Kapitel 84
Ich lag in eine Decke gehüllt auf der Plane und schlief, träumte, wachte auf, hing Tagträumen nach und verdöste einfach nur die Zeit. Es wehte ein steter Wind. Hin und wieder wurde etwas Schaum von einem Wellenkamm geblasen und spritzte auf das Boot. Richard Parker war unter der Plane verschwunden. Er mochte es nicht, wenn er nassgespritzt wurde, ebenso wenig wie das Schaukeln des Bootes. Aber der Himmel war blau, die Luft warm, und die Wellen bewegten sich gleichmäßig. Ich erwachte von einem lauten Schnauben. Ich schlug die Augen auf und sah Wasser am Himmel. Es fiel klatschend auf mich herab. Ich sah nochmals nach oben. Der Himmel war blau und wolkenlos. Dann ein weiteres Schnauben zu meiner Linken, nicht ganz so laut wie beim ersten Mal. Richard Parker knurrte bedrohlich. Wieder klatschte Wasser auf mich nieder. Es roch unangenehm.
Ich schaute über den Bootsrand. Das Erste, was ich sah, war ein großes schwarzes Etwas, das im Wasser schwamm. Ich brauchte ein paar Sekunden, bis ich erkannte, was es war. Eine bogenförmige Falte am Rand brachte mich auf die richtige Idee. Es war ein Auge. Was dort schwamm, war ein Wal. Sein Auge war so groß wie mein Kopf, und es starrte mich unverwandt an.
Richard Parker kam unter der Plane hervor. Er fauchte. Aus einem leichten Glitzern im Auge des Wals schloss ich, dass er jetzt Richard Parker musterte. Etwa eine halbe Minute lang betrachtete er ihn, dann sank der Wal ganz langsam hinab in die Tiefe. Ich machte mir Sorgen, dass er uns mit seiner Schwanzflosse treffen könne, aber er tauchte einfach unter und verschwand. Der Schwanz war bald kaum noch zu erkennen; er sah aus wie eine riesige geschwungene Klammer.
Ich glaube, der Wal war auf der Suche nach einem Gefährten. Er muss zu dem Schluss gekommen sein, dass ich nicht die richtige Größe hatte. Außerdem hatte ich ja offenbar schon Gesellschaft.
Wir begegneten einer Reihe von Walen, aber keiner kam uns je wieder so nah wie der erste. Wenn sie sich näherten, bemerkte ich es an ihren Wasserfontänen. Sie tauchten nicht weit von uns auf, manchmal drei oder vier auf einmal - ein kurzlebiger Archipel mit Geysiren darauf. Diese sanften Riesen munterten mich jedes Mal auf. Ich war sicher, dass sie meine Lage verstanden, dass einer von ihnen bei meinem Anblick ausrief: »Ach! Da ist ja der Schiffbrüchige mit dem Kätzchen, von dem Bamphoo mir erzählt hat. Der arme Junge. Hoffentlich hat er genug Plankton. Ich muss Mamphoo und Tomphoo und Stimphoo von ihm erzählen. Vielleicht ist ja ein Schiff in der Nähe, das man alarmieren könnte. Seine Mutter wäre sicher glücklich, wenn sie ihn wiederhätte. Leb wohl, mein Junge. Ich werde sehen, was ich tun kann. Mein Name ist Pimphoo.« Und so kannten mich alle Wale im Pazifik vom Hörensagen, und ich wäre längst gerettet worden, hätte nicht Pimphoo ausgerechnet bei einem japanischen Schiff Hilfe gesucht, dessen heimtückische Mannschaft sie abschlachtete, und nicht besser erging es Lamphoo, die einem Norweger zum Opfer fiel. Gibt es ein abscheulicheres Verbrechen als den Walfang?
Delphine kamen recht regelmäßig zu Besuch. Einmal begleitete uns eine Gruppe einen ganzen Tag und eine Nacht lang. Sie waren sehr munter. Ihre Sprünge und Saltos und Wettrennen knapp unter dem Bootsrumpf unternahmen sie offenbar allein zu ihrem Vergnügen. Ich versuchte, einen zu fangen. Aber keiner kam nah genug an den Fischhaken heran. Und selbst wenn - sie waren viel zu schnell und zu groß. Ich gab es auf und sah ihnen einfach nur zu.
Insgesamt sah ich sechs Vögel. Ich hielt jeden von ihnen für einen Engel, der die Nähe von Land verkündete. Aber es waren Seevögel, die den Pazifik fast ohne einen Flügelschlag überqueren konnten. Ich beobachtete sie voller Ehrfurcht, doch auch voller Selbstmitleid.
