Kapitel 8

Wir Zooleute sagen gern: Das gefährlichste Tier im Zoo ist der Mensch. Allgemein gesprochen meinen wir damit, dass die Unersättlichkeit des Raubtiers Mensch den ganzen Planeten zu seiner Beute gemacht hat. Im spezielleren Sinne denken wir dabei an jene, die den Ottern Angelhaken zu fressen hinwerfen, den Bären Rasierklingen, den Elefanten Äpfel, in die sie Nägel gesteckt haben, überhaupt Gegenstände aller Art: Kugelschreiber, Büroklammern, Sicherheitsnadeln, Gummiringe, Kämme, Teelöffel, Hufeisen, Glasscherben, Ringe, Broschen und anderen Schmuck (und nicht nur billige Ohrstecker, sondern goldene Eheringe), Strohhalme, Plastikbesteck, Tennisbälle, Federbälle und so weiter. Ein Nachruf auf Zootiere, die daran gestorben sind, dass Menschen ihnen solche Dinge gegeben haben, würde Gorillas umfassen, Bisons, Störche, Nandus, Strauße, Seehunde, Seelöwen, Großkatzen, Bären, Kamele, Elefanten, Affen und so ziemlich jede Art von Singvogel, Wild und Wiederkäuer. Jeder Zoowärter kennt die traurige Geschichte von Goliath, dem Seeelefanten, einem prachtvollen Tier von zwei Tonnen Gewicht; er war der Star seines Zoos in Europa, alle Besucher liebten ihn. Er starb an inneren Blutungen, weil jemand ihn mit einer zerbrochenen Bierflasche gefüttert hatte.

Oft ist die Grausamkeit aber auch aktiver, unmittelbarer. Die Fachliteratur ist voll von Berichten über die Grausamkeiten, die Zootieren angetan werden: ein Schuhschnabel, der am Schock starb, als jemand ihm mit dem Hammer auf den Schnabel schlug; ein Elchbulle, dem ein Besucher mit dem Taschenmesser den Bart samt fingerlangem Hautstreifen abschnitt (derselbe Elch wurde ein halbes Jahr darauf vergiftet); ein Affe, dem der Arm gebrochen wurde, als er nach hingehaltenen Nüssen griff; ein Angriff mit der Säge auf die Hörner eines Rehs, mit dem Schwert auf ein Zebra; weitere Angriffe auf weitere Tiere, mit Spazierstöcken, Regenschirmen, Haarnadeln, Stricknadeln, Scheren, allem Möglichen, meist in der Absicht, ihnen die Augen auszustechen oder die Geschlechtsteile zu verletzen. Tiere werden auch vergiftet. Dazu kommen die bizarreren Übergriffe: Onanisten, die Affen, Ponies oder Vögel besudeln; ein religiöser Eiferer, der einer Schlange den Kopf abschlägt; ein Irrer, der einem Elch ins Gesicht pinkelt.

