Kapitel 41

Die Elemente ließen mir mein Leben. Das Rettungsboot sank nicht. Richard Parker blieb, wo er war. Die Haie hielten mich im Auge, aber sie sprangen nicht. Die Wellen schlugen zu mir hoch, aber sie rissen mich nicht hinab.

Ich sah zu, wie das Schiff unter großem Blubbern und weiterem Rülpsen versank. Lichter flackerten, dann gingen sie aus. Ich hielt Ausschau nach meiner Familie, nach Überlebenden, nach einem zweiten Rettungsboot, nach allem, was Hoffnung sein konnte. Aber ich sah nichts. Nur Regen, mörderische Wellen, die Trümmer der Tragödie.

Der Himmel wurde lichter. Der Regen hörte auf.

Ich konnte nicht ewig an dem Ruder hängen bleiben. Mir war kalt. Der Nacken tat mir weh, weil ich den Kopf so mühsam hochhielt und so oft zum Ausschauhalten gereckt hatte. Mein Rücken schmerzte, weil ich mich an den Rettungsring drückte. Und wenn ich andere Boote sehen wollte, musste ich weiter nach oben.

Zentimeter um Zentimeter arbeitete ich mich an dem Ruder vor, bis ich mit den Füßen das Boot berührte. Ich musste mit äußerster Vorsicht vorgehen. Ich ging davon aus, dass Richard Parker am Boden des Rettungsboots unter der Plane lag, mit dem Rücken zu mir, das Zebra im Blick, das er inzwischen mit Sicherheit gerissen hatte. Von allen fünf Sinnen verlassen Tiger sich am meisten auf ihre Augen. Ihr Gesichtssinn ist enorm hoch entwickelt, besonders wenn es um das Entdecken von Bewegung geht. Ihr Gehör ist gut. Der Geruchssinn ist nur durchschnittlich. Durchschnittlich für ein Tier, meine ich. Im Vergleich zu Richard Parker war ich blind und taub, meine Nase nonexistent. Aber im Augenblick konnte er mich nicht sehen und konnte mich, solange ich so nass war, wahrscheinlich auch nicht riechen, und so wie der Wind pfiff und die Wellen tosten, würde er mich, wenn ich mich vorsah, auch nicht hören. Eine gewisse Chance hatte ich, solange er mich nicht bemerkte. Wenn er spürte, dass ich da war, war es um mich geschehen. Ich überlegte, ob er wohl durch die Plane kommen könnte.

Furcht und Vernunft rangen um die Antwort. Die Furcht sagte Ja. Er war ein wildes, 450 Pfund schweres Raubtier. Jede einzelne seiner Krallen war scharf wie ein Messer. Die Vernunft sagte Nein. Die Plane war schließlich dickes Öltuch, kein japanisches Reispapier. Ich war aus ziemlicher Höhe darauf gelandet, und sie hatte gehalten. Mit genügend Zeit und Mühe konnte Richard Parker sie mit den Krallen zerfetzen, aber er konnte nicht durch sie hindurchbrechen wie ein Springteufel. Und er hatte mich nicht gesehen. Da er mich nicht gesehen hatte, gab es für ihn keinen Grund, die Plane aufzureißen.

Ich kroch voran. Ich ging mit beiden Beinen auf eine Seite des Ruders. Ich legte die Füße auf das Dollbord. Das Dollbord ist der Rand des Bootes, wenn man so will. Ich kroch noch ein wenig weiter, dann hatte ich die Beine auf dem Boot. Den Blick hatte ich fest auf das andere Ende der Plane geheftet. Ich rechnete damit, dass Richard Parker jeden Moment erscheinen und sich auf mich stürzen würde. Ein paar Mal bebte ich am ganzen Leibe. Gerade da, wo es am gefährlichsten war - an den Beinen -, zitterte ich besonders heftig. Ich trommelte geradezu auf die Plane. Deutlicher hätte ich gar nicht an Richard Parkers Tür klopfen können. Das Beben ergriff meine Arme, und nur mit Mühe konnte ich mich halten. Aber die Anfälle gingen jedes Mal vorbei.

Als ich mich weit genug vorgeschoben hatte, hievte ich mich ganz aufs Boot. Ich lugte über den Planenrand. Zu meiner Überraschung war das Zebra noch am Leben. Es lag im Heck, wo es niedergestürzt war, reglos; doch die Flanken hoben und senkten sich, und die Augen, weit aufgerissen vor Entsetzen, waren in Bewegung. Es lag auf der Seite, mir gegenüber, Kopf und Hals in einem unnatürlichen Winkel auf der Seitenbank. Ein Hinterbein war gebrochen. Es war in einem absurden Winkel abgeknickt, ein Knochen hatte sich durch das Fell gebohrt, und die Wunde blutete. Nur die schlanken Vorderbeine hielt es halbwegs natürlich. Sie waren angewinkelt und unter den gekrümmten Leib gesteckt. Von Zeit zu Zeit schüttelte das Zebra den Kopf, stieß seine bellenden Laute aus und schnaubte. Sonst lag es still.

