Kapitel 70

Schildkröten waren Schwerstarbeit. Ich fing mit einer kleinen Karettschildkröte an. Ich hatte es auf ihr Blut abgesehen, den »guten, gesunden, salzfreien Trunk«, von dem das Überlebenshandbuch schrieb. So sehr quälte mich der Durst. Ich packte die Schildkröte am Panzer und umklammerte eine Hinterflosse. Als ich sie fest im Griff hatte, drehte ich sie im Wasser um und wollte sie auf das Floß zerren. Sie wehrte sich mit aller Kraft. Auf dem Floß würde ich nie mit ihr fertig werden. Entweder ließ ich sie los - oder ich versuchte mein Glück im Rettungsboot. Ich blickte zum Himmel. Es war ein heißer, wolkenloser Tag. An Tagen wie diesem, wenn die Luft glühte wie in einem Backofen und er nicht vor Sonnenuntergang unter der Plane hervorkam, hatte Richard Parker offenbar nichts dagegen, dass ich im Bug des Bootes war.

Mit einer Hand hielt ich die Hinterflosse der Schildkröte fest, mit der anderen zog ich mich am Seil zum Rettungsboot hinüber. Es war nicht leicht, an Bord zu klettern. Als ich es endlich geschafft hatte, riss ich die Schildkröte in die Höhe und schleuderte sie mit dem Rücken auf die Plane. Wie erhofft knurrte Richard Parker lediglich ein- oder zweimal. Nach mehr stand ihm bei dieser Hitze nicht der Sinn.

Ich war wild entschlossen. Ich spürte, dass ich keine Zeit zu verlieren hatte. Das Überlebenshandbuch war zugleich mein Kochbuch. Es hieß, man solle die Schildkröte auf den Rücken drehen. Erledigt. Dann das Messer »am Hals ansetzen« und die Arterien und Venen durchtrennen. Ich betrachtete die Schildkröte. Kein Hals zu sehen. Die Schildkröte hatte sich in ihren Panzer verkrochen. Alles, was ich von ihrem Kopf sah, waren die Augen und das schnabelförmige Maul, das Ganze umringt von dicken Hautwülsten. Sie musterte mich von unten herauf mit strengem Blick. Ich griff zum Messer und stach in eine der Vorderflossen, in der Hoffnung, sie so aus der Reserve zu locken. Aber sie zog sich nur noch weiter in ihren Panzer zurück. Also entschloss ich mich zu einer direkteren Methode. So selbstverständlich, als hätte ich es schon tausendmal getan, stieß ich das Messer schräg neben dem Kopf in den Körper der Schildkröte. Ich bohrte die Klinge tief in die Hautfalten und drehte das Messer. Die Schildkröte zog sich noch weiter zurück, besonders da, wo die Messerklinge steckte. Plötzlich schnellte ihr Kopf nach vorn. Sie schnappte nach mir. Ich sprang beiseite. Alle vier Flossen kamen unter dem Panzer hervor, und das Tier versuchte zu fliehen. Sie schaukelte auf dem Rücken, schlug heftig mit den Flossen um sich und schleuderte den Kopf hin und her. Ich packte ein Beil und schlug damit auf den Hals der Schildkröte ein. Aus einer klaffenden Wunde schoss hellrotes Blut. Ich packte den Trinkbecher und fing etwa dreihundert Milliliter auf, den Inhalt einer Limonadendose. Ich hätte viel mehr haben können, einen Liter vielleicht, aber die Kiefer der Schildkröte waren scharf und ihre Vorderflossen lang und kräftig und mit je zwei Klauen besetzt. Das Blut, das ich aufgefangen hatte, roch eigentlich nach nichts. Ich nahm einen Schluck. Es schmeckte warm und tierisch, in meiner Erinnerung jedenfalls. Es ist schwer, sich an erste Eindrücke zu erinnern. Ich trank das Blut bis zum letzten Tropfen.

Anfangs wollte ich den harten Bauchpanzer mit dem Beil entfernen, aber wie sich herausstellte, war die gezahnte Klinge des Messers dafür besser geeignet. Ich setzte einen Fuß in die Mitte des Panzers, den anderen außer Reichweite der furchteinflößenden Flossen. Die ledrige Haut am Kopfende des Panzers ließ sich leicht durchtrennen, nur in der Nähe der Flossen ging es etwas schwerer. Aber am Rand, da wo die beiden Hälften des Panzers aneinanderstießen, war das Sägen mühsam, zumal die Schildkröte sich immer noch bewegte. Als ich den Panzer ringsum gelöst hatte, war ich schweißgebadet und völlig erschöpft. Ich zog an dem Bauchpanzer. Er löste sich widerstrebend, mit einem feuchten, schmatzenden Geräusch. Das Innenleben der Schildkröte lag offen vor mir, zuckend und bebend - Muskeln, Fett, Blut, Därme und Knochen. Und die Schildkröte schlug immer noch um sich. Ich durchtrennte ihren Hals bis an die Wirbel. Keine Veränderung. Die Flossen schlugen nach wie vor. Mit zwei Beilhieben trennte ich den Kopf ganz ab. Die Flossen kamen nicht zur Ruhe. Schlimmer noch: der abgetrennte Kopf schnappte weiter nach Luft und blinzelte mit den Lidern. Ich schleuderte ihn ins Meer. Den zuckenden Rest der Schildkröte hob ich hoch und warf ihn in Richard Parkers Revier. Der war ohnehin längst unruhig geworden und schien im Begriff hervorzukommen. Er hatte vermutlich das Blut der Schildkröte gerochen. Ich flüchtete auf das Floß.

Mürrisch sah ich zu, wie er sich geräuschvoll und mit sichtlichem Vergnügen über mein Geschenk hermachte. Ich war vollkommen erschöpft. Der eine Becher Blut wog das nicht auf.

Ich machte mir zum ersten Mal ernsthafter Gedanken, wie ich mit Richard Parker umgehen sollte. Seine Nachsicht an heißen, wolkenlosen Tagen, wenn es denn Nachsicht war und nicht einfach nur Faulheit, war auf Dauer nicht genug. Ich konnte nicht immer vor ihm fortlaufen. Ich brauchte einen sicheren Zugang zum Stauraum und der Oberseite der Plane, unabhängig von der Tageszeit und vom Wetter, unabhängig von seiner Stimmung. Ich brauchte Rechte, und Rechte konnte ich nur bekommen, wenn ich Macht über ihn gewann.

Es war an der Zeit, dass ich mich behauptete und mein Revier absteckte.

Загрузка...