In Pondicherry hatten wir eher noch Glück damit. Bei uns gab es keine Sadisten, wie sie in europäischen und amerikanischen Zoos ihr Unwesen trieben. Trotzdem wurde uns einmal ein Goldhase gestohlen (und landete, vermutete Vater, im Kochtopf). Viele Vögel - Fasane, Pfauen, Aras - mussten Federn an Leute lassen, die etwas von ihrer Schönheit mit nach Hause nehmen wollten. Einmal erwischten wir einen Mann, der mit einem Messer ins Gehege der Zwergböckchen klettern wollte; er erklärte, er wolle den bösen Geist Ravana bestrafen (der im Ramayana Hirschgestalt annahm, als er Sita, die Gemahlin Ramas, entführte). Einen erwischten wir beim Diebstahl einer Kobra. Er war ein Schlangenbeschwörer, dessen eigene Schlange gestorben war. Beide hatten Glück: der Kobra blieb ein Leben voller Erniedrigung und schlechter Musik erspart, dem Mann ein womöglich tödlicher Biss. Manchmal mussten wir Leute zurechtweisen, die mit Steinen warfen, weil die Tiere ihnen zu träge waren und sie wollten, dass sie etwas taten. Und dann war da die Frau, der ein Löwe den Sari auszog. Sie drehte sich wie ein Jojo, denn dem tödlichen Ende zog sie die tödliche Schande dann doch vor. Und es war nicht einmal ein Unfall gewesen. Sie hatte sich vorgebeugt und dem Löwen das Ende des Saris hingehalten; was sie damit bezwecken wollte, haben wir nie erfahren. Verletzt wurde sie nicht; zahlreiche Männer eilten begeistert zu Hilfe. Die verlegene Erklärung, die sie für Vater hatte, war: »Wer hat denn je gehört, dass Löwen Baumwollstoff fressen? Ich dachte, Löwen sind Fleischfresser.« Die meisten Sorgen machten uns Leute, die die Tiere fütterten. Auch wenn wir noch so auf der Hut waren, konnte Dr.Atal, unser Tierarzt, immer schon aus der Zahl der Fälle mit Verdauungsstörungen schließen, welches die gut besuchten Tage im Zoo gewesen waren. Die Gastritis und Enteritis, die von zu vielen Kohlehydraten, vor allem Zucker, herkam, nannte er die »Bonbonkrankheit«. Aber manchmal wünschten wir uns, die Leute wären bei Bonbons geblieben. Leute glauben, ein Tier könne alles fressen und es würde ihm überhaupt nichts ausmachen. Das stimmt nicht. Wir hatten einen Lippenbären, der eine schwere Darmentzündung mit inneren Blutungen bekam, nachdem ein Mann ihn mit verdorbenem Fisch gefüttert hatte; der Mann dachte allen Ernstes, er tue ihm etwas Gutes damit.

Gleich hinter dem Kassenhäuschen hatte Vater in leuchtend roten Buchstaben die Frage an die Wand malen lassen: WELCHES IST DAS GEFÄHRLICHSTE TIER IM Zoo? Ein Pfeil wies auf einen kleinen Vorhang. So viele gespannte, neugierige Hände griffen nach diesem Vorhang, dass wir ihn regelmäßig erneuern mussten. Dahinter war ein Spiegel.

Aber ich lernte schmerzlich am eigenen Leibe, dass es für Vater ein Tier gab, das sogar noch gefährlicher war als wir, und eines, das ähnlich weit verbreitet war, auf jedem Kontinent, in jedem Lebensraum: die unverwüstliche Spezies Animalus anthropomorphicus, das Tier durch menschliche Augen gesehen. Wir kennen sie alle, haben vielleicht sogar einmal eines besessen. Ein Tier, das »knuddelig« ist, »lieb«, »freundlich«, »treu«, eines, das bei uns »glücklich« ist, das uns »versteht«. Solche Tiere lauern in Spielzeugläden und im Streichelzoo. Unzählige Geschichten werden über sie erzählt. Sie sind das Gegenstück zu den »bösen«, »blutrünstigen«, »verkommenen« Tieren, die jene Irrsinnigen auf den Plan rufen, von denen ich eben gesprochen habe, diejenigen, die ihre eigene Bosheit mit Regenschirm und Spazierstock an ihnen auslassen. In beiden Fällen sehen wir ein Tier an und blicken in einen Spiegel. Der Wahn, mit dem wir uns in den Mittelpunkt der Welt stellen, macht nicht nur den Theo-, sondern auch den Zoologen das Leben schwer.

Dass ein Tier ein Tier ist, etwas anderes als wir, etwas, das sein eigenes Leben unabhängig von uns führt, das ist eine Lektion, die ich zweimal gelernt habe: einmal von meinem Vater und einmal von Richard Parker.

Es war an einem Sonntagmorgen. Ich spielte still, mit mir allein. Dann rief Vater.

»Kinder, kommt her.«

Da stimmte etwas nicht. Sein Ton ließ in meinem Kopf ein Alarmglöckchen klingeln. Ich überlegte, ob ich ein reines Gewissen hatte. Ich fand schon. Es musste wohl Ravi sein, der wieder etwas ausgefressen hatte. Ich überlegte, was es diesmal gewesen war. Ich ging ins Wohnzimmer. Mutter war da. Das war ungewöhnlich. Kinder bestrafen war genau wie die Tierpflege in der Regel Vaters Domäne. Ravi kam als Letzter, und sein Ganovengesicht war ein einziges Schuldbekenntnis.

