Der Zeiger der Waage blieb bei 22 Pfund, 160 Gramm stehen. Tom Yancy, der Gerichtsmediziner, nahm das Gehirn herunter. Sein Assistent notierte das Gewicht.
Rick und Coop waren bei so vielen Autopsien zugegen gewesen, daß sie nicht zimperlich waren, doch Rick war es zuwider, wenn der Gerichtsmediziner die Schädeldecke aufsägte. Von dem Geräusch der winzigen Blätter, die in den Knochen schnitten, und dem Geruch des Knochens wurde ihm übel. Alles Übrige machte ihm nichts aus. Den meisten Leuten wurde flau im Magen, wenn die Leiche von oben bis unten aufgeschnitten wurde, aber das konnte er ganz gut verkraften.
Sämtliche Organe wurden Hank Brevard entnommen.
»Die Leber ist ziemlich am Ende«, erklärte Tom. »Vom Saufen.«
»Komisch, ich habe ihn nie betrunken gesehen«, bemerkte Rick.
»Sicher, man kann auch ohne Alkohol einen Leberschaden haben, aber das hier ist Zirrhose. Er hat getrunken.«
»Vielleicht war er deswegen so eklig. Er war die meiste Zeit verkatert«, sagte Coop.
»Er war nicht gerade eine Lichtgestalt, was?« Tom stocherte um das Herz herum. »Sehen Sie. Das Herz ist disproportioniert. Die linke Seite mußte etwa halb so groß sein wie die rechte. Bei ihm ist sie kleiner. Er wäre wahrscheinlich eher früher als später umgekippt, weil seine Pumpe zu schwer gearbeitet hat. Jeder Körper hat seine Geheimnisse.«
Nach der Autopsie wusch Tom sich Gesicht und Hände.
»Das Ergebnis?«, fragte Rick.
»Ach ja. Da gibt's keinen Zweifel. Von links nach rechts, wie Sie festgestellt haben. Bis auf den Knochen. Der dritte Halswirbel wurde sogar von der Klinge eingekerbt, wie ich Ihnen gezeigt habe. War verdammt nahe dran, ihm den Kopf abzutrennen. Eine rasiermesserscharfe Klinge. War nichts Schluderiges oder Schartiges dran. Sehr saubere Arbeit.«
»Die Präzision eines Chirurgen.« Coop verschränkte die Arme. Sie wurde langsam müde und hungrig.
»Würde ich sagen, obwohl eine Menge Leute so einen Schnitt machen könnten, wenn das Werkzeug scharf genug ist. Die Menschen schlitzen sich seit Urzeiten gegenseitig die Kehlen auf. Darin sind wir richtig gut.« Tom lächelte gequält.
»Aber der Angreifer muß kräftig gewesen sein.« Rick konnte die chemischen Laborgerüche nicht ausstehen.
»Ja. Der Täter war ganz sicher keine Frau, es sei denn, sie macht Bankdrücken mit zweihundertfünfzig Pfund Gewichten, und manche tun's. Manche tun's. Doch der Beschaffenheit der Wunde nach war es jemand, der ein bißchen größer ist als Hank. Sonst wäre die Wunde ein Stückchen weiter unten gewesen, es sei denn, er zwang Hank auf die Knie, aber Sie sagten ja, am Tatort gab es keine Anzeichen eines Kampfes.«
»Nein.«
»Dann ist meine Vermutung, die sicher auch Ihre ist, daß der Mörder von hinten herankam, so groß wie Hank war oder größer, ihn am Mund gepackt und so schnell geschnitten hat, daß Hank kaum wußte, was ihm geschah. Ich nehme an, darin liegt ein Trost.«
»Wie lange hat es gedauert, bis er tot war?«
»Ungefähr zwei Minuten.«
»An geeigneten Messern dürfte im Krankenhaus kein Mangel herrschen«, meinte Coop.
»Oder an Menschen, die damit umgehen können.« Tom öffnete die Tür zum Flur.
Flammen tanzten hinter der Glasscheibe des rot emaillierten Holzofens. Tussie Logan legte in der Küche den Hörer auf. Als sie wieder ins Wohnzimmer kam, bemerkte Randy Sands, ihr Mitbewohner und bester Freund, ihr aschfahles Gesicht. »Was ist passiert?«
»Hank Brevard ist tot.«
»Herzinfarkt?« Randy stand auf, ging zu Tussie und legte ihr seinen Arm um die Schultern.
»Nein. Er wurde ermordet.«
»Was?« Randy ließ seinen Arm sinken, drehte sich zu ihr und sah sie an.
»Jemand hat ihm die Kehle aufgeschlitzt.«
»Großer Gott.« Er holte tief Luft. »So was Primitives.« Er ging wieder zum Sofa. »Komm, setz dich zu mir. Reden tut gut.« »Ich weiß nicht, was ich sagen soll.« Sie ließ sich neben ihn fallen, wodurch sich sein Kissen ein kleines bißchen hob.
»Wer hat dich eben angerufen?«
»Das war Debbie, Jordan Ivanics Sekretärin. Ich nehme an, wir werden alle nacheinander angerufen. Sie sagte, Sheriff Shaw oder Deputy Cooper würden uns befragen und.« Sie biß sich auf die Lippe.
»Er war nicht gerade der liebenswürdigste Mensch, aber trotzdem.« Er legte seinen Arm wieder um sie. »Es tut mir Leid.«
»Ich war erst kürzlich mit ihm im Postamt und er hat gemeckert und gestöhnt wegen der Spätschicht, weil jemand krank war oder so. Die meiste Zeit bin ich ihm über den Mund gefahren.« Sie atmete heftig ein. »Jetzt hab ich deswegen ein schlechtes Gewissen.«
Randy klopfte ihr auf die Schulter. »So waren doch alle zu ihm. Er war ein Langweiler.«
Ein Holzscheit knisterte im Ofen.
Tussie zuckte zusammen. »Man kann nie wissen. Wie banal.« Sie wiegte sich hin und her. »Wie schrecklich banal, aber wahr. Da arbeite ich mit hoffnungslos kranken Kindern im Krankenhaus. Ich meine, Randy, wir wissen, daß die meisten von ihnen nicht die geringste Chance haben, aber das hier erschüttert mich.«
»Mit unheilbar kranken Kindern arbeiten ist dein Beruf. Einen Kollegen, oder als was du Hank auch immer bezeichnest, zu haben ist was ganz anderes. ihn ermordet zu sehen, meine ich. Manchmal mach ich den Mund auf und kann meine Zunge nicht im Zaum halten«, entschuldigte er sich.
»Fängst einen Satz an und springst gleich zum zweiten, bevor du den ersten zu Ende gesprochen hast.« Sie lächelte traurig. »Randy, ich muß ins Krankenhaus zur Arbeit, und da läuft ein Mörder frei herum.« Sie schauderte.
»Das weißt du nicht. Es könnte im Affekt passiert sein.«
»Ein mordlustiger Verrückter geht ins Krankenhaus und sucht sich Hank aus.«
»Also« - sein Ton wurde leichter -, »du weißt, was ich meine. Es hat nichts mit dir zu tun.«
»Gott, das will ich hoffen.« Sie schauderte wieder und er klopfte ihr unaufhörlich auf die Schulter, ließ seinen Arm um sie gelegt.
»Dir wird nichts passieren.«
»Randy, ich hab Angst.«