»Mutter, glaubst du wirklich, du kannst neutral bleiben?« Mim, lustlos und melancholisch, erwiderte: »Ich hab keine Wahl.«
»Du meinst, ich soll nicht gegen Dad antreten, stimmt's?«
»Ja.«
Ein schwacher roter Flecken erschien auf Little Mims Stirn, ein Anzeichen unterdrückter Wut. »Warum? Er ist lange genug Bürgermeister gewesen.«
»Schlafende Hunde soll man nicht wecken.« Die ältere Frau klopfte auf die Armlehne ihres Polstersessels; ein knisterndes Feuer im Kamin trug das Seine zu der warmen Atmosphäre im Salon bei.
»Auf diese Weise kommt es nie zu einer Veränderung.«
»Ach Marilyn, es kommt sogar zu Veränderungen, wenn du schläfst. Ich sehe einfach keinen Sinn darin, die Dinge aufzurühren. Dein Vater ist ein großartiger Bürgermeister und diese Stadt ist dank seiner Leitung aufgeblüht.«
»Und deines Geldes.«
»Das auch.« Mim sah aus dem Fenster. Tiefe graue Wolken zogen rasch von Westen heran.
»Du unterstützt mich nie.«
Ein Anflug von Verärgerung überzog Mims gleichmäßiges, hübsches Gesicht. »Ach? Du wohnst in einem schönen Haus, das ich dir zur Verfügung stelle. Du hast ein Auto, Kleider, Pferde, Schmuck. Nichts wird dir verweigert. Du hast die beste Ausbildung genossen, die man mit Geld kaufen kann. Und als du geheiratet hast, gab es, glaube ich, nur eine einzige Hochzeit, die noch prächtiger war, und zwar die von Grace Kelly und Fürst Rainier. Und als du dich scheiden ließest, haben wir uns damit abgefunden. Also, was ist das Problem?«
Mit einem Flunsch, kein attraktiver Zug an einer Mittdreißigerin, erhob Little Mim sich aus ihrem Sessel, der dem ihrer Mutter gegenüber stand, und ging zum Fenster. »Ich möchte etwas Eigenes tun. Ist das so schwer zu verstehn?«
»Nein. Such dir Arbeit.«
»Was für eine?« »Wie soll ich das wissen, Marilyn? Es ist dein Leben. Du bist begabt. Ich finde, du leistest großartige Arbeit beim Mitteilungsblatt des Jagdclubs, ehrlich.«
»Danke. Ein Sturm zieht auf.«
»Ja. Der Februar ist immer deprimierend.«
»Mutter.« Sie biß sich auf die Unterlippe, fuhr dann fort: »Ich habe keinen Lebenszweck.«
»Das tut mir Leid. Den kann dir niemand anderes verschaffen.«
Little Mim drehte sich zu ihrer Mutter um, die Arme verschränkt, und sagte: »Ich möchte etwas tun.«
»Wohltätigkeitsarbeit ist sinnvoll.«
»Nein. Das galt für deine Generation. Ihr habt geheiratet, und das war's.«
»Eine Ehe könnte deine Laune verbessern.« Ein kleines Lächeln huschte über Mims Lippen mit dem akkurat aufgetragenen mokkabraunen Lippenstift.
»Und was soll das heißen?«
»Daß wir dazu geschaffen sind, paarweise durchs Leben zu gehen. Wie die Tiere auf der Arche Noah, erinnerst du dich?«
Die jüngere Frau, hübsch und so gut gekleidet wie ihre Mutter, kam zurück und ließ sich anmutig auf ihrem Sessel nieder. »Ich würde gern wieder heiraten, aber Blair wird mir keinen Antrag machen. Er liebt mich nicht.«
»Ich bin froh, daß du das einsiehst. Außerdem ist er in seinem Beruf viel zu oft auf Reisen. Männer, die reisen, sind nicht treu.«
»Männer, die zu Hause bleiben, auch nicht.« Marilyn wußte über die Seitensprünge ihres Vaters genau Bescheid.