»Ravi, Piscine, ihr sollt heute etwas sehr Wichtiges lernen.«

»Muss das denn wirklich sein?«, wandte Mutter ein. Ihr Gesicht war gerötet.

Ich schluckte. Wenn Mutter, die sich sonst durch nichts aus der Ruhe bringen ließ, so sichtlich besorgt, ja ängstlich war, dann mussten wir in ernsten Schwierigkeiten sein. Ravi und ich sahen uns an.

»Jawohl, das muss es«, antwortete Vater grimmig. »Es wird ihnen vielleicht einmal das Leben retten.«

Unser Leben retten! Inzwischen klang kein Glöckchen mehr in meinem Kopf - es war ein ganzes Geläute, wie wir es von der Herz-Jesu-Kirche hörten, nicht weit vom Zoo.

»Aber Piscine?«, fragte Mutter noch einmal. »Er ist doch erst acht.«

»Piscine macht mir die meisten Sorgen.«

»Ich habe nichts getan!«, platzte ich heraus. »Das war Ravi, ganz egal, was es war. Ravi war's!«

»Was?«, protestierte Ravi. »Überhaupt nichts habe ich getan.« Er starrte mich finster an.

»Ruhe!«, rief Vater und hob die Hand. Er sah Mutter an. »Gita, du siehst doch, wie Piscine ist. Er ist jetzt in dem Alter, in dem Jungs sich herumtreiben und überall ihre Nase hineinstecken.«

Ich ein Herumtreiber? Ein Nasen-Hineinstecker? Das ist nicht wahr, das ist nicht wahr! Mutter, verteidige mich, flehte mein Herz, steh mir bei! Aber sie seufzte nur und nickte, zum Zeichen, dass sie ihn gewähren ließ.

»Kommt mit«, sagte Vater.

Wir zogen los wie Gefangene zur Hinrichtung.

Vom Haus ging es durch das Tor zum Zoo. Es war früh am Tag, und der Zoo hatte noch nicht für das Publikum geöffnet. Wärter und Gärtner gingen ihrer Arbeit nach. Ich sah Sitaram, meinen Lieblingswärter, bei den Orang-Utans. Er hielt inne und sah zu, wie wir vorüberzogen. Wir kamen an Vögeln, Affen, Klauentieren vorbei, an den Terrarien, den Nashörnern, den Elefanten, den Giraffen.

Wir kamen zu den Großkatzen, unseren Tigern, Löwen und Leoparden. Babu, der Wärter, wartete schon auf uns. Wir nahmen einen Pfad nach hinten, und er schloss die Tür zum Raubtierhaus auf, das mitten auf einer von Wassergräben umgebenen Insel lag. Wir traten ein. Die große, finstere Betonhöhle, kreisrund, war warm und stickig, und es roch nach Katzenurin. Rundum erstreckten sich die großen Käfige, durch dicke grüne Eisenstäbe voneinander getrennt. Ein gelblicher Lichtschein drang durch die Dachfenster ein. Durch die Käfigausgänge konnten wir das sonnenbeschienene Buschwerk der umgebenden Insel sehen. Die Käfige waren leer - bis auf einen: Mahisha, der Patriarch unter unseren bengalischen Tigern, durfte noch nicht nach draußen. Als wir eintraten, kam er sofort an die Käfigstäbe, mit einem furiosen Fauchen, die Ohren angelegt, die runden Augen fest auf Babu geheftet. Er fauchte so laut und wütend, dass das ganze Raubtierhaus zu beben schien. Mir schlotterten die Knie. Ich drückte mich an Mutter. Auch sie zitterte. Selbst Vater brauchte einen Moment, bis er sich gefasst hatte. Nur Babu machte der Wutausbruch und der Blick, der ihn durchbohrte, nichts aus. Sein Vertrauen in die Eisenstangen war unerschütterlich. Mahisha ging nun in seinem Käfig auf und ab, immer bis an die Stangen.

Vater stellte sich vor uns hin. »Was für ein Tier ist das?« Er musste brüllen, damit wir ihn durch Mahishas Fauchen hören konnten.

»Ein Tiger«, antworteten Ravi und ich im Chor und bestätigten brav, was ja nicht zu übersehen war.

