27

Während die meisten Bewohner von Crozet den Abend in Bestür­zung und Tränen verbrachten, arbeiteten Sheriff Shaw und Cynthia Cooper wie besessen.

Sobald Larrys Leichnam auf den Ambulanzwagen geladen worden war, rasten Shaw und Cooper zu Sam Mahanes. Sie klopften an die Haustür.

Sally öffnete. »Sheriff Shaw, Coop, kommen Sie herein.« Sie konnten die Jungen oben im Badezimmer plantschen und quietschen hören.

»Verzeihen Sie die Störung, Sally, aber es ist wichtig.«

»Das weiß ich.« Sie lächelte unbefangen und zeigte ihre breiten, ebenmäßigen Zähne. »Er ist in seiner Werkstatt.«

»Dann gehen wir gleich runter.« Rick hatte die Hand schon am Türknauf.

»Tun Sie das.« Sie drehte sich um und eilte die Treppe hinauf, da der Geräuschpegel des Wassers sich demjenigen einer Flutwelle näherte.

»Sam«, rief Rick.

Über eine Werkbank gebeugt, in der Hand einen Lötkolben, been­dete der groß gewachsene Direktor eine schmale Naht, dann schaltete er das Gerät ab. »Rick, ich mußte das erst fertig machen, sonst wäre es ruiniert.«

Rick und Cynthia betrachteten den schmalen, mit Gold und Silber eingelegten Holzkasten.

»Schön.« Cynthia bewunderte seine Arbeit.

»Danke. Das hält mich fit.«

Rick sah sich in der Werkstatt um. Sam besaß das beste Holzbear­beitungs- und Lötwerkzeug und sogar eine kleine, sehr teure Steinsä­ge. »Hintertür?«

»Manchmal schleich ich mich rein, um den Jungs zu entkommen. Ich liebe sie, aber ich muß sie fern halten. Dennis ist in dem Alter, wo er alles anfassen will. Ich schließe die Tür ab. Wenn sie ein biß­chen älter sind, werde ich sie wohl mit mir arbeiten lassen.«

»Gute Idee.« Rick lächelte. Da es hier keinen Platz zum Sitzen gab, schlug er vor nach oben zu gehen.

Kaum hatten sie sich im Lesezimmer niedergelassen, als Rick auch schon zur Sache kam. »Sam, Larry Johnson wurde in Twisted Creek Stables ermordet. Man hat zweimal auf ihn geschossen.«

»Was?«

»Nachdem wir die Leiche und den Tatort untersucht hatten, bin ich gleich zu Ihnen losgefahren. Ich wollte mit Ihnen sprechen, bevor die Reporter bei Ihnen aufkreuzen.«

»Danke«, sagte Sam.

»Und ich wollte bei Ihnen sein, bevor Ihr Telefon heiß läuft.« Rick fiel auf, wie blaß Sam im Gesicht war; die erschütternde Nachricht hatte seine Wangen kreidebleich werden lassen. »Sagen Sie mir ehr­lich, Sam, wissen Sie, was in Ihrem Krankenhaus vorgeht? Irgendei­ne Ahnung?«

»Nicht die geringste. Mir kommt das alles sinnlos vor und - es hat vielleicht gar nichts mit dem Crozet Hospital zu tun.«

»Nein, aber ich muß in Betracht ziehen, daß Larrys Ermordung mit Vorgängen dort zusammenhängen könnte.«

Cynthia klappte unauffällig ihren Notizblock auf.

»Ja, natürlich.« Sam schluckte schwer.

»Wir haben an Schwarzhandel mit Organen gedacht.«

»Großer Gott, Rick, das kann nicht Ihr Ernst sein.«

»Ich muß an alles denken, für das es sich zu töten lohnt, und Geld spielt bestimmt die Hauptrolle.«

»Da werden keine Nieren und Lebern verkauft. Das würde ich wis­sen.«

»Sam, vielleicht nicht. Nur mal angenommen, Sie haben einen jun­gen Praktikanten, der die Hand aufhält. Ein Mensch stirbt - jemand in einigermaßen guter Verfassung -, der Praktikant bringt die Niere an sich, packt sie ein und schafft sie hinaus.«

»Aber wir haben Aufzeichnungen über Abholungen und Lieferun­gen. Außerdem bestehen Angehörige oft auf einer Autopsie. Wenn eine Niere fehlte, würden wir es merken. Die Angehörigen würden es erfahren. Es gäbe Zahlungen und Gerichtsverfahren bis in alle Ewig­keit.«

»Und wenn der für Autopsien Zuständige auch mit drinsteckt?«

Sam runzelte die Stirn und fuhr sich mit dem Zeigefinger über die Lippe. Eine nervöse Geste. »Je mehr Leute verwickelt wären, desto mehr Gelegenheit gäbe es für Fehler oder übles Gerede.«