»Eins zu null für dich.«
»Verzeihung. Das war ein Tiefschlag.«
Mim strich ihren Rock glatt. »Die Wahrheit ist nicht angenehm, nicht?«
»Ich bin irgendwie nicht ganz bei mir. Immer wenn ich an Blair denke, macht mein Herz einen Sprung, aber wenn ich mit ihm zusammen bin,fühl ich mich nicht - ich fühl mich nichtdort. Da soll einer draus klug werden.«
»Jeder Mann, der so fantastisch aussieht, bringt dein Blut in Wallung. Das ist das Tier in dir. Wenn du mit ihm zusammen bist, fühlst du nichts, weil nichts aus seinem Inneren kommt. Hat ein Mann dich gern, begehrt er dich, dann fühlst du es. Es funkt.«
Die Tochter sah ihre Mutter an, Erkenntnis blitzte in ihren Zügen auf. »Richtig. Hast du das für Dad gefühlt?«
»Nach und nach. Ich habe deinen Vater lieben gelernt.«
»Du hast Larry immer geliebt, ja, Mutter?«
Da sie nie darüber gesprochen hatte, schwiegen sie verblüfft ein paar Augenblicke.
»Ja.«
»Es tut mir Leid, Mutter.« Marilyn meinte es ernst.
»Das Leben ist seltsam. Dies ist sicher kein tiefsinniger Gedanke, aber ich weiß nie, was von einer Minute zur nächsten geschehen wird, obwohl ich ein gut organisiertes Leben führe. Ich habe den Fehler gemacht, und ich erzähle dir das nur in der Hoffnung, daß du meine Fehler nicht wiederholst, Form über Inhalt, Erscheinung über Gefühle zu stellen. Ich war ein vollkommener Trottel.«
»Mutter.« Little Mim war erschüttert.
»Das Geld stellt sich einem in den Weg, Liebes. Und gesellschaftliche Ansprüche stumpfen einen ab. Ich muß es wissen, ich habe mein Leben damit verbracht, ihnen zu entsprechen, sie durchzusetzen.« Sie beugte sich vor, um die Lampe an ihrem Sessel anzuknipsen, da der Himmel sich verdunkelte. »Das wird heftig werden.«
»Die erste Schneeflocke.«
Beide verstummten und sahen zu, wie der Himmel sich auftat.
Schließlich sagte Mim: »Wenn du fest entschlossen bist, gegen deinen Vater anzutreten, dann tu's, aber überleg dir genau, was du als Bürgermeisterin wirklich willst. Wenn du gewinnst, halte dich an das, was du dir vorgenommen hast. Verlierst du, unterstütze deinen Vater.«
»Werd ich wohl.«
»Vielleicht gibt's noch einen anderen Weg. Ich weiß es nicht. Ich konnte in den letzten Tagen nicht klar denken.«
»Es ist schrecklich, daß Larry tot ist.« Marilyn hatte ihn geliebt wie einen gütigen Onkel.
»Furchtbar. Aus dem Leben gerissen. Er hatte so viel zu geben. Er gab so viel und jemand hat auf ihn gezielt. Ich glaube nicht, daß Rick Shaw auch nur eine einzige Spur hat.« »Sie haben das Ergebnis der ballistischen Untersuchung.« Marilyn bemühte sich zuversichtlich zu klingen.
»Was nützt das schon ohne den Finger, der den Abzug gedrückt hat.« Mims Augen trübten sich. »Wenn man älter wird, lernt man, daß es so etwas gibt wie einen schönen Tod. Larry hatte insofern einen schönen Tod, als es schnell ging. Und abgesehen von dem Schrecken, von einer Patrone getroffen zu werden, nehme ich an, daß er nicht gelitten hat. Er starb, wie er gelebt hat, bereitete niemandem Verdruß.«
»Ich habe nicht die leiseste Idee, du?«
»Leider nein. Wie oft hat man ein Vorgefühl, eine dunkle Ahnung, eine Intuition, was nicht stimmt oder wer was falsch macht. Ich hab das nicht. Ich würde alles darum geben, Larrys Mörder zu finden, aber wo soll ich suchen? Im Krankenhaus? Ein durchgeknallter Patient? Ich hab einfach kein Gespür dafür.«
»Ich glaube, das hat niemand, aber da du gerade das Krankenhaus erwähnst, wie findest du Bruce Buxton?«
»Arrogant.«
»Ist das alles?«
»Arrogant und gut aussehend. Gefällt dir das besser?«
»Er ist brillant. Das sagen alle.«
»Dann muß er es wohl sein.«
»Aber du kannst ihn nicht leiden, oder?«
»Nun ja, ich kann es nicht erklären, Marilyn. Und es ist auch nicht wichtig. Bist du an Bruce interessiert? Wenigstens reitet er einigermaßen. Du kannst unmöglich an einem Mann interessiert sein, der nicht reiten kann. Ein Grund mehr, weshalb Blair nichts für dich ist.«
Little Mim lachte, weil es stimmte. Reiter sollten keine NichtReiter heiraten. So eine Ehe ging selten gut. »Da ist was dran.«
»Bruce reitet wie die meisten Männer. Schenkeldruck, am Zügel reißen. Schenkeldruck, am Zügel reißen, aber mit ein paar Stunden Unterricht ließe sich das verbessern. Er will nicht grob sein und ist weniger grob als die meisten anderen. Frauen sind besser im Umgang mit Pferden. Das wird immer so sein.« Sie äußerte dies mit eiserner Überzeugung. »Frauen stellen achtzig Prozent des Jagdfeldes, aber nur zwanzig Prozent der Unfälle.«
»Harry reitet gut, oder?« »Ihr beide solltet bei unseren Wettkämpfen für Jagdpferde als Paar reiten.«
»Harry und ich stehen uns nicht nahe.«
»Ihr müßt euch nicht nahe stehen. Eure Pferde sind aus dem gleichen Stall.«
Dem folgte eine erschöpfende Diskussion über die Verdienste verwandter Reittiere, die mit der für Reiter typischen Begeisterung und tiefen Konzentration geführt wurde. Für jeden anderen wäre das Gespräch totlangweilig gewesen.