»Sind Tiger gefährlich?«

»Ja, Vater, Tiger sind gefährlich.«

»Tiger sind sehr gefährlich«, brüllte Vater. »Ihr müsst begreifen, dass ihr niemals - unter keinen Umständen - einen Tiger anfassen dürft; niemals dürft ihr ihn streicheln oder auch nur die Finger durch das Gitter stecken. Ist das klar? Ravi?«

Ravi nickte eifrig.

»Piscine?«

Ich nickte noch eifriger.

Trotzdem sah er mich weiter an.

Ich nickte mit solcher Vehemenz, dass ich mir schon ausmalte, wie im nächsten Moment mein Kopf abbrechen und zu Boden kugeln würde.

Ich möchte zu meiner Verteidigung anführen, dass ich zwar in Gedanken die Tiere mit menschlichen Eigenschaften ausstattete, bis sie das schönste Englisch sprachen - die Pfauen beschwerten sich wie britische Lords, dass ihr Tee zu kalt serviert werde, die Brüllaffen planten ihren Bankraub wie amerikanische Gangster im Film -, aber dabei nie aus den Augen verlor, dass es Phantasie war. Mit Absicht steckte ich diese wilden Tiere in selbst erfundene zahme Kostüme. Aber ich machte mir nichts vor-ich kannte die wahre Natur meiner Spielgefährten. Auch wenn ich angeblich die Nase überall hineinsteckte, war ich doch kein Dummkopf. Ich weiß nicht, wie mein Vater auf die Idee kam, sein jüngerer Sohn könne es gar nicht abwarten, zu einem gefährlichen Raubtier in den Käfig zu klettern. Aber wo immer er diese seltsame Sorge herhaben mochte - und Vater machte sich ja ständig Sorgen -, war er doch offensichtlich an jenem Morgen fest entschlossen, sich davon zu befreien.

»Ich werde euch zeigen, wie gefährlich Tiger sind«, fuhr er fort. »Ich will, dass ihr diese Lektion behaltet bis an euer Lebensende.«

Er sah Babu an und nickte. Babu ging hinaus. Mahishas Augen folgten ihm und blieben auf die Tür geheftet, durch die er verschwunden war. Ein paar Sekunden darauf kehrte er zurück, im Arm eine Ziege mit zusammengebundenen Beinen. Mutter hielt mich von hinten fest. Mahishas Fauchen wandelte sich zu einem Knurren in den tiefsten Tiefen seiner Kehle.

Babu schloss einen Käfig neben dem Tigerkäfig auf, öffnete die Tür, ging hinein, schloss die Tür und verschloss sie wieder. Stäbe und eine Schiebetür trennten die beiden Käfige. Sofort war Mahisha an den Trennstäben und versuchte die Pranke hindurchzustecken. Zu dem Fauchen stieß er nun auch noch schnaufende Laute aus, wie das Wuff eines Hundes. Babu legte die Ziege auf den Boden; ihre Flanken bebten, die Zunge hing ihr aus dem Maul, die Augen waren weit aufgerissen. Er band die Beine los. Die Ziege rappelte sich auf. Babu kam wieder nach draußen, nach derselben sorgfältigen Methode, mit der er den Käfig betreten hatte. Auf der Rückseite der Käfige, da wo es nach draußen auf die Insel ging, war der Fußboden etwa einen Meter höher als vorn, wo er auf derselben Höhe lag wie unser Boden draußen. Die Ziege erklomm diese zweite Etage. Mahisha, der nun nicht mehr auf Babu achtete, tat es ihr in seinem Käfig nach, in einer einzigen mühelosen, fließenden Bewegung. Er duckte sich und blieb dann still liegen; nur der langsam hin- und hergehende Schwanz zeugte von seiner Anspannung.

Babu ging an die Tür zwischen den beiden Käfigen und begann, sie aufzuziehen. In Erwartung seiner Beute verstummte Mahisha. Zwei Dinge hörte ich in der plötzlichen Stille - Vaters Worte »Vergesst diese Lektion niemals«, den Blick grimmig auf das Schauspiel geheftet; und das Meckern der Ziege. Sie musste schon die ganze Zeit geschrien haben, aber wir konnten sie nicht hören.

