Kapitel 51

Doch das eine, das ich suchte, fand ich bei dieser ersten Musterung des Bootes nicht. Nirgends in Heckund Seitenbänken war eine Fuge zu sehen, und auch die Seiten der Schwimmtanks waren glatt. Der Schiffsboden war flach, unter den Brettern konnte nichts sein. Ich war mir sicher: Nirgends verbarg sich eine Klappe oder Kiste oder sonst ein Behältnis. Alles war glatte, gleichmäßige, orangefarbene Oberfläche.

Allmählich verlor ich das Vertrauen in Kapitäne und Schiffsausrüster. Meine Hoffnung auf Überleben schwand. Mein Durst blieb.

Und wenn die Vorräte im Bug waren, unter der Plane? Ich machte kehrt und kroch zurück. Ich kam mir vor wie eine von der Sonne verdorrte Eidechse. Ich versuchte, unter der Plane etwas zu ertasten. Sie war fest gespannt. Wenn ich sie aufrollte, bekam ich Zugang zu dem, was darunter verstaut sein mochte. Doch damit rollte ich auch das Dach von Richard Parkers Höhle auf.

Mir blieb keine andere Wahl. Der Durst trieb mich weiter. Ich zog das Ruder unter der Plane hervor. Ich legte mir den Rettungsring um. Das Ruder legte ich quer über den Bug. Ich lehnte mich über den Bootsrand und drückte mit beiden Daumen das Seil, mit dem die Plane gehalten war, von einem der Haken. Es war schwere Arbeit. Aber beim zweiten und dritten ging es schon leichter. Diese Prozedur wiederholte ich dann auf der anderen Seite des Bugs. Die Plane gab unter meinen Ellbogen nach. Ich lag flach darauf, mit den Beinen zum Heck.

Ich rollte sie ein kleines Stück von vorn her auf, und gleich wurden meine Mühen belohnt. Der Bug war genauso gebaut wie das Heck, auch hier eine Bank in der Spitze. Nur dass in dieser Bank ein Schnappschloss funkelte wie ein Edelstein. Ich sah die Umrisse einer Klappe. Mein Herz schlug schneller. Ich rollte die Plane noch ein Stück weiter auf. Ich blickte nach unten. Der Deckel war dreieckig, nur mit abgerundeten Ecken, neunzig Zentimeter breit, sechzig tief. Plötzlich erblickte ich etwas Orangefarbenes. Ich fuhr zurück. Aber das Orange regte sich nicht und war auch nicht ganz der richtige Ton. Ich sah noch einmal hin. Es war kein Tiger. Es war eine Schwimmweste. Mehrere solcher Westen lagen am Hinterende von Richard Parkers Höhle.

Ein Schauder überlief mich. Zwischen den Schwimmwesten konnte ich wie durch die Blätter eines Baums meinen ersten eindeutigen, unmissverständlichen Blick auf Richard Parker werfen. Ich sah seine Hinterbacken und ein Stück von seinem Rücken. Gelbbraun und gestreift und unglaublich groß. Er lag mit dem Kopf zum Heck, flach auf dem Bauch. Er lag unbewegt, nur die Flanken hoben und senkten sich. Ich kniepte mit den Augen, als wolle ich es nicht glauben, wie nahe er war. Aber da lag er, einen halben Meter unter mir. Wenn ich mich gereckt hätte, hätte ich ihm in den Po kneifen können. Und zwischen uns nichts als eine dünne Plane, die nicht das geringste Hindernis für ihn war.

»Der Herr stehe mir bei!« Kein Gebet wurde je inbrünstiger gesprochen und doch leiser gehaucht. Ich lag regungslos.

Ich brauchte das Wasser. Ich langte hinunter und zog leise den Riegel zurück. Ich klappte den Deckel auf. Darunter war ein Stauraum.