»Mutter.« Little Mim wechselte das Thema. »Würdest du Bruce wohl zu einer deiner berühmten Teegesellschaften einladen?«
»Ich kann die Ställe nicht sehen.« Mim blickte auf den dicht fallenden Schnee. »Eine Teegesellschaft?«
»Deine sind die besten. Auf deinen Partys ist immer was los. Ich wünschte, ich hätte deine Begabung.«
»Die könntest du haben, wenn du wolltest, Marilyn. Man lernt Feste zu geben wie man lernt sich anzuziehen. Oh, was habe ich Harry und Susan vor ein paar Tagen sagen hören? Die>Modepolizei<. Ja, die Modepolizei. Sie haben über Jordan Ivanics Krawatte gelacht und gemeint, er müßte von der Modepolizei verhaftet werden.«
»Harry in ihrem weißen T-Shirt, ihren Jeans und Gummistiefeln?«
»Ah, aber Marilyn, das paßt zu ihr. Es steht ihr gut und sie hat einen wunderbaren Körper. Ich wünschte, sie und Fair kämen wieder zusammen, aber wenn das Vertrauen einmal gebrochen ist, läßt es sich schwer wiederherstellen. Hm, eine Teegesellschaft? Du kannst es lernen.«
»Ich kann für das leibliche Wohl sorgen. Das werde ich tun. Kann bei alledem helfen, aber du hast das Talent, Menschen zusammenzubringen. Wie gesagt, Mutter, auf deinen Partys ist immer was los.«
»Wie Ulrich einmal über den Zaun setzte, über den Rasen galoppierte und über den Picknicktisch sprang, das werde ich nie vergessen.« Sie lächelte bei der Erinnerung an ein ungehorsames Pferd.
»Weißt du noch, wie Fair und Blair eine Schlägerei hatten und Herb Jones sie trennen mußte? Das war ganz schön aufregend.«
Mims Miene hellte sich auf. »Oder wie Tante Tally Ned Tucker ihren Stock über den Kopf knallte und wir Ned in die Notaufnahme bringen mußten.«
»Warum hat Tante Tally das getan?«
»Du warst damals elf, glaube ich. Dein Bruder Stafford war dreizehn. Ich sag dir warum. Ned war Vorsitzender der Republikanischen Partei des Bezirks geworden und Tante Tally war empört. Sie sagte ihm, Tucker sei ein alter virginischer Name und es gehöre sich nicht für ihn, sich für die Republikaner aufstellen zu lassen. Er könne die Republikaner wählen, aber nicht Mitglied sein. Das tue man einfach nicht. Und Ned, der eigentlich ein intelligenter Mensch ist, war dumm genug, sich auf einen Streit mit ihr einzulassen. Er sagte, Lyndon Johnson hätte den Süden an die Republikanische Partei übergeben, als er 1968 das Wahlrechtsgesetz unterzeichnete. Das war zu viel. Patsch!« Mim klatschte in die Hände. »Ich nehme an, Tante Tally wird auch diese Teegesellschaft in Schwung bringen. Wir setzen sie auf Sam Mahanes an, der entschieden zu ernst geworden ist.«
»Aus gutem Grund.«
»Er ist nicht der Einzige, der in Schwierigkeiten steckt. Also gut. Du kriegst deine Teegesellschaft. Wie wäre es mit heute in zwei Wochen? Am sechsten März.«
»Mutter, du bist wunderbar.«
»Nun übertreib mal nicht.«