»Sofern ein Ring existiert, wäre Hank Brevard an der richtigen Stelle gewesen, um den Profit einzustreichen. Er hätte Organe her­ausschaffen können, ohne daß es jemand mitkriegte.«

»Der Abholer würde es merken.«

»Der Abholer bekommt einen Anteil. Sie wissen nicht, wie viele Lieferwagen zum Hintereingang fahren oder vorne an die Laderampe kommen? Aber ich tippe auf den Hintereingang, weil er lediglich als Eingang für die Arbeiter dient. Da braucht einer bloß reinzukommen, zu Hanks Büro zu gehen oder wo immer die Organe gelagert werden, und wieder zu verschwinden. Sie könnten in einem Karton sein, drum rum ein Plastiksack mit Trockeneis - in allen möglichen unauf­fälligen Transportbehältern.«

»Hören Sie, Sheriff, wir wissen, wer in unseren Operationssälen ein und aus geht. Ich glaube, so was ist nicht möglich. Einfach nicht möglich.«

»Die Patienten sind tot, Sani. Man könnte sie in einer Besenkam­mer aufschneiden und zunähen oder in einer Badewanne. Man brauchte nichts weiter als Wasser, um das Blut abzuwaschen, dann steckt man die Leiche wieder in den Leichensack, Reißverschluß zu, und ab in die Pathologie - oder man könnte sie in der Pathologie aufschneiden.«

»In der Pathologie sind die Vorschriften genau so streng wie im Operationssaal. Sheriff, ich verstehe ja, daß Sie alle Aspekte erwägen müssen, aber das hier - einfach unmöglich.«

»Wie sieht's mit Betrug aus? Frisierten Rechnungen?«

Sam zuckte mit den Achseln. »Mit der Zeit würde auch das ans Licht kommen. Und wir haben kaum Klagen auf dem Gebiet - außer Aufschreie über Behandlungskosten. Nein, nein, Sie sind auf dem Holzweg.«

»Hat sich irgend jemand merkwürdig benommen? Ist Ihnen jemand besonders aufgefallen?«

»Nein.« Sam hielt wie flehend die Hände auf. »Abgesehen von Hank Brevards Tod, geht alles seinen gewohnten Gang. Ich wüßte nicht, daß sich jemand seltsam aufgeführt hätte. Bruce ist gehässig zu mir, aber das ist er immer.« Sam feixte verhalten.

Rick ließ nicht locker. »Gibt es andere Wege, sich gesetzwidrig Profit zu verschaffen - falls Sie diese Formulierung akzeptieren können? Etwas für Krankenhäuser Typisches, von dem Coop und ich womöglich keine Ahnung haben?«

»Medikamente. Drogen. Das liegt auf der Hand. Wir verwahren sie hinter Schloß und Riegel, aber eine clevere Oberschwester oder ein gewiefter Arzt können Mittel und Wege finden, um sie zu klauen.«

»Genügend, um viel Geld zu verdienen?«

»Wir würden es sicher bald merken, aber einen schnellen großen Coup könnte einer landen, ohne erwischt zu werden.«

»Glauben Sie, daß jemand vom Personal Drogen nimmt?« Ricks Gesichtsausdruck blieb gleichmütig.

»Ja. In einem Krankenhaus ist das gang und gäbe. Es dauert eine Weile, bis man sie erwischt, aber eine Schwester, ein Arzt oder ein Krankenpfleger nimmt schon mal Aufputsch- oder Beruhigungsmit­tel. Der Arzt schreibt falsche Dosierungen für einen Patienten auf. Auch das bleibt uns nicht verborgen, aber es dauert. Und ich beeile mich hinzuzufügen, daß es Teil unserer Kultur ist.«

»Wie oft ist das im Krankenhaus vorgekommen?«

Sam zögerte. »Ich finde, der Anwalt des Krankenhauses sollte bei diesem Gespräch dabei sein.«

»Um Himmels willen, Sam, Larry Johnson ist tot, und Sie sorgen sich um das Ansehen des Krankenhauses! Ich gehe hiermit nicht an die Presse, aber ich muß es wissen, und wenn Sie's mir nicht sagen, krieg ich's raus und befördere dabei noch andere Sachen ans Tages­licht. Das gibt einen Riesenrummel. Also, wie oft ist es vorgekom­men?«

»Letztes Jahr haben wir zwei Leute beim Klauen von Darvocet, Tabletten auf Kodeinbasis, und Quaaludes erwischt. Wir haben sie gefeuert und aus.« Er holte tief Luft. »Wie gesagt, Drogenmißbrauch ist so amerikanisch wie Apple Pie.«