Zweimal sah ich einen Albatros. Beide segelten in großer Höhe vorüber und nahmen keine Notiz von uns. Ich starrte ihnen mit offenem Munde nach. Es war etwas Übernatürliches, Unbegreifliches um sie.
Ein andermal flogen zwei Sturmschwalben ganz nah am Boot vorüber, so niedrig, dass ihre Füße die Wellen berührten. Auch sie schenkten uns keine Beachtung und ließen mich ebenso staunend zurück.
Schließlich erregten wir die Aufmerksamkeit eines Sturmtauchers. Er kreiste über uns und stieß dann hinab. Er steckte die Beine nach vorn, drehte die Flügel zum Landen und schwamm leicht wie ein Korken auf dem Wasser. Dabei musterte er mich mit neugierigen Blicken. Ich steckte rasch ein Stückchen Fisch als Köder auf einen Angelhaken und warf die Angelschnur in seine Richtung. Ich hatte keine Gewichte an der Schnur befestigt, und es war schwer, den Haken weit genug zu werfen. Beim dritten Versuch schwamm der Vogel zu dem sinkenden Köder und tauchte den Kopf ins Wasser, um danach zu schnappen. Mein Herz hämmerte vor Erregung. Ich wartete einige Sekunden, bevor ich an der Schnur zog. Doch als ich es tat, antwortete der Vogel nur mit einem Kreischen und würgte den Köder wieder heraus. Und noch ehe ich einen neuen Versuch unternehmen konnte, breitete er die Schwingen aus und erhob sich in die Lüfte. Mit zwei, drei Flügelschlägen nahm er seine Reise wieder auf.
Mehr Glück hatte ich mit einem Tölpel. Er tauchte wie aus dem Nichts plötzlich auf, schwebte auf uns zu, mit einer Flügelspannweite von gut einem Meter, und landete auf dem Bootsrand - so nah, dass ich ihn mit Händen greifen konnte. Seine runden Augen musterten mich mit verblüfftem, ernsthaftem Blick. Er war ein großer Vogel mit schneeweißem Gefieder, nur die Flügel hatten pechschwarze Spitzen und Ränder. An dem großen, runden Kopf saß ein extrem spitzer, orangegelber Schnabel, und mit den roten Augen hinter der schwarzen Maske sah er aus wie ein Dieb nach einer langen Nacht. Nur die zu groß geratenen Schwimmfüße passten nicht recht zu seiner Erscheinung. Der Vogel zeigte überhaupt keine Scheu. Minutenlang zupfte er mit dem Schnabel an seinen Federn, sodass man die weichen Daunen darunter sehen konnte. Als er damit fertig war, hob er den Kopf und sah wieder aus wie neu: ein elegantes aerodynamisches Luftschiff. Als ich ihm ein Stückchen Doradenfleisch hinhielt, pickte er es mir aus der Hand, und sein Schnabel berührte meine Handfläche.
Ich brach ihm das Genick, indem ich seinen Kopf wie einen Hebel nach hinten bog: Mit einer Hand drückte ich den Schnabel nach oben, die andere umschloss den Hals. Die Federn saßen so fest, dass sich beim Versuch, sie herauszuziehen, die Haut mit ablöste - ich rupfte den Vogel nicht, ich riss ihn in Stücke. Er war ohnehin sehr leicht, ein Körper ohne Gewicht. Also nahm ich das Messer und häutete ihn. Trotz seiner Größe hatte er enttäuschend wenig Fleisch, nur ein bisschen an der Brust. Es war zäher als das Fleisch der Doraden, aber ich fand, dass es kaum anders schmeckte. Im Magen des Vogels fand ich außer dem Stückchen Dorade, das ich ihm gerade gegeben hatte, drei kleine Fische. Nachdem ich die Verdauungssäfte abgespült hatte, aß ich sie. Ich aß Herz, Leber und Lungen des Vogels. Ich spülte seine Augen und Zunge mit einem Schluck Wasser hinunter. Ich zertrümmerte den Kopf und löste das kleine Gehirn heraus. Ich aß die Schwimmhäute an seinen Füßen. Der Rest war nichts als Haut, Knochen und Federn. Ich warf ihn über den Rand der Plane hinunter zu Richard Parker, der die Ankunft des Vogels nicht bemerkt hatte. Eine orangefarbene Pranke griff danach.
Tage später wirbelten immer noch Federn und Daunen aus Richard Parkers Unterschlupf und wurden aufs Meer hinaus getragen. Wenn sie im Wasser landeten, schnappten die Fische danach.
Ein Vogel, der Land verkündet hätte, kam nie.