach, ich weiß«, kam die matte Antwort.
»Ihr habt gute Figuren. Kein Grund zur Sorge.« Miranda bückte sich, um Tucker den Kopf zu kraulen. »Ich frage mich, warum das so ist. Ich meine, wie kommt es, daß manche Menschen andere anziehen und andere es immer fertig bringen, ein falsches Wort zu sagen oder einem ein komisches Gefühl einzuflößen. Ich kann nicht ausdrücken, was ich meine, aber Sie verstehen doch, was ich sagen will?«
»Schlechte Ausstrahlung«, sagte Harry kurz und bündig und alle drei lachten.
»Schlechte Ausstrahlung mal beiseite - Little Mim hat sich mächtig ins Zeug gelegt. Sie will allen Ernstes Bürgermeisterin werden.« Susan war verblüfft, weil Little Mim noch nie ein Ziel im Leben gehabt hatte.
»Vielleicht wär's gut«, sagte Harry nachdenklich. »Vielleicht brauchen wir ein paar neue Ideen.«
»Aber wir können uns nicht gegen ihren Vater stellen. Er ist ein guter Bürgermeister und er kennt alle und jeden. Die Leute hören auf Jim.« Harry war gespannt, wie das ausgehen würde. »Ich sehe nicht ein, warum er sie nicht zur zweiten Bürgermeisterin ernennen kann.«
»Harry, den Posten gibt's nicht«, belehrte Miranda sie.
»Tja«, erwiderte sie. »Warum können wir ihn dann nicht schaffen? Egal, ob wir ihn jetzt als vollendete Tatsache verlangen oder den Stadtrat beauftragen, ein Referendum abzuhalten, es ist entschieden einfacher, als bis November zu warten.«
»Oh, Sie brauchen Jim Ihre Idee nur mitzuteilen und er wird Marilyn ernennen. Sie wissen, daß der Stadtrat ihn unterstützen wird. Außerdem möchte niemand zwischen Vater und Tochter die Fetzen fliegen sehen - nicht daß Jim kämpfen würde, das wird er nicht tun. Aber wir wissen alle, daß Little Mim kaum eine Chance hat. Ihre Lösung ist gut, Harry. Gut für alle. Der Tag wird kommen, da Jim nicht mehr Bürgermeister sein kann, und auf diese Weise hätten wir einen glatten Übergang. Sprechen Sie mit Jim Sanburne«, redete Miranda ihr zu.
»Vielleicht sollte ich zuerst mit Mim sprechen.« Harry leerte ihre Teetasse.
»Na ja«, sagte Susan, »aber dann hört Jim es zuerst von seiner Frau. Geh lieber zuerst zu ihm, weil er das gewählte Stadtoberhaupt ist, und dann gehst du noch am selben Tag zu ihr. So kann sie nicht richtig sauer werden.«
»Du hast Recht.« Mit entschlossener Miene kritzelte Harry die Idee auf ihre Serviette.
Das Telefon klingelte. Einen Moment rührte sich keine vom Platz.
»Ich geh ran.« Mrs. Murphy sprang auf die Anrichte, schlug den Hörer des Wandtelefons von der Gabel.
»Ihr neuester Trick.« Harry lächelte, stand auf und nahm den Hörer. »Hallo.« Sie lauschte. »Coop, das kann ich nicht glauben.« Sie lauschte wieder. »Ja, danke.« Sie wandte sich ihren Freundinnen zu, ihr Gesicht war kreidebleich. »Larry Johnson ist erschossen worden.«
»Oh mein Gott.« Miranda schlug die Hände vors Gesicht. »Ist er.?« Sie konnte es nicht aussprechen.