Ich spürte, wie Mutter mir die Hand auf mein pochendes Herz drückte.

Die Tür widersetzte sich mit einem schrillen Quietschen. Mahisha war außer sich - er sah aus, als würde er jeden Moment die Stäbe auseinander zwängen. Er schien hin- und hergerissen zwischen dem Impuls zu bleiben, wo er war - da wo er seiner Beute am nächsten war, sie aber nicht erreichen würde -, und jenem, zur weiter entfernten Tür im unteren Stock zu springen, die sich nun langsam öffnete. Er richtete sich auf und fauchte von neuem.

Die Ziege sprang in die Luft. Ich war überrascht - ich hatte keine Ahnung gehabt, dass Ziegen so hoch springen können. Aber auf der Rückseite des Käfigs war eine hohe, glatte Betonwand.

Plötzlich gab die Tür nach und öffnete sich. Wieder war alles still, nur das Meckern der Ziege und das Klicken der Hufe auf dem Boden waren zu hören.

Ein schwarz-orangefarbener Blitz schoss vom einen Käfig in den anderen.

In der Regel bekamen die Großkatzen einmal die Woche nichts zu fressen, was die Nahrungsverhältnisse in der Natur nachahmte. Später fanden wir heraus, dass Vater Anweisungen gegeben hatte, Mahisha schon seit drei Tagen nicht mehr zu füttern.

Ich weiß nicht mehr, ob ich das Blut spritzen sah, bevor ich mich in Mutters Arme flüchtete, oder ob ich es später in der Erinnerung dazumalte, mit breitem Pinsel. Aber die Ohren konnte ich nicht verschließen. Was ich hörte, versetzte mich in äußerste vegetarische Panik. Mutter scheuchte uns hinaus. Wir waren hysterisch. Sie kochte vor Wut.

»Wie kannst du so etwas machen, Santosh! Das sind Kinder! Die Angst werden sie ihr Leben lang nicht mehr los.«

Die Stimme war erregt und bebend. Ich sah die Tränen in ihren Augen. Gleich ging es mir besser.

»Gita, mein Täubchen, es ist doch zu ihrem Guten. Was wäre denn gewesen, wenn Piscine eines Tages die Hand durch die Gitterstäbe gesteckt hätte, weil er das schöne gelbe Fell streicheln wollte? Besser eine Ziege als er, oder nicht?«

Seine Stimme war leise, kaum mehr als ein Flüstern. Er sah zerknirscht aus. Noch nie hatte er sie in unserer Gegenwart »mein Täubchen« genannt.

Wir standen dicht an sie gedrängt. Er kam zu uns herüber. Das Schlimmste war überstanden, aber die Lektion war noch nicht vorbei.

Vater führte uns zu den Löwen und Leoparden.

»In Australien gab es einmal einen Verrückten, der hatte den schwarzen Karategürtel und dachte, er kann es mit den Löwen aufnehmen. Aber da hatte er sich verrechnet. Und zwar sehr. Am Morgen fanden die Wärter nur noch seine halbe Leiche.«

»Ja, Vater.«

Die Himalaja- und die Lippenbären.

»Ein Tatzenhieb von diesen putzigen Gesellen, und ihr könnt eure Eingeweide im ganzen Gehege einsammeln.«

»Ja, Vater.«

Die Flusspferde.

»Mit ihren lustigen Mäulern zerkauen sie eure Leiber zu Brei. Sie können schneller laufen als ihr.«

»Ja, Vater.«

Die Hyänen.

»Die kräftigsten Kiefer des Erdballs. Lasst euch nicht erzählen, sie wären feige oder fräßen nur Aas. Sie sind es nicht und sie fressen alles! Die haben schon die ersten Stücke von euch im Maul, noch bevor ihr tot seid.«

»Ja, Vater.«

Die Orang-Utans.

»Stark wie zehn Männer. Sie brechen euch die Knochen wie dürre Äste. Ich weiß, wir hatten ein paar davon im Haus, als sie noch klein waren, und ihr habt mit ihnen gespielt. Aber jetzt sind sie groß und wild und unberechenbar.«

»Ja, Vater.«

Der Vogel Strauß.