Ich habe vorhin von Kleinigkeiten gesprochen, die plötzlich lebenswichtig werden. Hier war eine davon: Das Scharnier des Deckels lag vielleicht zwei Zentimeter von der Kante der Bugbank, zur Bootsmitte hin - das heißt, wenn ich ihn aufklappte, bildete er eine Barriere, die jene dreißig Zentimeter abschloss, die zwischen Plane und Bank offen waren und durch die Richard Parker kommen konnte, wenn er die Schwimmwesten beiseite geschoben hatte. Der vorgeklappte Deckel wurde von dem Ruder gehalten, das ich oben quer auf die Plane gelegt hatte. Ich kroch nach vorn, den Blick zum Boot gewandt, den einen Fuß auf der Kante des Stauraums, den anderen gegen den Deckel gedrückt. Wenn Richard Parker mich unter Deck angreifen wollte, musste er sich gegen diesen Deckel stemmen. Das würde mich warnen und mir sogar den entscheidenden Stoß geben, um mich mit meinem Ring rücklings ins Meer zu retten. Wenn er den anderen möglichen Angriffsweg wählte, von oben über die Plane, auf die er vom Heck aus kletterte, würde ich ihn früh genug sehen und ebenfalls ins Wasser springen. Ich sah mich um. Kein Hai ließ sich blicken.

Nun konnte ich nachsehen, was sich in dem Versteck befand. Mir schwanden fast die Sinne vor Glück. Unter der Klappe glitzerten die wunderbarsten fabrikneuen Sachen. Industriegüter, was war das für eine Pracht, von Menschenhand geschaffen, von Maschinen produziert! Der Augenblick, in dem diese Reichtümer sich mir offenbarten, war ein Augenblick des Glücks - eine betörende Mischung aus Hoffnung, Überraschung, Unglauben, Aufregung und Dankbarkeit, alles in einem -, wie ich ihn in meinem ganzen Leben, ob Weihnachten, Geburtstag, Hochzeit, Diwali oder was es sonst noch an Geschenkgelegenheiten gab, noch nicht erlebt hatte. Mir schwindelte geradezu vor Glück.

Sogleich erblickte ich, wonach ich suchte. Ob in Flasche, Dose oder Karton, abgepacktes Wasser erkennt man sofort. Auf diesem Rettungsboot wurde das Elixier des Lebens in hellgoldenen Dosen serviert, die sich perfekt in der Hand hielten. Trinkwasser, versprach das Etikett, wie kein Grand Cru es besser hätte versprechen können, in schwarzen Lettern. HP Foods Ltd. war das Chateau. 500 ml wurden ausgeschenkt. Und von diesen Dosen gab es reihenweise, zu viele, um sie mit einem Blick zu zählen.

Bebend fasste ich hinunter und nahm eine davon in die Hand. Sie war kühl und von einigem Gewicht. Ich schüttelte sie. Die Luftblase im Inneren antwortete mit einem dumpfen gluck-gluck-gluck. Der Augenblick war nahe, da ich von meinem höllischen Durst erlöst werden sollte. Mein Puls raste beim Gedanken daran. Ich musste nur noch die Dose öffnen.

Ich hielt inne. Wie sollte ich das anstellen?

Wenn Dosen an Bord waren, musste es doch auch einen Dosenöffner geben? Ich suchte den Vorratsraum ab. Alles Mögliche war darin. Ich schob ein paar Sachen beiseite. Ich verlor die Geduld. Schließlich hatte die Vorfreude eine ungeheure Spannung aufgebaut. Ich musste trinken, und zwar jetzt- sonst würde ich sterben. Das Werkzeug, das ich brauchte, war nirgends zu entdecken. Aber für nutzlosen Kummer hatte ich keine Zeit. Es mussten Taten folgen. War es wohl möglich, sie mit den Fingernägeln aufzudrücken? Ich versuchte es. Nein. Die Zähne? Das brauchte ich gar nicht erst zu probieren. Ich sah den Bootsrand an. Die Haken, an denen die Plane festgeknüpft gewesen war. Kurz, kräftig, stabil. Ich kniete mich auf die Bank und lehnte mich vor. Mit beiden Händen packte ich die Dose und schlug sie mit aller Wucht gegen einen Haken. Immerhin eine Delle. Ich schlug noch einmal zu. Eine zweite Delle, gleich neben der ersten. Delle um Delle zermürbte ich die Dose. Ein Wassertropfen erschien. Ich leckte ihn ab. Ich drehte die Dose und hieb nun auf die andere Seite ein, um ein zweites Loch zu schaffen. Ich schlug zu wie ein Besessener. Das zweite Loch war größer. Ich setzte mich auf die Kante. Ich hielt die Dose in die Höhe. Ich öffnete den Mund. Ich neigte die Dose.