»Wer einmal aus einem Krankenhaus geflogen ist, wird nie wieder in einem angestellt, es sei denn, er oder sie geht nach Honduras - hab ich Recht?«

»Und sie bekommen möglicherweise nicht mal in Mittelamerika Arbeit. Sie müßten irgendwohin gehen, wo Arbeitskräfte so knapp sind, daß sich niemand um Zeugnisse und dergleichen schert. Mit der Karriere ist's auf jeden Fall vorbei.« »Die vielen Jahre Medizinstudium, die Kosten - alles umsonst.« Rick faltete die Hände und beugte sich vor. »Weitere Möglichkeiten zu stehlen oder an Geld zu kommen?«

»O ja, Schmuck, Brieftaschen, Kreditkarten von Patienten.«

»Geräte?«

Sam atmete aus. »Nein. An wen sollten sie die verkaufen? Außer­dem würde uns das sofort auffallen.«

»War Hank Brevard ein guter technischer Leiter?«

»Ja. Das haben wir doch bereits durchgekaut. Er war gewissenhaft. Abgesehen von seiner Marotte, daß er was gegen neue Technologien hatte. Er wollte alles so machen, wie es immer gemacht worden war.«

»Sagen Sie, ist er während seiner Zeit am Crozet Hospital jemals abgemahnt worden?« Rick warf Coop einen Blick zu.

»Nein. Hm.« Sam drehte die Handflächen nach oben. »Ich habe mich regelmäßig mit ihm getroffen und ihn gebeten, er soll's, äh, leichter nehmen. Nein, Hank hat keinen Ärger gemacht.«

»Mal was von Affären gehört?«

»Hank?« Sams Augenbrauen schnellten in die Höhe. »Nein.«

»Glücksspiel?«

»Nein. Sheriff, das hatten wir schon.«

»Stimmt. War Larry Johnson irgendwann mal von der Rolle?«

»Wie bitte?«

»Hatten die Leute das Gefühl, er war zu alt, um zu praktizieren? Wurde er um der alten Zeiten willen geduldet?«

»Nein. Ganz im Gegenteil. Er war natürlich PA.« Sam kürzte Prak­tischer Arzt ab. »Daher war er kein Star in Weiß, aber er war ein guter, verläßlicher Arzt und immer offen für neue Behandlungsme­thoden, für den medizinischen Fortschritt. Er ist, ich meine war, ein bemerkenswerter Mensch.«

»Hätte er Drogen stehlen können?«

»Auf gar keinen Fall.« Sam hob die Stimme. »Niemals.«

»Sam, ich muß diese Fragen stellen.«

»Dieser Mann hat sich nichts zuschulden kommen lassen.«

»Dann muß ich vermuten, daß er dem Schuldigen - wer immer es sein mag - zu nahe gekommen ist.«

»Der Mord an Larry Johnson muß nichts mit dem Crozet Hospital zu tun haben. Sie ziehen vorschnelle Schlüsse.« »Vielleicht, aber sehen Sie, Sam, er war unser Mann für drinnen.« Die Farbe wich aus Sams Gesicht, als Rick fortfuhr: »Ich glaube, daß die Morde zusammenhängen und ich werde es beweisen.«

»Das hätten Sie mir sagen müssen.«

»Und wenn Sie mit drinstecken?«, sagte Rick frei heraus.

»Danke für den Vertrauensbeweis.« Sams Gesicht färbte sich rot und er unterdrückte seine Wut.

»Oder Jordan Ivanic. Er ist in einer Stellung, wo er alle Fäden in der Hand hat - entschuldigen Sie den abgedroschenen Ausdruck.«

»Jordan.« Sam schürzte die Lippen. »Nein. Der Mann hat keine Fantasie. Er macht alles genau nach Vorschrift.«

»Sie mögen ihn nicht?«

»Ach, er ist einer von den Menschen, die nicht selbstständig den­ken können. Er braucht ein Vorbild, eine Vorschrift, aber er ist ehr­lich. Wir stehen persönlich nicht auf bestem Fuß, aber Jordan ist kein Verbrecher.«

»Er hat in zwei Jahren drei gebührenpflichtige Verwarnungen we­gen überhöhter Geschwindigkeit bekommen. Er mußte von Staats wegen einen Fahrkursus absolvieren.«

»Deswegen ist er noch lange kein Verbrecher.« Sam war mit seiner Geduld am Ende.

»Wußten Sie von den Verwarnungen?«

»Nein. Sheriff, wieso sollte ich das wissen? Sie klammern sich an Strohhalme. Sie vermuten, mein Krankenhaus, und ich betrachte es alsmein Krankenhaus, ist eine Brutstätte des Verbrechens. Sie brin­gen zwei abscheuliche Morde in Zusammenhang, die vielleicht nichts miteinander zu tun haben. Und daß Larry Johnson Ihr Spion war, beweist noch lange nicht, daß seine Ermordung mit dem Kran­kenhaus zusammenhängt. Vielleicht hatte er ein Geheimleben.« Sams Augen funkelten vor Zorn.