»Sieht aus wie eine Witzfigur, oder? Aber glaubt mir, kaum ein Tier im Zoo hier hat mehr Kraft. Ein Tritt, und er bricht euch das Rückgrat.«

»Ja, Vater.«

Die Rehe.

»Was für anmutige Geschöpfe, nicht wahr? Wenn der Bock sich bedroht fühlt, greift er an, und die kurzen Geweihspitzen durchbohren euch wie Dolche.«

»Ja, Vater.«

Das Dromedar.

»Ein Biss von seinem sabbernden Maul, und euch fehlt ein Stück Fleisch.«

»Ja, Vater.«

Die schwarzen Schwäne.

»Ein Schnabelhieb knackt euch den Schädel. Mit einem Flügelschlag brechen sie euch den Arm.«

»Ja, Vater.«

Im Vogelhaus.

»Mit diesen Schnäbeln beißen sie euch die Finger durch wie Butter.«

»Ja, Vater.«

Die Elefanten.

»Keiner ist gefährlicher. Mehr Wärter und Besucher kommen durch Elefanten um als durch jedes andere Zootier. Ein junger Elefant wird euch in Stücke reißen und dann die Einzelteile zertrampeln. So ist es einem Unschuldsengel in Europa gegangen, der durch ein Fenster ins Elefantenhaus geklettert war. Die älteren Tiere haben mehr Geduld. Sie drücken euch wahrscheinlich an die Wand, oder sie setzen sich auf euch. Hört sich lustig an - aber malt es euch aus!«

»Ja, Vater.«

»Wir sind nicht bei allen gewesen. Aber glaubt nicht, die anderen Tiere sind harmlos. Alles Leben verteidigt sich, egal wie klein es ist. Jedes Tier ist wild und mörderisch. Es wird euch vielleicht nicht umbringen, aber es wird euch in jedem Falle verletzen. Es wird kratzen und beißen, und was habt ihr davon? Eine eitrige, geschwollene Wunde, hohes Fieber, zehn Tage Krankenhaus.«

»Ja, Vater.«

Wir kamen zu den Meerschweinchen, den einzigen anderen-neben Mahisha-, die auf Vaters Geheiß am Vorabend nichts zu fressen bekommen hatten. Vater schloss den Käfig auf. Er zog eine Tüte mit Futter aus der Tasche und streute es auf dem Boden aus.

»Seht ihr die Meerschweinchen?«

»Ja, Vater.«

Die Ärmsten waren so ausgehungert, dass sie sich kaum auf den Beinen halten konnten, und stürzten sich gierig auf ihre Kornähren.

»Also die« - er beugte sich vor und nahm eins in die Hand -, »die sind nicht gefährlich.« Die anderen Meerschweinchen liefen sofort davon.

Vater lachte. Er gab mir das quiekende Meerschwein in den Arm. Die Lektion sollte auf einer heiteren Note enden.

Das Tier saß verschüchtert auf meinem Arm. Ein Junges. Ich ging zum Käfig und setzte es vorsichtig wieder ab. Sofort lief es zu seiner Mutter. Der Grund dafür, dass diese Meerschweinchen nicht gefährlich waren - dass sie nicht mit Zähnen und Krallen blutige Wunden schlugen -, war, dass sie so gut wie zahm waren. In der freien Natur ein Meerschwein mit der bloßen Hand zu fassen, das wäre, als ob man in die Klinge eines Messers fasst.

Der Unterricht war vorüber. Ravi und ich schmollten und sahen Vater eine ganze Woche lang nicht an. Auch Mutter ging ihm aus dem Wege. Als ich an der Rhinozerosgrube vorüber kam, hatte ich das Gefühl, die Nashörner sähen traurig aus, als vermissten sie den Gefährten, der sein Leben gelassen hatte.

Aber wenn man seinen Vater nun einmal liebt, was will man da machen? Das Leben geht weiter, und man nimmt sich in Acht vor Tigern. Ich selbst war ja ohnehin so gut wie tot, weil ich Ravi eines Verbrechens bezichtigt hatte, das gar nicht existiert hatte. Noch Jahre später, wenn er in der Stimmung war, mich zu quälen, flüsterte er mir zu: »Warte nur, bis wir zwei alleine sind. Die nächste Ziege bist du!«

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