Meine Gefühle mag man sich ausmalen, aber beschreiben könnte ich sie nicht. Gurgelnd hob sich meine gierige Kehle, und das reine, klare, köstliche, glitzernde Nass rann in meine Eingeweide. Flüssiges Leben, nichts anderes. Ich leerte den goldenen Becher bis zum letzten Tropfen, saugte an dem Loch, damit nicht einmal die feuchte Luft verloren ging. »Aaaaah«, stöhnte ich, warf die Dose über Bord und holte mir eine neue. Ich öffnete sie nach der gleichen Methode wie die erste, und ihr Inhalt war ebenso schnell verschwunden. Auch diese Dose segelte über Bord, und ich schlug die nächste auf. Ich trank vier Dosen, zwei Liter von jenem göttlichen Nektar, dann hatte ich genug. Man fragt sich vielleicht, ob ein solch gieriges Trinken nach so langem Entbehren nicht schädlich für den Körper ist. Unsinn! Nie im Leben hatte ich mich besser gefühlt. Man brauchte ja nur meine Stirn zu berühren! Mein Schädel war feucht vom schönsten, klarsten, kühlendsten Schweiß. Alles an mir bis hin zu den Poren meines Körpers jubilierte vor Glück.

Nicht lange, und ein Wohlbehagen stellte sich ein. Mein Mund wurde wieder feucht und weich. Meinen Hals spürte ich gar nicht mehr. Meine Haut entspannte sich. Meine Gelenke bewegten sich wieder mühelos. Mein Herz schlug in einem fröhlicheren Rhythmus, und das Blut zirkulierte in meinen Adern wie die Wagen einer Hochzeitsgesellschaft, die hupend durch die Stadt ziehen. Die Muskeln fühlten sich wieder kräftiger und geschmeidiger an. Der Kopf wurde klarer. Ich war ein Toter, der wieder zum Leben erwachte. Es war ein wunderbares, wunderbares Gefühl. Wer sich an Alkohol berauscht, der soll sich schämen, aber der Wasserrausch ist die schönste aller Extasen. Minutenlang saß ich einfach nur da und genoss dieses Glück.

Eine gewisse Leere machte sich bemerkbar. Ich befühlte meinen Bauch. Er war hart und nach innen gewölbt. Zeit, etwas zu essen. Ein Masala Dosai mit Kokosnusschutney-mmmmmm! Oder besser noch: Oothappam! MMMMMM! Oh! Ich hielt mir beide Hände vor den Mund - IDLI! Schon das bloße Wort versetzte mir einen Stich in die Kaumuskeln, und ganze Sturzbäche von Wasser liefen mir im Munde zusammen. Meine rechte Hand zuckte. Ich musste mich zusammennehmen, sonst hätte ich sie tatsächlich nach den köstlichen Reisbällchen ausgestreckt, die ich in meiner Phantasie sah. In Gedanken nahm ich die dampfende Kugel ... tunkte sie in Soße ... steckte sie mir in den Mund ... kaute ... oh, welch wunderbare Qual!