»Ich verstehe.« Rick starrte einen Moment auf seine Schuhe, dann sah er Sam an. »Wie steht es im Krankenhaus mit der Tötung von Menschen aus Unachtsamkeit?«

»Das verbitte ich mir!«

»So was passiert.« Rick hob die Stimme. »Das passiert tagtäglich in ganz Amerika. Es muß auch in Ihrem Krankenhaus passiert sein.«

»Ohne Rechtsanwalt sage ich nichts mehr.« Sam straffte das Kinn.

»Na schön, Sam. Und engagieren Sie am besten gleich noch eine Werbeagentur; denn ich werde nicht eher ruhen, als bis ich alles he­rausgefunden habe, Sam, alles. Und das heißt, wer in Ihrem Kran­kenhaus getötet wurde, bloß weil irgendein Schwachkopf die Kurve abzulesen vergessen, die falschen Medikamente verabreicht oder der Anästhesist die Sache vermasselt hat. Auch im Crozet Hospital wird Mist gebaut!« Rick stand auf, sein Gesicht lief dunkelrot an. Coop stand auch auf. »Und ich krieg Sie dran wegen Behinderung eines Polizeibeamten an der Pflichtausübung!«

Rick stürmte hinaus und der wütende Sam blieb mit weit geöffne­tem Mund im Lesezimmer sitzen.

Coop rutschte vorsichtshalber hinters Steuer des Streifenwagens, bevor Rick es tun konnte. Sie hatte kein Bedürfnis, mit einem Kalt­start aus der Zufahrt der Mahanes zu schlittern und dann mit hun­dertdreißig Sachen die Straße entlang zu brettern. Rick fuhr ohnehin schon schnell; war er wütend, flog er förmlich.

Er schlug die Beifahrertür zu.

»Wohin?«

»Jordan Ivanic, verdammt noch mal. Vielleicht wird der gerissene Mistkerl uns was erzählen.«

Sie fuhr Richtung Krankenhaus, sagte nichts, weil sie den Chef kannte. Der Jammer über Larrys Tod hatte ihn überwältigt, und dies war seine Art, es zu zeigen. Zudem hatte er allen Grund fuchsteu­felswild zu sein. Jemand brachte Menschen um und ließ ihn wie ei­nen Trottel aussehen.

»Chef, der Fall ist eine harte Nuß. Seien Sie nicht so streng mit sich.«

»Klappe halten.«

»Klar.«

»Ich krieg Sam Mahanes. Ich werde ihn auf den elektrischen Stuhl bringen, werde ihn vierteilen. Patienten mußten wegen Dummheit sterben. So was passiert.«

»Ja, aber es ist Sams Job, den Ruf des Krankenhauses zu schützen. Ein, zwei Fehler zu vertuschen ist eine Sache, aber eine Flut von Fehlern zu vertuschen, das ist was anderes - und Larry würde es gemerkt haben, Chef. Ärzte mögen Geheimnisse vor Patienten und deren Angehörigen bewahren können, aber nicht vor den Kollegen. Nicht lange jedenfalls.« »Larry würde es gemerkt haben.« Rick zündete sich eine Zigarette an. »Coop, ich stecke fest. Wohin ich mich wende, ist eine Mauer.« Er schlug mit der Faust aufs Armaturenbrett. »Ich weiß, daß es mit dem Krankenhaus zu tun hat. Ich weiß es!«

»Jede Ihrer Ideen könnte jemanden zu einem Mord provozieren.«

»Wissen Sie, was mich wirklich quält?« Er wandte ihr das Gesicht zu. »Wenn es nun was ganz anderes ist? Etwas, was wir uns nicht vorstellen können?«

Kaum waren Rick Shaw und Cynthia Cooper aus der Zufahrt gebo­gen, als Sam Mahanes schnurstracks in seine Werkstatt ging und mit seinem Handy Tussie Logan anrief.

»Hallo.«

»Tussie.«

»Oh, hallo.« Ihre Stimme wurde sanft.

»Gut, daß Sie da sind. Haben Sie die schreckliche Nachricht über Larry Johnson schon gehört?«

»Nein.«

»Er wurde in Twisted Creek Stables erschossen aufgefunden.«

»Larry Johnson.« Sie konnte es nicht glauben.

»Hören Sie, Tussie, Sheriff Shaw und diese Bohnenstange von Po­lizistin werden das ganze Krankenhaus durchsuchen. Wir müssen es für eine Weile ruhen lassen.«

Es folgte eine lange Pause. »Verstehe.«

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