Es war ein wunderschönes Tier. Das nasse Fell glitzerte in strahlendem Weiß und tiefstem Schwarz. Die Angst beherrschte mich so, ich konnte nicht bei dem Anblick verweilen, aber wie im Vorbeigehen blieb das Bild des klaren, künstlerischen Musters, des prachtvollen Kopfs. Mehr beschäftigte mich allerdings die Frage, warum Richard Parker es nicht getötet hatte. Es war doch zu erwarten gewesen, dass er das Zebra reißen würde. Das ist nur natürlich für ein Raubtier: es tötet seine Beute. Unter den jetzigen Umständen, wo Richard Parkers Nerven aufs Äußerste gespannt waren, hätte seine eigene Furcht ihn wilder machen sollen denn je. Beim ersten Blick hätte er sich auf das Zebra stürzen sollen.

Der Grund dafür, dass er es verschont hatte, enthüllte sich mir binnen kurzem. Das Blut gefror mir in den Adern - und doch war es in gewissem Sinne eine Erleichterung. Ein Kopf tauchte auf und blickte über die Plane. Er sah mich auf eine freche und doch ängstliche Art an, tauchte unter, erschien wieder, tauchte wiederum unter, erschien noch einmal und verschwand dann ganz. Er hatte etwas von einem Bären, nur an manchen Stellen kahl - der Kopf einer Tüpfelhyäne. In unserem Zoo hatte es einen Clan von sechsen gegeben,zwei dominante Weibchen, vier rangniedere Männer. Sie waren nach Minnesota verkauft. Dies war eines der Männchen. Ich erkannte ihn an seinem rechten Ohr, das tief eingerissen war, die Narben ein Zeugnis der Gewalt, mit der sie miteinander umgingen. Jetzt war mir klar, warum Richard Parker das Zebra nicht gerissen hatte: Er war nicht mehr an Bord. Auf so engem Raum konnten sich nicht eine Hyäne und ein Tiger gleichzeitig halten. Er musste von der Plane gestürzt und ertrunken sein.

Die nächste Frage war, wie denn die Hyäne auf das Rettungsboot gekommen war. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Hyänen in der Lage waren, im offenen Meer zu schwimmen. Meine Erklärung war, dass sie schon die ganze Zeit an Bord gewesen war, unter der Plane versteckt, und dass ich es bei meiner Trampolinlandung nicht bemerkt hatte. Und noch etwas ging mir auf: Die Hyäne war der Grund dafür, dass die Seeleute mich in das Boot geworfen hatten. Ihnen lag nichts daran, mir das Leben zu retten. Daran hatten sie nicht das geringste Interesse. Ich sollte nur den Köder spielen. Sie malten sich aus, dass die Hyäne sich auf mich stürzen und dass ich irgendwie mit ihr fertig werden würde, ob es mich nun mein Leben kostete oder nicht, und dann hätten sie ohne Gefahr ins Boot springen können. Jetzt war mir klar, auf was sie mit solcher Vehemenz gewiesen hatten, unmittelbar bevor das Zebra erschienen war.

Ich hätte nie gedacht, dass ich noch einmal froh sein würde, dass ich auf engstem Raum mit einer Tüpfelhyäne zusammengesperrt war, aber so war es. Genau genommen hatte ich sogar doppelt Glück mit ihr: Ohne die Hyäne hätten die Seeleute mich nicht ins Boot geworfen, ich wäre an Bord geblieben und mit Sicherheit ertrunken; und wenn ich schon mein Quartier mit einem wilden Tier teilen sollte, dann war ich mit der offenen Wildheit eines Hundes besser dran als mit der lautlosen Art einer Katze. Ich hauchte einen winzigen Seufzer der Erleichterung. Zur Vorsicht zog ich mich auf das Ruder zurück, auf die Kante des aufgespießten Rettungsrings, den linken Fuß auf der Bugspitze, den rechten auf dem Bootsrand. Das war einigermaßen bequem, und ich hatte das ganze Boot im Blick.

Ich sah mich um. Meer und Himmel, so weit das Auge reichte. Das Bild blieb stets das gleiche, ob wir nun hoch oben schwammen oder ob wir ins Wellental tauchten. In rasch wechselnder Folge ahmte die See alle Züge des Festlands nach-die Hügel, die Täler, die Ebenen. Geotektonik im Schnelldurchgang. Um die Welt in achtzig Wellen. Aber so sehr ich auch Ausschau hielt, meine Familie fand ich nicht. Dinge schwammen im Wasser, aber keins davon gab mir Hoffnung. Weit und breit kein anderes Rettungsboot.

Das Wetter ändere sich bald. Die See, so gewaltig, so atemberaubend unendlich, richtete sich mit einem sanften und gleichmäßigen Schaukeln ein, und die Wellen passten sich an; der Wind milderte sich zur säuselnden Brise; strahlend weiße Federwölkchen erleuchteten zusehends die unendliche Kuppel aus feinstem Blassblau. Der Morgen eines prachtvollen Tags auf dem Pazifischen Ozean. Mein Hemd war schon beinahe trocken. Die Nacht war so schnell verschwunden wie das Schiff.

Das Warten begann. Mein Verstand war wie eine Achterbahn. In einem Moment war ich mit praktischen Fragen beschäftigt, Fragen des Überlebens, im nächsten erfüllte mich ein unendlicher Kummer, ich weinte lautlos, den Mund offen, die Hände an den Kopf gepresst.

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