Ich schaute nach, was im Stauraum an Essbarem zu finden war. Es gab Päckchen mit Notrationen, Seven Oceans Standard Emergency Ration aus dem fernen, exotischen Bergen in Norwegen. Das Frühstück, das mir neun versäumte Mahlzeiten ersetzen sollte, ganz zu schweigen von den Leckerbissen, die mir Mutter sonst noch zugesteckt hätte, kam in Gestalt eines Halbkiloblocks, schwer, massiv, vakuumverpackt in silberne Plastikfolie mit Anweisungen in zwölf Sprachen. Die Aufschrift besagte, dass die Packung achtzehn angereicherte Schiffszwiebacke enthielt, bestehend aus Weizenmehl, tierischen Fetten und Glukose, und dass man nicht mehr als sechs davon in einem Zeitraum von vierundzwanzig Stunden verzehren solle. Das mit dem Fett war Pech, aber unter den gegebenen Umständen musste der Vegetarier in mir sich einfach die Nase zuhalten und sich mit dem abfinden, was zu haben war.

Oben fand ich die Aufschrift Hier aufreißen und einen schwarzen Pfeil, der die Richtung wies. Die Kante der Verpackung öffnete sich unter meinen Fingern. Neun in Wachspapier eingeschlagene längliche Plättchen kamen zum Vorschein. Ich packte eines aus. Es hatte eine Rille, an der es sich in zwei Hälften brechen ließ. Zwei fast quadratische Zwiebacke, gelblich und wohlriechend. Ich biss einen an. Donnerwetter, wer hätte das gedacht? Ich hatte ja keine Ahnung. Es war ein Geheimnis, das man mir mein Leben lang vorenthalten hatte: Die norwegische Küche war die beste der Welt! Dieser Zwieback war eine Delikatesse! Er war würzig, angenehm auf der Zunge, weder zu süß noch zu salzig. Er ließ sich unter angenehm knarzenden Lauten mit den Zähnen zermahlen. Mit Speichel vermischt, ergab sich eine körnige Paste, die geradezu betörend schmeckte und sich ebenso gut anfühlte. Und als ich schluckte, sagte mein Magen nur ein einziges Wort darauf: Halleluja!

Binnen weniger Minuten war das ganze Päckchen verschwunden, der Wind trug die Wachspapiere davon. Ich überlegte, ob ich noch ein zweites öffnen sollte, entschied mich aber dagegen. Es war wohl vernünftiger, wenn ich mich ein wenig beherrschte. Und das halbe Kilo Notration lag mir schon ziemlich schwer im Magen.

Ich beschloss, dass ich mir einen Überblick verschaffen und genauer herausfinden sollte, was in meiner Schatztruhe steckte. Es war ein beträchtlicher Stauraum, weit größer als die Klappe. Er erstreckte sich bis zum Schiffsboden und hatte noch zwei Kammern unter den Seitenbänken. Ich stieg hinein und setzte mich auf die Kante, mit dem Rücken zum Bug. Ich zählte die Zwiebackpäckchen. Eins hatte ich gegessen, einunddreißig waren noch da. Gemäß den Instruktionen reichte ein 500-Gramm-päckchen für einen Schiffbrüchigen drei Tage lang. Ich hatte also Nahrungsrationen für - 31 x 3 - 93 Tage! Es stand dort auch, man solle sich mit einem halben Liter Wasser pro Tag begnügen. Ich zählte die Wasserdosen. Es waren 124. Jede ein halber Liter. Wasser hatte ich also für 124 Tage. Nie hatte eine einfache Rechenaufgabe ein solches Lächeln auf mein Gesicht gezaubert.

Was gab es sonst noch? Eifrig tauchte ich in den Stauraum ein und holte ein Wunderding nach dem anderen hervor. Jedes einzelne davon, ganz gleich was es war, war mir ein Trost. Mein Hunger nach menschlicher Gesellschaft war so groß, dass mir die Sorgfalt, mit der jedes dieser maschinengefertigten Güter produziert war, wie eine Wohltat vorkam, die jemand mir ganz persönlich tat. Immer wieder murmelte ich »Danke schön! Danke schön! Danke schön!«

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